Beileibe kein kirchlicher Autor. Und dennoch eine Fortschreibung der Urgattung biblischer Poesie – Uwe Kolbes neuer Gedichtband. Impressionen von Christoph Gellner.
Aufgewachsen in einem „gottlosen Haushalt in Ostberlin“, entdeckte der 1957 geborene Lyriker Uwe Kolbe die Bibel erst als Erwachsener: auf völlig eigenen Wegen, die sehr stark mit der bildenden Kunst zu tun hatten, etwa mit Bildern von Rubens, Caravaggio oder Matthias Grünewald: „Da habe ich dann die Geschichten in der Bibel nachgelesen.“ In der DDR bespitzelt und gegängelt, früh von Franz Fühmann gefördert, erhält er von 1982 bis 1985 Publikationsverbot. 1988 übersiedelt Kolbe nach Hamburg, wo er – nach Aufenthalten in Tübingen, Berlin und den USA – heute wieder lebt.
„Gott kennt mich nicht. Ich wage die Ansprache dennoch“
So spricht der 60jährige Schriftsteller über seine jüngst erschienenen „Psalmen“ im Interview für das literarische Online-Magazin des S. Fischer Verlags. „Mit Psalm 6: ‚meine Seele ist sehr erschrocken‘ noch jetzt, wenn ich das Büchlein in die Hand nehme und sehe, womit ich mich der Öffentlichkeit stelle.“
„Hier sind meine Psalmen, Lieder nach alter Art, Gebete […] Sind meine Psalmen, Ansprache dessen, der Gott traf, an ihn, an Gott in seinen tausend Gewändern […] das sind Gedichte, Fragen und auch manches Flehen“, notiert der Autor, der seit vielen Jahren einer der wichtigsten deutschsprachigen Lyriker ist, zum Geleit: „Dies sind Psalmen eines Heiden, der Gott verpasste, weil keiner bei dem Kinde ging, der sagte, hörst du die Stimme?“
Gibt es aus der Säkularität einen Weg ins Religiöse?
Kolbes Psalmen sind, so der Literaturkritiker Jörg Magenau, „Versuche, aus der säkularen Welt heraus wieder Anschluss zu finden an eine religiöse Haltung“. Kaum zufällig greifen seine Gedichte die Sprachform auf, die ‚von Haus aus‘ ein transzendentes Gegenüber anredet und so das ständig um sich selber kreisende Ich übersteigt. Eindrücklich veranschaulicht dies ein Text wie „Die Gnaden“:
Den Hoffenden führst du
unter den offenen Himmel,
den Sehnenden stellst du
vor die Weite der See,
und dem, der verloren war,
gibst du dein Wort.
„Man merkt natürlich schnell, dass meine Psalmen nicht so sind wie die beispielsweise von Brecht oder von Volker Braun. Meine Psalmen sind schon näher dran an der Ansprache an Gott, wie sie in den Original-Psalmen selbstverständlich ist“, gestand der letztjährige Dresdner Stadtschreiber im Gespräch mit Tomas Gärtner. „Im Naturerlebnis mache ich die Erfahrung, nicht des Christengottes, sondern von etwas Grösserem, einer Transzendenz. Da sehe ich, dass ich ganz klein in einer sehr grossen Welt stehe. Diese Ahnung von etwas Grösserem ist kulturstiftend. Unser Sprechen, das mit Poesie zu tun hat, kommt da her. Dass wir nicht verstehen, was da ist. Wir sprechen, um den Versuch zu machen, es zu verstehen.“
Gegenüber Klaus-Martin Bresgott betont Kolbe auf der Kulturkirchen-Website der EKD: seine Psalmen hielten „unmissverständlich Zwiesprache mit Gott. Ich werde diesem Gott nur nicht die Maske einer bestimmten Konfession vor das Gesicht hängen.“
„All das Schweigen in dem, was ich schrieb“, erläutert Kolbe im Geleitwort zu seinen Psalmen, „galt von Anfang an dem größeren Gegenüber. Davon schwieg ich aber, das ließ ich zwischen den Zeilen der Gedichte stehen als den poetischen Raum.“ Selbstkritisch setzt er hinzu: „Ich verriet die Poesie an die banale Zeit […] an Götzen, an jede Menge lachhafter Figuren.“
Mit dem Alter kommt der Psalter?
Seine 43 Psalmtexte dokumentieren ein Stück Aufarbeitung der eigenen Lebensgeschichte, wie sie bereits Uwe Kolbes Vater-Sohn-Roman „Die Lüge“ (2014) und vor allem seine Abrechnung mit Bertolt Brecht unternahm, von dessen „Rollenmodell eines Dichters“ (2016) er sich deutlich distanziert.
„Der selbstverständlich in der Mehrheitsgesellschaft vorausgesetzte Atheismus ödet mich an. Er schleppt die Fahne der Aufklärung mit sich, aber die ist vom leeren Herumzeigen leider entfärbt.“ Einen (selbst-) kritisch-postsäkularen Blick auf den bornierten wie banalen Säkularismus wirft programmatisch Kolbes „Psalm nach der tonlosen Zeit“:
Das Lied ohne Gott ist tonlos,
es langweilt sich bei sich selbst,
und seine Sänger schlafen ein.
Dem Lied ohne Gott fehlt Gott,
das geistlose hat keinen Geist.
Mein eigenes Schwadronieren,
gottloses Wort, das ich sagte,
betrog all jene, die hörten.
Ich fand mich wohl toll
in meiner schwarzen Weste,
den Fleck der Sehnsucht,
von der mein Gesang ging,
ein sprachloses Sprechen,
ein Fragen, von Anfang an hohl.
Das Lied ohne dich ist tonlos,
Herr, dies ist mein Psalm.
Gefragt, was ihn als Lyriker am meisten an den biblischen Psalmen fasziniere, antwortete Uwe Kolbe dem Basler Germanisten Sascha Michel: „Dass sie für Gläubige wie für Ungläubige sprechen. Dass ihre Grundlage eine Weise zu danken ist, die in der deutschsprachigen Tradition neben frommen Übersetzern nur Hölderlin versteht. Dass sie zu Zeitgenossen sprachen, wie sie das zu uns heute tun, nicht aus der Beengung einer bestimmten Konfession, eine Vorstellung von der Gottheit heraus, sondern aus Dankbarkeit für und auch Klage über die Anwesenheit auf Erden.“
Die Bibel wirkt über ihre Sprachformen und Sprechhaltungen, nicht nur über ihre Inhalte.
Eingehend hat sich Kolbe mit den Psalmenübertragungen Luthers, Zwinglis und Buber-Rosenzweigs beschäftigt. Nicht von ungefähr wirkte die Bibel nicht nur durch ihre Stoffe, sondern mehr noch durch ihre Sprachformen und Sprechhaltungen. Dabei entfaltete keine andere biblische Sprachgattung in der Literatur der klassischen Moderne bis zur Gegenwart eine stärkere literarische Wirkung als die Psalmen.
Eigensinnig schreibt sich Uwe Kolbe in diese breite ausserkirchliche Rezeption der Heiligen Schrift ein. Etwa mit „Vom Überschuss. Ein Sylter Psalm“:
Musik, sie ist der Überschuss, Musik,
darf einer, der auf Durchfahrt ist, das sagen?
Ist’s Klang nur, nur ein Überschuss an Klang,
die ganze Welt erfüllt, wenn weiss die Sonne
so ruhig herschaut übers helle Watt,
so an zwölf Grad empor aus ihrem Bett,
erholt von ihrer unbekannten Nacht?
Der Überschuss, gleichwie, er ist der Grund.
Das Leben sonst ist planvoll planes Reden,
und jeder, der davon genug hat und
zu sich kommt und sich selbst zum Klingen bringt,
der fährt, er fährt in seine eigene Welt,
frühauf, und er erkennt sich selbst im wie
von keinem Menschen sonst gehörten Klang
geflügelter Begleiter, Musiker,
die vor dem Wind, der trägt die Stimmen gut.
Auch die Vereinzelten, die Heidesänger
Im Rosendickicht links und rechts der Spur,
die machen staunen, die Verführer –
von dem Erstaunen in der Frühe, ach,
wäre so viel zu sagen, von dem Grund,
vom Klang und Sang, nicht Reden, von dem Grund
in Gott, von der Musik der Kreatur.
Dank für den Überschuss, Dank für den Grund.
„Einerseits bin ich sprachlich im Heute, es gibt etwas Modernisierendes, Spracherweiterndes. Andererseits bewahre ich. Ich spreche eben nicht die Sprache des Marktes“, charakterisiert Kolbe seine Psalmtexte. Sie kennen ganz verschiedene Tonlagen. Die meisten gehen sehr frei mit Motiven und Situationen der biblischen Vorlagen um, manche reagieren direkt auf Lieder und Gebete der Hebräischen Bibel.
So gibt es eine eindringliche Reduktion des 90. Psalms, eine konzise Verheutigung von Psalm 103, eine versgenaue Nachdichtung des 107. Psalms, eine Kontrafaktur auf Psalm 116, vom 119. Psalm den Versuch, den hebräischen Urtext, der mit seinen 22 Strophen dem hebräischen Alphabet folgt, im Deutschen zu imitieren. Kolbes „Variation und Collage zu Psalm 130“, die Luthers liedhafte Nachdichtung einspielt, endet mit einem Zitat aus dem modernen „Psalm“-Gedicht von Paul Celan: „Mag das ein Lied nennen, wer will. Der ist nicht allein, der es kann. Gelobt seist du, Niemand.“
Man wird nicht alle lyrischen Texte gleichermaßen gelungen finden. In den stärksten Gedichten des Bandes löst sich Uwe Kolbe von den wirkmächtigen Vorsängern und findet eine eigene Sprache und Form wie z.B. in „Das Näherende“, das Poesie und Poetologie in einem ist:
Herr, deine Lust, dass eins zum anderen passe,
Lust, eine Form der anderen zuzuneigen:
Eichkaters Pfoten zu der Nuss, Schweins Zahn
zur Eichel, Spechts Hammerklang zum Stamm
und alle Worte zu dem Schweigen.
Ein inspirierender Gedanke, christlicher Spiritualität keineswegs fremd: Gottes Lust an seiner Schöpfung findet ein Echo, ja, einen Nachhall in seinen Geschöpfen, paradigmatisch in der schöpferischen Arbeit von Schriftstellern am Wort: „Die Form ist es, die Lust macht, und die Lust ist es, die sich eine Form sucht“, deutet Hubert Spiegel. „Die Heilsgewissheit, die aus den biblischen Psalmen spricht, ist bei Uwe Kolbe nicht zu finden, wohl aber eine Zuversicht über das eigene Leben hinaus. Dass seine Worte aus dem Nichts kommen, sich ihm anschmiegen und dereinst wieder von ihm verschlungen werden, kann ihn nicht ängstigen. Denn auch auf das Schweigen weiß er sich einen Reim zu machen.“
Nicht Heilsgewissheit, aber Zuversicht über das eigene Leben hinaus
„Wenn Gedichte nicht spirituell sind, sind sie gar nichts. Ein Gespräch zwischen zwei Menschen ist leer, wenn es nicht ernst ist“, verdeutlicht Kolbe im Gespräch mit den „Dresdner Neuesten Nachrichten“. „Das Spirituelle, Transzendente ist der Ernst zwischen Menschen. Wenn wir einander ins Auge schauen und über etwas Wesentliches reden, dann ist Religion, Konfession egal. Mein Sprechen ist ernst. Eine Herausforderung ist es allemal.“
Bei allem tastenden Suchen kennzeichnet Uwe Kolbes Psalmen durchweg der Wille, wesentlich zu sprechen und die unentwegten Redeflüsse zu unterbrechen. Gleich der erste Text „Dein Morgen“ umkreist das für den biblischen Psalter charakteristische Ineinander von Gedicht, Gebet und Lied, um daran wieder anzuschliessen:
Wo fang ich an,
wohin mit den Augen,
den Blick aufzuheben
zu deinem Morgen
zu nehmen den Weg,
wo führt er mich hin,
hinaus aus der Irre?
Noch singe ich nicht,
ein Stammler der Liebe,
ich bitte dich, lasse
mich sehen den Weg
und singen dein Lied.
—
Alle zitierten Gedichttexte sind entnommen: Uwe Kolbe, Psalmen, S. Fischer: Frankfurt/M. 2017.
Christoph Gellner, Dr. theol., ist Leiter des Theologisch-pastoralen Bildungsinstituts der deutschschweizerischen Bistümer in Zürich und Mitarbeiter des Ökumenischen Instituts der Universität Luzern.
Bild: MiSa / pixelio.de