Ein Religionsunterricht in den Spuren der tiefenpsychologisch ausgerichteten Theologie Eugen Drewermanns erfüllt wichtige Bedingungen von Didaktik und katholischer Kirche an einen guten modernen Religionsunterricht. Ein Brückenschlag anlässlich des 80. Geburtstages des Paderborner Theologen von Volker Garske.
Welche bittere Ironie: Eugen Drewermann verdankt seine steile Karriere im Schul- und Hochschulunterricht besonders zweier Dokumente der katholischen Kirche. Ohne ihn beim Namen zu nennen, aber doch erkennbar genug, würdigte die Päpstliche Bibelkommission in ihrem Dokument „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ (1993) die von Drewermann seit den 1980er Jahren verfochtene tiefenpsychologische Textdeutung und empfahl sie dringend der akademischen Theologie und damit eben auch der Lehrerausbildung, da „die psychologischen und psychoanalytischen Forschungen zu einem tieferen Verständnis der Heiligen Schrift beitragen“ [1].
Diese interdisziplinäre Kooperation passte nun der katholischen Religionspädagogik insofern gut ins didaktische Konzept, als sich in ihm spätestens mit dem Synoden-Dokument „Der Religionsunterricht in der Schule“ (1974) [2] ein Leitmotiv fest verankert hatte, das auf die Humanwissenschaften fokussierte und das bis heute Gültigkeit besitzt: Unter dem Stichwort „Korrelation“ gilt seitdem in der Religionslehrerausbildung, dass allein solche biblischen und religiösen Inhalte für den Unterricht relevant sein dürfen, die eine Wechselbeziehung zur Lebenswelt der Jugendlichen ermöglichen und damit existenziell bedeutsam sind. [3] Analoges gilt in der evangelischen Didaktik, die stark durch das Prinzip der „Elementarisierung“ geprägt wird; beide Begriffe und Prinzipien werden heute konfessionsübergreifend verwendet.
Didaktische Konsequenzen in Studien- und Unterrichtsmaterial
Indem Tiefenpsychologinnen wie Maria Kassel und Hanna Wolff in der Tradition C.G. Jungs schon in den 1970er Jahren die Leserinnen und Leser biblischer Texte mit einer Lesart der Bibel konfrontierten, die die Signale des Unbewussten in den Auslegungsprozess integriert und nicht blockiert, machte in der Folge auch die Religionspädagogik Lehrenden und Lernenden Angebote zur Selbstreflexion, erhellte mit ihr biografische Schlüsselerlebnisse und optimierte sie im Idealfall. Frühe pädagogische Verfechter der Tiefenpsychologie Drewermanns wurden dabei exegetisch unterstützt. [4] Die Religionspädagogik tat dies im Vertrauen auf die Gültigkeit der psychologischen Grundannahme, dass jede ernste Auseinandersetzung mit dem eigenen Unbewussten, das weit über die Hälfte unserer Lebensentscheidungen bestimmt, auch Konsequenzen für die soziale, politische und ökologische Einstellung haben würde.
Von der starken Schülernähe der Auslegungen Drewermanns überzeugt, nahmen fortan auch zahlreiche (bibel-) didaktische Studienbücher und Kompendien [5], in der Folge auch Lehrwerke und Unterrichtsmaterialien würdigend seinen Ansatz auf. [6] Bis heute gelingt es Drewermann, dass sich Schülerinnen und Schüler mit den biblischen Erzählfiguren und Plots gut identifizieren und Hoffnung auf eine stabile, in ganzheitlicher Harmonie lebende Persönlichkeit entwickeln können. Und auch der unterrichtliche Erwerb von Empathie gegenüber der Natur und insbesondere den Tieren ist u.a. ein Verdienst Drewermanns. Die frühen prophetisch-leidenschaftlichen Texte Drewermanns gegen die gnadenlose Ausbeutung der Natur, oft eingewoben in die biblischen Auslegungen, erhalten in der harten, klaren Sprache der „Fridays-for-Future“- Bewegung der Jugend ihr Spiegelbild.
Die Identifikation Jugendlicher mit Drewermanns Kirchenkritik
Die Begeisterung, die Drewermann bei Schülerinnen und Schülern bisweilen auslöst, hat noch eine weitere wichtige Ursache: Drewermann, Gegner aller lebensfremden Dogmatik sowie der Priester- und Institutionsfixierung, trifft den Nerv vieler Jugendlicher auch in diesem Punkt: Enttäuscht von einer dogmatischen Sprache, die junge Menschen nicht mehr erreicht, zudem angewidert von den Skandalen der katholischen Amtskirche, kehren viele heute der Kirche mindestens gedanklich den Rücken. Die tiefenpsychologische Deutung bietet dessen ungeachtet den Enttäuschten aber eine Verständigung über den historischen Jesus und die Gültigkeit seines religiösen Programms. Schülerinnen und Schüler realisieren sensibel, dass die Krise der katholischen Amtskirche ihre Ursache weder in der Person Jesu noch in seiner Lehre hat, sondern in einem klerikalen System, das analog bereits Jesus zu seinen Zeiten ein Dorn im Auge war.
Und hier schließt sich für viele der Kreis: Die erstaunte Rückfrage an den Dozenten und Lehrer, warum denn in Studium und Schule ausgerechnet einer der größten Kirchenkritiker der Gegenwart verhandelt werde, beantwortet sich unter Verweis auf den Propheten Jesus von Nazareth biblisch von selbst. Ganz in dieser prophetischen Tradition stehend, verpflichtet zudem die bereits zitierte Würzburger Synode bis heute jede Lehrkraft ausdrücklich zur Kirchenkritik. So appellieren in dem Synoden-Dokument die Bischöfe an das Lehrpersonal unmissverständlich: „Die Bindung des Religionslehrers an die Kirche erfordert gleichzeitig ein waches Bewusstsein für Fehler und Schwächen sowie die Bereitschaft zu Veränderungen und Reformen. Darin liegt Konfliktstoff. Die Bindung kann daher nicht die Verpflichtung auf ein verklärtes, theologisch überhöhtes Idealbild der Kirche beinhalten. Die Spannung zwischen Anspruch und Realität, zwischen der Botschaft Jesu Christi und der tatsächlichen Erscheinungsweise seiner Kirche, zwischen Ursprung und Gegenwart, darf nicht verharmlost und schon gar nicht ausgeklammert werden.“ [7]
Bildungswissenschaftliche Würdigung
Über die beiden zitierten wichtigen kirchlichen Dokumente hinaus wird die religionspädagogische Würdigung Drewermanns auch bildungswissenschaftlich und methodisch motiviert. Gemäß der Tiefenpsychologie enthält die biblische Bilderwelt Motive des kollektiven Unbewussten, die Parallelen in anderen Religionen, Mythologien, Märchen, Werken der Weltliteratur und der bildenden Kunst haben. Drewermanns intellektuelles Niveau, das sich in der Auseinandersetzung mit Künstlern von Weltrang wie Dostojewskij, Fontane, Rilke, Munch u.a. niederschlägt, deren Kenntnis er immer wieder für die Interpretation biblischer Erzählungen nutzt, bietet dem Religionsunterricht ein großes Arsenal an Medien, die Schüler und Lehrer zu einem klugen fächerverbindenden Denken herausfordert.
Drewermanns Tiefenpsychologie: Ein Stützpfeiler modernen Religionsunterrichts
Und so konnte und kann bis heute ein Religionsunterricht, der die tiefenpsychologisch ausgerichtete Theologie Eugen Drewermanns vorstellt und diskutiert, alle wesentlichen Bedingungen, die die Didaktik und die katholische Amtskirche an einen guten modernen Religionsunterricht stellen, erfüllen: substanziell, existenziell bedeutsam und damit schülernah zu sein; mutig über gesellschaftliche und kirchliche Missstände aufzuklären; die Grenzen der christlichen Religion für interdisziplinäre, interreligiöse und ökologische Gespräche zu öffnen; für ein humaneres Leben akribisch den Spuren des Juden Jesus von Nazareth zu folgen.
[1] Päpstliche Bibelkommission (Hg.): Die Interpretation der Bibel in der Kirche, Stuttgart 1995, 116
[2] Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Der Religionsunterricht in der Schule. Ein Beschluß der gemeinsamen Synode der Bistümer der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1974
[3] Zur Genese des Korrelationsgedankens, zum Begriff und zum Prinzip Hilger, Georg: Korrelationen entdecken und deuten, in: Ders. u.a. (Hg.): Religionsdidaktik. Ein Leitfaden für Studium, Ausbildung und Beruf, München 62010, 344-354; Kalloch, Christina: Korrelationsdidaktik, in: Dies. u.a. (Hg.): Lehrbuch der Religionsdidaktik. Für Studium und Praxis in ökumenischer Perspektive, Freiburg 22010, 143-166; Mendl, Hans: Religionsdidaktik kompakt. Für Studium, Prüfung und Beruf, München 32014, 52-67; Woppowa, Jan: Religionsdidaktik, Paderborn 2018, 118-132
[4] Vgl. Eggers, Theodor: Wenn das Wunder Schule macht. Ein Beitrag zur Bibeldidaktik und zum Religionsunterricht, Düsseldorf 1991, 28ff.; Lang, Bernhard: Die Bibel neu entdecken. Drewermann als Leser der Bibel, München 1995; Mette, Norbert: Religionspädagogik, Düsseldorf 22000, 168 (mit Anmerkung 34); Kollmann, Bernd: Neutestamentliche Wundergeschichten. Biblisch-theologische Zugänge und Impulse für die Praxis, Stuttgart 2002, 158f.; Theißen, Gerd: Zur Bibel motivieren. Aufgaben, Inhalte und Methoden einer offenen Bibeldidaktik, Gütersloh 2003, 102
[5] Vgl. Niehl, Franz W.: Bibel verstehen. Zugänge und Auswege. Impulse für die Praxis der Bibelarbeit, München 2006, 151; Albrecht, Volker: Blindheit und Lähmung. Heilungserzählungen als Schlüsseltexte für Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen, Münster 1999, 107f., 148; Berg, Horst Klaus: Methoden biblischer Texterschließung, in Adam, Gottfried u. Rainer Lachmann (Hg.): Methodisches Kompendium für den Religionsunterricht 1. Basisband, Göttingen 22002, 163-168, 164
[6] Vgl. Breit, Edith: Jesus der Nazarener, München 1995, 72-75; vgl. Bubholz, Georg u. Ursula Tietz (Hg.): Jesus begegnen. Impulse aus dem Evangelium, Düsseldorf 41999, 59-62; vgl. zuletzt Fresta, Michael u. Volker Garske: Das Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner (Lk 10, 25-37). Interpretationen – Unterrichtsmodell, Paderborn 2020; vgl. Flottmeier, Simone: Reich Gottes: Jesus, die gekrümmte Frau und der Sabbat (Lk 13,10-17). Interpretationen – Unterrichtsmodell, Paderborn 2019
[7] Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Der Religionsunterricht in der Schule, 38
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Dr. habil. Volker Garske, Dozent für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Universität Paderborn, Privatdozent der Universität Vechta.
Bild: S. Hofschlaeger – pixelio.de