Corona erinnert uns daran, darüber nachzudenken, was das Leben bereichert, was in schwierigen Lebenssituationen stützt, was Sinn und Identität stiftet und wie lokal sorgende Gemeinschaften, Caring Communities, gestärkt werden können. Wir brauchen lebbare Formen des Umgangs mit dem nicht auflösbaren Widerspruch zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung, Lebensschutz und Freiheit. Von Klaus Wegleitner.
Unbeschwert rausgehen, spazierend den Frühling genießen, sich bewegen. Im Lichte der voranschreitenden Lockerungen der Corona-Maßnahmen ist dies wieder guten Gewissens möglich. Noch vor ein paar Wochen war das nicht so.
Ein älterer Freund erzählt mir von seiner in einem abgelegenen, wenige Seelen zählenden Vorarlberger Dorf lebenden hochaltrigen Mutter. Mit einem fünfundzwanzigminütigen Dorfrundgang ist sie in jeden Tag „hineinspaziert“. Ihre tägliche Abendrunde, das Aus-dem-Tag-Rausspazieren, dauerte meist länger. Sie bleibt an Zäunen stehen, plaudert, erkundigt sich, manchmal besucht sie auch die auf der anderen Seite des Dorfes lebende Tochter. Sie ist im Kontakt mit den Menschen und fühlt sich körperlich „gut in Schuss“.
Mit Beginn der Maßnahmenverordnungen im Umgang mit Sars-CoV-2 stellt sie ihre Lebensroutine sofort ein, aus Rücksicht und Solidarität. Sie möchte niemanden gefährden, selbst gehört sie ja nun auch der Risikogruppe an, was immer diese – ungefragte – Zuordnung bedeuten mag. Wir müssen das nun alles gemeinsam tragen, damit wir einander schützen. Wenn sie einfach weiterspaziert, was ist das für ein Zeichen? Jedenfalls ein unsolidarisches.
In der Rekonstruktion der Maßnahmenpolitik wird klar: Rechtlich hätte es vielfältige Spiel- und Bewegungsräume gegeben, aber der angstorientierte Appell an das Gewissen der Bürger*innen, begleitet von Kontrollmaßnahmen der Exekutive, leitete die strenge (Über)Interpretation der Verordnungen. Das ist möglicherweise auch Teil der erfolgreichen Abwendung der epidemiologischen „Freak-Wave“, die – nach den aus Oberitalien übermittelten Bildern – drohte, unser Gesundheitssystem zu überlasten. Was lässt sich daran nun ablesen und lernen, welche Fragen stellen sich?
Gesundheit und Gesundsein meinen weit mehr als physische Unversehrtheit.
Warum habe ich als Bürger ein schlechtes Gefühl, wenn ich mit der Familie rausgehe, den Frühling und die Freiheit genieße, auch wenn es epidemiologisch unbedenklich und vermutlich sogar gesundheitsförderlich wäre? Mein Gefühl der Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft, der Gesundheit der anderen Bürger*innen, wird politisch-medial diskursiv „befüllt“ mit einem bestimmten Verständnis von dem, was im Lichte der virologisch-pandemischen Bedrohung Gesundheit ausmacht. Schrittweise kommt es mir plausibel und legitim vor, dass mit Gesundheit einseitig die physische Unversehrtheit, das nackte (Über)Leben gemeint ist, dessen Schutz alle anderen Gesundheits- und Lebensdimensionen nachrangig erscheinen lässt. Das braucht mir kein Herrschaftssystem mehr aufwändig zu vermitteln, ich habe es – psychopolitisch – internalisiert.
Die Politik und ich selbst, wir unternehmen gemeinsam nun alle Anstrengungen, diese – virologische – Gesundheit wiederherzustellen, „koste es, was es wolle“. Dabei wissen wir nur zu gut, dass Gesundheit weit mehr ist und Gesundsein mehr bedeutet als die physische Unversehrtheit und das Überleben. Daher berücksichtigt auch das Gesundheitsverständnis der WHO neben der physischen die psychische, soziale und spirituelle Dimension von Gesundheit und Mensch-Sein.
Die Mutter meines Freundes hat sich schon nach kurzer Zeit einsam, nicht in Beziehung zu den anderen Dorfbewohner*innen gefühlt. Viele Telefonate konnten das nicht abfedern. Auch körperlich ging es ihr schon nach kurzer Zeit schlechter. Wir wissen aus weltweiten Forschungen, dass soziale Isolation krank macht, Menschen leiden darunter, und sie erhöht das Sterblichkeitsrisiko. Aus Public Health-Perspektive stellt daher Einsamkeit die wohl größte aktuelle gesellschaftliche „Sorgeherausforderung“ dar; trotz und gerade in Zeiten von Corona. Dass es letztlich vor allem auch die jeweiligen Lebens- und Arbeitsbedingungen sind, die über Gesundheitschancen und Krankheitsrisiken entscheiden, wird auch aktuell an der Häufung von Corona-Infektionen im Leiharbeiter*innen-Bereich deutlich.
Lässt sich existentielle Unsicherheit mit Top-Down-Verordnungen „beheben“?
Es erschien mir schon nach kurzer Zeit sehr plausibel, dass es Top-Down-verordnete Freiheitseinschränkungen braucht, um uns und die anderen zu schützen. Selbst demokratiepolitisch bedenkliche Maßnahmen (Verbot der Betretung öffentlicher Orte, das Schließen von Parkanlagen, Einschränkungen der Versammlungsfreiheit) und radikale Eingriffe in die Freiheits-Grundrechte der Bürger*innen führten – überraschenderweise – zu keinem radikalen inneren Widerstand.
Dieses psychopolitische Muster ist in der absoluten Notfall- und Krisensituation nachvollziehbar und sehr tragfähig. Nun sind wir in einer anderen „pandemischen Phase“ angelangt. Das Schlimmste ist (vermutlich) abgewendet. Wir erkennen, das Coronavirus SARS-CoV-2 wird uns länger begleiten. Damit bleibt eine prinzipielle Unsicherheit. Wie viele Kontakte mit wem gehe ich ein, brauche ich, für mein Gefühl des sozialen Eingebundenseins? Ab wann ist es, angesichts einer quantitativ sehr geringen Ansteckungswahrscheinlichkeit, verantwortbar, die Präsenzlehre an der Universität wieder zu ermöglichen? Inwieweit nehme ich ein Restrisiko in Kauf, für eine freundschaftliche Umarmung oder ein tröstendes In-den-Arm-Nehmen von Freund*innen?
Diese Fragen lassen sich nicht mehr über Top-Down-Verordnungen beantworten. Hier müssen wir erst lernen, neue Umgänge und Verständigungsformen zu finden, im Privaten, wie vor allem auch im öffentlichen Diskurs, im Ringen um über längere Zeit „lebbare“ Formen des Umgangs mit dem nicht auflösbaren Widerspruch zwischen Fürsorge/Lebensschutz und Selbstbestimmung/Freiheit.
Ist das Diktat der normativen Vorstellung eines gesunden Lebens gesundheitsförderlich?
Die letzten Wochen haben die Bedeutung eines bevölkerungsbezogenen Gesundheitsverständnisses (Public Health) deutlich gemacht. Gleichzeitig wurde der politische und mediale Diskurs lange Zeit von virologisch und epidemiologisch enggeführten Maßnahmen (Testungen, Isolation, Hoffnung auf Zeitgewinn und den Impfstoff, Tracing-Apps usw.) geprägt.
Kolleg*innen aus dem Bereich der Public Health Ethics sehen in solchen und ähnlichen Interventionen, die isoliert auf die Optimierung bestimmter Gesundheitsparameter abzielen, die Reproduktion von Machbarkeitsmustern („in den Griff kriegen“) und technologischen Lösungsfiguren, die zu kurz greifen und einer tendenziell mechanistischen Anthropologie von Gesundheit und Krankheit folgen. Mit gebotenem moralischem Druck vermitteln diese normativ, was unter „guter und gesunder“ Lebensführung zu verstehen ist. Abweichungen davon (rauchen, trinken, zu wenig Bewegung …) sind dann im Grunde sozialethisch unmoralisch.
Abseits der unmittelbaren Notfallbewältigung bestünde jedoch der Kern einer um die Bedingungen guten (und relativ gesunden) Lebens ringenden Public Health-Perspektive darin, das gemeinsame Nachdenken darüber anzuregen, was das Leben in einer tieferen Weise bereichert, was in schwierigen Lebenssituationen stützt, was Sinn und Identität stiftet und wie lokale Alltagssolidaritäten angeregt und tragende Beziehungen gestärkt werden können. Das fördert Gesundheit nachhaltig.
Das würde aber auch bedeuten, dass nicht Lebensentwürfe von Menschen mit normativen Bildern kolonialisiert werden, sondern, wie es David Buchanan (2000) so schön sagt, Räume eröffnet werden, die Folgendes ermöglichen: „the artful practice of open-ended questioning to allow the learner to discover, rather than be told, the personal meaning of life experiences.“ Vielleicht kann dieser Zugang auch unser Nachdenken über die persönlichen und kollektiven Bedeutungen unserer Lebenserfahrungen im Umgang mit Corona anregen.
Wie mit der Nicht-Kontrolle und der Unsicherheit leben?
Das Spannungsfeld zwischen Lebensschutz und Freiheit, zwischen Fürsorge und Selbstbestimmung kann nicht einseitig aufgelöst werden. Wir sind darauf angewiesen, zu ringen um das gemeinsame Leben mit und in diesen Widersprüchen. In Zeiten von Corona bedeutet das im Sorgebereich etwa auch, um würdevolle, menschliche Formen der persönlichen Begleitung und Betreuung zu ringen, um körperliche Nähe und Abschiede zu ermöglichen, trotz und mit Sicherheit und Fürsorgeverantwortung.
Corona konfrontiert uns mit dem Tod, erinnert uns an die Verletzlichkeit des Lebens. Zu hoffen ist, dass dies nicht ausschließlich zur wissenschaftlichen Hochrüstung für physischen Lebensschutz führt. Denn im Umgang mit Sterben und Tod gewinnt die Frage, was ein gutes Leben – trotz Verletzlichkeit, Alter, Selbstgefährdung und Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe – bis zuletzt ausmacht, besondere Bedeutung. Bei aller existentiellen Unsicherheit, eines ist jedoch sicher: Spazieren zu gehen sollte hier – ohne Schuldgefühle haben zu müssen – jedenfalls dazugehören.
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HINWEIS:
CARE & CORONA – Ein Schreibaufruf: Mach mit! Voneinander und als Gesellschaft lernen!
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Eine Aktion des Kardinal König Hauses, Wien, gemeinsam mit dem Verein Sorgenetz.
Autor: Dr. Klaus Wegleitner, Soziologe und Sorgeforscher, habilitiert im Fach Public Health & End-of-Life Care, Assoc. Prof. an der Abteilung Public Care des Instituts für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie der Karl-Franzens-Universität Graz, Vorstand des Verein Sorgenetz www.sorgenetz.at.