Am zweiten Adventsonntag gerät etwas in Bewegung – nicht aufsehenerregend, fast unmerklich, aber nicht unhörbar. Elisabeth Birnbaum bringt Qol dodi, die Stimme meines Freundes (Hld 2,8-14), zu Gehör.
Die Stimme – ein Wunder. Zwei kleine Stimmbänder, hässliche graue Würmer, bringen Töne hervor, erzeugen ein Luft- und Schallwellenwunder – versetzen den ganzen Körper in Schwingung.
Die Stimme verrät vieles. Sie ist die persönlichste Art sich auszudrücken. Die Gefühle spiegeln sich in ihr. Die Seele schwingt mit.
Die Stimme schafft Brücken zwischen mir und dir. Sie verbindet, sie stiftet Gemeinschaft: Communio durch Kommunikation.
Die Stimme lässt sich nicht festhalten. Sie ist Bewegung.
Die Stimme meines Freundes ist eine zärtliche Stimme. Eine lockende Stimme. Eine Stimme, die mir gilt.
Siehe, er steht da hinter unsrer Wand und sieht durchs Fenster und blickt durchs Gitter.
Ich wohne zufrieden im gut verschlossenen Haus meiner Vorstellungen, Ordnungen, Konzepte und Pläne. Sie geben mir Sicherheit.
Keine Tür steht offen. Keine unliebsamen Überraschungen finden Einlass – nichts Unvorhergesehenes kann geschehen, alles in bester fester Ordnung.
Er kommt mir nicht zu nahe. Er blickt nur durch mein Fenster, durch mein Gitter. Er versucht nicht in diese Welt einzudringen, ich versuche nicht auszubrechen.
Ich lebe in meiner abgeschlossenen Welt. Ich habe es mir gut eingerichtet in meinem selbst geschaffenen Gefängnis. Es ist vertraut, hier möchte ich bleiben.
Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm her! Denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei und dahin.
Seine Stimme dringt durch die Mauern meines Hauses, dringt in die Ritzen meiner Erstarrung und durchweht, durchatmet sie.
Sie ruft mich heraus – aus meinen Konzepten, meinen Ordnungen, meinen Grenzen, meinen Erstarrungen.
Komm!
Es gibt noch etwas Anderes als dieses enge Haus, das verschlossen ist, das nur einen Blick durch das Fenster ermöglicht.
Komm!
Draußen ist Frühling – draußen ist Leben, draußen ist Blüte, ist unbegrenzte Möglichkeit –
ein Aufgehen, nicht ein Aufbrechen, ein Sich-Entwickeln statt ein Sich-Verwickeln, ein Sein-wie-du-bist statt ein Sein-wie-du-sollst.
Draußen ist Freude.
Meine Taube in den Felsklüften, im Versteck der Felswand
Nein – so schnell gebe ich das alles nicht auf.
Ich bin in meinen Felsklüften geborgen. Hier bin ich in Sicherheit, hier im Felsspalt –
ja, vor mir klafft der Abgrund, ja, alles um mich ist versteinert und verhärtet, aber es schützt mich doch – muss ich mich denn nicht schützen? Vor allem und jedem?
Ich kann doch nicht einfach jede Sicherheit aufgeben? Mich aus dem gut gewählten Versteck wagen? Mich zeigen, wie ich bin?
Zeige mir deine Gestalt, lass mich hören deine Stimme!
Die Stimme ist sanft und beharrlich:
Singe – lebe – gerate in die Schwingung des Lebens, bewege die Schwingen deiner Lebendigkeit – überbrücke die Kluft! –
Will ich das? Schaffe ich das? —
In mir beginnt es zu schwingen – schwingt, vibriert – ein kleines Stück jener großen Schwingung, die man „Gott“ nennt.
Mich berührt, mich haucht Gottes Geist an –
ich fühle mich –
inspiriert –
Die Zeit zum Singen ist da.
Denn deine Stimme ist süß.
Die Sonntagsreihe im Advent 2018 heißt neue Texte in der gottesdienstlichen Leseordnung der evangelischen Kirchen willkommen, die am ersten Advent in Kraft tritt.
Elisabeth Birnbaum ist Direktorin des Österreichischen Katholischen Bibelwerks und seit Juni 2018 Mitglied der Redaktion von Feinschwarz.
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