Die Kolumne für die kommenden Tage 50
Mein Sohn sitzt im Wohnzimmer und muss Flächeninhalte berechnen, mein Mann bereitet in seinem Arbeitszimmer ein digitales Barcamp vor und ich treffe mich in meinem Arbeitszimmer virtuell mit wechselnden Projektgruppen, um unsere Arbeit trotz Corona weiterzuführen.
Seit sechs Wochen bewegt sich mein Leben vornehmlich zwischen drei Tischen: Schreibtisch, Wohnzimmertisch, Esstisch. Ich switche zwischen Videokonferenzen, Englisch-Vokabeln, Mails, Mathe-Wochenplan, Einkaufen und der Frage, ob die Rennmäuse schon gefüttert sind. Abends geht es raus in den Garten oder einmal um den Block. Unsere entscheidende Challenge als Familie: Struktur und Geduld. Zu unseren Herausforderungen gehören keine existenziellen Ängste, keine großen Sorgen um alte Eltern im Pflegeheim, keine unmittelbare gesundheitliche Gefährdung am Arbeitsplatz. Wir sind privilegiert. Ich weiß das und fühle mich dennoch mitunter erschöpft und erschüttert.
Corona hat mein Koordinatensystem gesprengt, das Koordinatensystem von Normalität und Sicherheit, in das sich fast alle Veränderungen früher oder später integrieren ließen und lassen. Die größten Herausforderungen für dieses Koordinatensystem waren bislang Geburten, Tode, Krankheiten, Trennungen. Corona zerrt mich aus diesem Koordinatensystem, verrückt mich und alles. Ich spüre das dann, wenn ich Beobachtungen und Gedanken zulasse: Wenn ich im Fernsehen Bilder von Massengräbern in Italien sehe, wenn ich einer Freundin zuhöre, die ein Altenheim leitet, wenn ich mit Menschen aus den sogenannten Risikogruppen spreche, wenn ich die Menschen auf dem Markt mit ihren Masken sehe, wie sie lange Schlangen bilden, umeinander Slalom gehen, an ihren Masken zupfen.
Wenn in Schulen Einbahnstraßenschilder aufgestellt und in Kirchen Bänke abgesperrt werden, um wieder mehr Analogie als überhaupt keine möglich zu machen. Vor ein paar Tagen waren wir das erste Mal seit gut zwei Monaten bei meinen Eltern. Kurz vor der Ankunft hörte ich mich selbst zu meinem Sohn sagen, dass er nur den Hund, nicht aber Oma und Opa in den Arm nehmen darf. Wir blieben im großen Sicherheitsabstand. Was für ein Gedanke: Ich bin vielleicht lebensgefährlich für meine eigenen Eltern. Meine Mutter gab mir selbstgenähte Nase-Mundschutzmasken mit. Sie hat ein Oberhemd meines Vaters umfunktioniert. Zuhause probierten wir sie auf. Sie riechen nach meinem Elternhaus. Ein verrückt-schöner Geruch in einer verrückten Zeit.
Dieser Besuch zeigt mir auch: Wir werden kreativer und lernen, mit der Situation und immer neuen Empfehlungen und Vorgaben umzugehen. Ich begreife, zumindest im Kopf, dass der Ausnahmezustand noch lange Normalzustand sein wird. Mein Sohn trifft seine Freunde in Computerspielen. An Ostern haben wir zum Sonnenaufgang eine Osterkerze angezündet und zum Sonnenuntergang Osterfeuer im Garten gemacht. Abends waren alle Nachbar*innen dabei – verteilt an Fenstern, auf Balkonen und Terrassen. Das hat es zuvor noch nie gegeben. Es war richtig schön.
Treffen mit Projektgruppen und Telefonate mit Kolleg*innen finden jetzt per Videokonferenz statt – eine Art der Zusammenarbeit und Kommunikation, die mir vor zwei Monaten noch völlig fremd war, hier und da mit dem Nebeneffekt, dass im Bildausschnitt ein bisschen heimische und familiäre Realität sichtbar wird. Vor ein paar Wochen hatte ich eine anderthalb-tägige Fortbildung, die online abgehalten wurde. 15 Personen, neun Stunden an Tag zwei, mit Arbeitsphasen im Plenum und in Kleingruppen, mit Pausen natürlich. Es funktionierte faszinierend gut. Am darauffolgenden Tag hatte ich rasende Kopfschmerzen. Die trockene Diagnose meines Sohnes: „Mama, Du hast einen Zockerkopf.“ Es gibt auch in dieser verrückten Zeit gute Gründe, schallend zu lachen.
Was mir fehlt: mal alleine sein, mit meinem Mann essen gehen, meine Eltern und Freund*innen umarmen, mit meinen Kolleg*innen zwischen Tür und Angel reden, einen ganz normalen Gottesdienst feiern. Corona zerrt mich aus meinem Koordinatensystem von Normalität und Sicherheit. Ich ahne, wenn ich weiter Beobachtungen und Gedanken zulasse, dass es auch vor Corona Dinge gab und heute gibt und zukünftig geben wird, die mich noch viel mehr irritieren müssen, denen ich mich aussetzen sollte, die ich in Frage stellen sollte, die in meinem Verhalten Konsequenzen haben sollten – im Blick auf die Welt, im Blick auf die Kirche, im Blick auf meine kleine Welt. Corona schärft auch meinen Blick.
Zu Ostern wünschte ich einem Kollegen „ein trotz allem schönes Osterfest mit der Aussicht auf neues Leben nach dieser verrückten Zeit“. Daraufhin wünschte er mir: „die Aussicht auf ein ver-rücktes Leben in einer neuen Zeit“.
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Dr. Andrea Qualbrink ist Referentin im Stabsbereich Strategie und Entwicklung im Generalvikariat des Bistums Essen.
Photo: Kristin Wilson (unsplash)