Eine säkular gewordene Gesellschaft hat für den Gottesgedanken nichts mehr übrig. Daher bleibt der Theologie nichts anderes übrig, als Gott mit einer Welt zusammen zu denken, die sich ohne Gott denken lässt. Liefert sie mehr als Problemanzeigen und problematische Problemlösungen? Hans-Joachim Höhn skizziert, wo die Theologie unter dieser Prämisse ansetzen kann und wie weit sie damit kommt – Problemanzeigen und problematische Problemlösungen.
„Die Frage ist nicht, ob es (einen) Gott gibt. Die Frage ist, ob er fehlt – und wem er (noch) fehlt.“ – Mit dieser Feststellung werden seit einiger Zeit theologische Symposien und Publikationen zur Gottesfrage eingeleitet.[1] Deutlich kürzer fällt die Erkundigung nach Befinden und Befindlichkeit aus, wenn es um den Menschen geht. Kommt die Sprache auf gesundheitliche Probleme, genügen drei Worte: „Fehlt Dir was?“ Ähnlich kurz und bündig kann man einen kränkelnden Mitmenschen auch auf einen prekären Besitzstand ansprechen: „Hast Du was?“ Beide Fragen zielen auf denselben Sachverhalt. Sich auf eine Frage zu beschränken, würde aber nicht genügen, wenn es um Diagnose und Therapie geht. Denn nur mit beiden lassen sich sowohl Krankheitssymptome erfassen als auch deren Überwindung in Angriff nehmen. Dabei kommt die Logik des „zu viel“ und „zu wenig“ zur Anwendung: Was im Übermaß vorhanden ist, muss reduziert werden. Was fehlt, kann ergänzt werden.
Fehlanzeige? – Fehlanzeige!
„Was hast Du? – Was fehlt Dir“ – Beide Fragen lassen sich auch an die Theologie adressieren, die seit geraumer Zeit damit zu tun hat, dass vielen Menschen Gott nicht fehlt und sie selbst nichts hat, um darauf angemessen zu reagieren. Selten kommt sie über das Protokollieren von Fehlanzeigen eines Gottvermissens hinaus. Auf das Phänomen religiöser Indifferenz kann sie sich keinen rechten theologischen Reim machen.[2] Nachdem Gott nicht mehr als unumgängliche Bezugsgröße für Weltentstehungstheorien, Moralbegründungen, Herrschaftslegitimationen oder Lebenssinn in Betracht kommt, ist sie bei der Suche nach einer weiteren Verwendungsmöglichkeit des Wortes „Gott“ nicht mehr fündig geworden.[3] Um mit dem Fehlen einer religiösen Fehlanzeige etwas anfangen zu können, fehlt ihr der rechte Ansatz – und vielleicht auch der Mut. Stattdessen verwendet sie viel Energie darauf, ein Dementi zur Feststellung einer Gott los gewordenen Welt zu formulieren. Unverdrossen stellt sie Suchtrupps zusammen, die nach Gottsuchenden Ausschau halten, welche vom Gedanken einer Antreffbarkeit Gottes in der Welt nicht abzubringen sind.[4] Den Prozess der Säkularisierung deutet sie hauptsächlich als sozial- und kulturgeschichtlichen Vorgang, der zu einer funktional differenzierten Gesellschaft führt. Deren Teilsysteme operieren nach eigenen Logiken und Effizienzkriterien, die ohne religiöse Bezüge auskommen. Die Entstehung einer derart arbeitsteiligen Gesellschaft wartet für das Teilsystem „Religion“ nicht nur mit einem Kompetenz- und Zuständigkeitsverlust für säkulare Angelegenheiten auf. Es bietet ihm auch die Chance, unabhängig von politischen, ökonomischen oder medialen Relevanzkriterien seiner eigentlichen Aufgabe nachzugehen und mögliche Transzendenzbezüge eines menschlichen Daseins zu erkunden.[5] Wo die multioptionale Moderne die Möglichkeit einer religionslosen Lebenspraxis eröffnet, besteht somit noch immer die Option einer Lebensgestaltung, die sich ein religiöses Vorzeichen gibt. Die sozio-kulturellen Plausibilitäten der Moderne machen ein Leben „ohne“ Gott möglich, schließen ein Leben „vor“ oder „mit“ Gott aber keineswegs aus.[6] Daraus schöpft die Theologie wieder Hoffnung. Fortan kann sie sich an die Arbeit machen, Argumente für die Optionalität und Persistenz des Glaubens an Gott angesichts ungebremst fortwirkender Säkularisierungsprozesse zu sammeln.
Allerdings ist auf Anhieb nicht ersichtlich, wo und wie diese Argumente gefunden werden können. Für welche Konstellationen der Daseinsdeutung und Lebensgestaltung kann die Rede von Gott noch anschlussfähig sein? Ist ein solcher Ansatz nicht längst desavouiert? Haben sich die Vorzeichen nicht umgekehrt und Konstellationen hervorgebracht, welche die Gottesrede aus der Rolle der Daseinsinterpretin fallen ließen und sie zum deutungsbedürftigen Kulturbestand machten? Nachdem der Gottesglaube das Monopol zur metaphysischen Klärung von Fragen nach dem Sein und Sollen menschlichen Daseins in der Welt verlor, ist er längst selbst ein Erklärungsgegenstand postmetaphysischer bzw. naturalistischer Denkansätze geworden. Jene wissenschaftlichen Disziplinen, für deren Themen der Theismus einst Zuständigkeit beanspruchte, machen ihn zum Thema und belehren ihn über seine evolutionäre Basis, seine sozio-kulturelle Genese und Funktion sowie seine moralische Legitimität.[7]
Weltbildkonkurrenz: Naturalistische Provokationen
Unter diesen Vorzeichen Theologie treiben zu wollen, scheint wenig aussichtsreich zu sein. Dies gilt erst recht angesichts der Plausibilität, die ein naturalistisches Weltbild für viele Zeitgenoss/inn/en hat. Seine Prämissen und Leitthesen lassen keinen Raum für die Suche nach innerweltlichen Anknüpfungspunkten des Redens von und über Gott. Als „naturalistisch“ lassen sich jene Denkansätze bezeichnen, die davon ausgehen, dass alles, was ist (Dinge, Ereignisse, mentale Zustände) und wissbar ist, einzig mit den Mitteln der Naturwissenschaft verlässlich erforscht und zureichend erklärt werden kann.[8] Dabei wird unterstellt, dass die „Weltwirklichkeit“ ein energetisch-materielles und prozessuales sowie kausal geschlossenes Kontinuum bildet, das logisch widerspruchsfrei anhand von Naturgesetzen beschreibbar ist. Ferner stellt alles, was geschieht, ein „Naturgeschehen“ dar, da es sich als ein kontingentes Ergebnis oder kulturelles Epiphänomen der biologischen Evolution begreifen lässt. Deutungsansätze, die über einen empirischen Zugang hinausgehen, werden als entbehrlich für die Betrachtung, Beschreibung und Erklärung der Welt gehalten.[9] Folgt man diesen Leitgedanken, dann kann es in der Welt nichts mehr geben, das einen Menschen auf den Gedanken bringen kann, (an) den Gottesgedanken zu denken.
Die naturalistischen Bestreitungen eines Rekurses auf Gott in Fragen der Weltentstehung oder der normativen Grundlagen menschlichen Miteinanders werden keineswegs widerspruchslos hingenommen. Immer wieder werden Einsprüche artikuliert, die auf den (zu) hohen Preis verweisen, der für die Verabschiedung der „Gotteshypothese“ auf diesen Feldern zu zahlen ist:[10]
- Wenn Gott nicht mehr auftaucht in Weltentstehungsreflexionen, dann regiert blinder Zufall und die Bedeutsamkeit menschlichen Daseins reduziert sich darauf, das Zwischenprodukt absichts- und zielloser Evolutionsprozesse zu sein.
- Wenn Gott nicht mehr auftaucht in Normenbegründungen, dann ist alles Moralische nichts Unbedingtes, das »ohne Wenn und Aber« gelten soll, sondern lediglich Ausdruck menschlicher Konventionen, die für einen moralischen Relativismus anfällig bleiben.
- Wenn Gott nicht auftaucht in Konzepten der Legitimation und Begrenzung politischer Herrschaft, dann meint jeder Machthaber, es stünde alles Politische dank einer weltimmanenten Legitimation in seiner Macht, so dass es im Kontext eines solchen Autoritarismus keinen innerweltlichen Bereich des politisch Unverfügbaren mehr gibt.
Allerdings ist es fraglich, ob eine naturalismuskritische Theologie gut beraten ist, auf eine Strategie zu setzen, die mit einer Berechnung der Kosten für die sozio-kulturelle Entmythologisierung und Entmystifizierung des In-der-Welt-Seins aufwartet oder Ersatz für metaphysische Obdachlosigkeit anbietet. Die Geschichte solcher Versuche bestätigt keineswegs, dass harte und teure säkulare Zumutungen stets gegen angenehme und leicht erschwingliche religiöse Trostformeln eingetauscht werden. Dass man der säkularen Moderne eine Verlustrechnung bei der Durchsetzung ihrer Projekte präsentieren kann in der Hoffnung, sie möge zu religiösen Zugeständnissen bei Weltentstehungstheorien, Normenbegründungen und Herrschaftslegitimationen bereit sein, ist höchst unwahrscheinlich. Verluste an metaphysischen Sinnstiftungen auf dem Feld von Recht und Moral wird die Moderne durchaus einräumen. Aber die bisherigen Versuche von Seiten der Theologie, hierfür religiöse Kompensationen anzubieten, hatten keinen großen Erfolg. Auch postsäkulare Konstellation von Religion und Gesellschaft haben nur in geringem Maße dazu verholfen, dass unabgegoltene semantische Potentiale religiöser Überlieferungen wiederentdeckt und in säkulare Kontexte eingebracht werden.[11] Größer ist die Skepsis, dass sich in religiösen Überlieferungen tatsächlich „Wahrheitsgehalte auffinden lassen, die gegebenenfalls auf dem Weg einer hermeneutisch sensiblen Übersetzung als wahrheitsfähige Aussagen in allgemein zugängliche Diskurse eingeholt werden können.“[12] Weithin dominieren Kräfte, die sich für die Unabhängigkeit von Daseinsdeutungen und Daseinsgestaltungen von religiösen Inspirationen stark machen.
Angesichts ihrer Dominanz ist es zwar nicht angezeigt, vor den Erklärungsansprüchen des Naturalismus theologisch zu kapitulieren – zumal seine Schwachstellen unübersehbar sind.[13] Aber es wäre ein Zeichen eines theologischen Übermuts, aus dem Umstand, dass es naturwissenschaftliche Fragen gibt, die von den Naturwissenschaften nicht beantwortet werden können, eine eigene Kompetenz ihrer Erörterung abzuleiten. Selbst wenn naturalistische Erklärungsversuche scheitern, käme es einem logischen Kurzschluss gleich, daraus eine Berechtigung oder gar Überlegenheit theologischer Antworten abzuleiten.[14] Es mag sein, dass naturalistische Erklärungsversuche zu kurz greifen, wenn sie mentale Phänomene (z.B. Bewusstsein) erklären wollen. Nicht minder groß ist die Verlegenheit, wenn Vertreter/innen des Naturalismus gefragt werden, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nicht(s). Vermutlich handelt es sich hierbei um eine naturalisierungsresistente Fragestellung. Aber daraus zu folgern, dass die Theologie bessere Erklärungsleistungen erbringen könnte, ist voreilig.[15] Zum Beispiel sind für die Erörterung des Qualia-Problems, der Nichtübersetzbarkeit einer 1. Person-Perspektive in eine 3. Person-Perspektive, auch andere Disziplinen kompetent und die Tatsache, dass die naturwissenschaftliche Erklärbarkeit der Welt ihrerseits naturwissenschaftlich unerklärbar ist, eignet sich nicht als Ausgangspunkt für einen Gottesbeweis.
Eine wichtige akademische Tugend besteht darin, sich mit den stärksten Argumenten eines Gegners zu beschäftigen und ihnen dort Recht zu geben, wo man ihnen nur um den Preis des logischen Selbstwiderspruchs widersprechen kann. Auch wo die Theologie in religionskritische Nöte gerät, sollte sie diese Haltung nicht aufgeben. Dies schließt die Bereitschaft ein, kritischen Stimmen auf deren eigenem Terrain entgegenzutreten und mit ihnen unter den von ihnen ausgewiesenen Prämissen über Stringenz, Konsistenz und Kohärenz ihrer Religionskritik zu streiten. Sollte erwiesen sein, dass diese Prämissen nicht zu widerlegen sind, ergibt sich für die Theologie die Frage, ob sie sich diese Prämissen ihrerseits zu eigen machen kann. Zweifellos geht sie damit ein hohes Risiko ein: Was wäre, wenn der naturalistisch argumentierende Atheismus Recht behielte mit seinem Plädoyer, dass es keine innerweltlichen Anknüpfungspunkte für die Rede von Gott gibt? Wäre damit tatsächlich jedes verantwortbare Reden von Gott am Ende? Wohl kaum! Eher wird damit die säkulare Herausforderung der Theologie noch einmal radikalisiert: Wer heute davon reden will, inwiefern der Bezug auf Gott für den Menschen belangvoll ist, muss dies versuchen im Kontext einer Welterfahrung und -deutung, die jeden Rekurs auf die innerweltliche Relevanz, Zweckdienlichkeit oder Unverzichtbarkeit Gottes in Abrede stellt.
Säkularität, Gott und die Verfassung der Welt
Die Brisanz dieser Herausforderung ergibt sich aus der Zumutung, den Nexus von Modernität und Säkularität wahrzunehmen und dem Zusammenhang von Säkularität und Autonomie der Welt theologisch nachzugehen. Theologische Brisanz birgt die Einsicht, dass die Säkularität und Autonomie der Welt einerseits und Gottes Nicht-Notwendigkeit zur Bewältigung innerweltlicher Abläufe und Sachverhalte andererseits einander bedingen. Autonomie und Säkularität zeigen sich darin, dass sich die Welt (als Gottes Schöpfung) derart zu eigen und sich selbst überantwortet ist, dass alles in der Welt von der Welt ist bzw. zureichend aus der Welt erklärt werden kann. Ihre Eigengesetzlichkeit wird darin manifest, dass zur Beschreibung und Bewältigung innerweltlicher Abläufe und Sachverhalte keine welttranszendente Größe notwendig ist und deren „Hinzunahme“ keinen Erkenntniszuwachs bringt.[16] Die Theologie steht daher vor der Herausforderung, ob sie (auch aus genuin theologischen Gründen) rückhaltlos die Autonomie und Säkularität von Mensch und Welt bejahen kann, ohne vor einem Naturalismus zu kapitulieren, der dem Gottesbegriff jegliche Bedeutung abspricht.[17] Anders formuliert: Die Reichweite von Säkularisierungsprozessen wird unterschätzt, wenn sie lediglich auf die Emanzipation säkularer Lebensbereiche von religiösen Vorgaben oder auf die Auflösung einer religiösen Matrix für Geschichtsnarrative bezogen wird. Die Kategorie „Säkularität“ ist auch epistemisch belangvoll für die Frage nach der ontologischen Verfassung der Welt. Erübrigt oder provoziert ihre ontologische Verfassung den Gottesgedanken? Bezieht sich der Gottesgedanke auf den ontologischen Status innerweltliche Sachverhalte oder darauf, wie es letztlich um die Welt im Ganzen steht? Sind noch sinnvolle Aussagen darüber möglich, wie Gott zur Welt steht? Vor diesem Hintergrund ist jedem weiteren Reden von Gott die Aufgabe gestellt,
- unter Absehung von Auffassungen einer innerweltlichen Notwendigkeit oder Nützlichkeit über die Wirklichkeit Gottes nachzudenken,
- Gott mit einer Gott los gewordenen Welt zusammenzudenken, ohne daraus die Nichtigkeit Gottes zu folgern, weil
- die Größe „Gott“ belangvoll ist für die Erörterung einer säkularisierungs- und naturalisierungsresistenten Fragestellung.
Schöpfungstheologie – „under construction“
Die Theologie hat die Aufgabe, Gott nicht ohne eine Welt zu denken, deren naturalistisch beschreibbare Verfassung und deren kulturelles Selbstverständnis es nahe legen, die Welt ohne Gott zu denken.[18] Diese Denkkonstellation darf nicht übersprungen werden, um den Gottesgedanken oder die Vorstellung einer Gott/Welt-Beziehung als rational zumutbar zu erweisen. Offen ist, welche theologische Konzeption eines Gott/Welt-Verhältnisses dieser Herausforderung am ehesten gerecht werden kann. Im Angebot stehen seit einiger Zeit vor allem jene Modelle, die der Gedanke eint, dass es zwar einen Unterschied von Gott und Welt gibt, der die gelegentliche innerweltliche „Fehlanzeige“ Gottes erklärt. Zugleich wird darauf verwiesen, dass dieser Unterschied umgriffen wird von einer je größeren Gemeinsamkeit, die auch die Möglichkeit eines Kontaktes bzw. einer lebendigen Beziehung zwischen Gott und Mensch offen hält.[19] Die Palette dieser Modelle ist ebenso breit wie bunt: Sie reichen von panentheistischen Konzeptionen einer „Inklusion“ und „Einbergung“ der ansonsten eigenständigen Welt in die sie umgreifende Wirklichkeit Gottes[20] über prozesstheologische Vorstellungen einer Ko-Evolution von Gott und Welt[21] bis hin zu Konzepten eines „Open Theism“[22] und eines politisch ambitionierten, öko-theologisch angelegten Holismus.[23]
Zuspruch finden diese Modelle, weil sie in Aussicht stellen, dass wieder denkbar wird, was religiöse Menschen gerne glauben (wollen): Sie leben in einem Universum, in dem Gott und Welt dynamisch interagieren, weil es bidirektionale Feedbackschleifen zwischen Gott und Mensch gibt. Sie stehen in Beziehung zu einem „empathischen“ Gott, der feinfühlig und empfindsam ist, der sich anrühren lässt von den Nöten und Sehnsüchten des Menschen. Ihnen gilt eine unbedingte Zuwendung Gottes, deren Wirkkraft allein in der „Macht der Liebe“, im Werben um die „Sympathie“ des Menschen besteht und zur Kooperation mit dem schöpferischen Heilswillen Gottes einlädt.
Von diesen Modellen gehen auch attraktive Denkofferten an Kritiker/innen dualistischer Weltbilder aus: Endlich werden jene Entgegensetzungen von Geist und Materie, Transzendenz und Immanenz, Mensch und Natur, Leib und Seele überwunden, die zu prekären Oppositionen, hegemonialen Strukturen, Hierarchiebildungen und Abwertungen im Welt- und Selbstverhältnis des Menschen geführt haben. Ihnen ist nicht nur ein ausbeuterisches Verhältnis zu seiner inneren und äußeren Natur anzulasten, sondern auch ein Verlust von „planetarischen“ Solidaritätspotenzialen, welche die Kategorie der Mitgeschöpflichkeit bereithält. Sie haben die Ausbildung eines Anthropozentrismus begünstigt, der im Blick auf jede andere Spezies mit Ab- und Ausgrenzungen von Wert und Würde operiert.[24]
In der akademischen Theologie werden derzeit intensiv Konzepte beworben, die entsprechende Umbauten in der Schöpfungstheologie vornehmen.[25] Christine Büchner plädiert im Anschluss an C. Keller für ein Neuverständnis der Welt „nicht als Schöpfung irgendeines höchsten, heiligen, unnahbaren Wesens, sondern als Schöpfung eines Gottes, der:die:das sich selbst nicht abgrenzt, vielmehr weltlich bzw. irdisch wird – uns so ununterscheidbar nahe, dass Sakralität und Profanität aufeinander durchlässig werden. Der Ort der Welt ist der Ort Gottes und umgekehrt.“[26] Die hier angezielte „Überwindung von Dualitäten wie Mensch-Natur oder Gott-Welt bzw. sakral und profan“[27] soll nicht nur eine Selbstlimitation theologischen Denkens überwinden, sondern opponiert auch gegen eine Begrenzung der Wirklichkeit Gottes. Werden diese Grenzziehungen aufgegeben, wird der Blick wieder frei für die Grenzenlosigkeit Gottes. „Ein Gott ohne Grenzen drückt sich im anderen aus und gibt sich – Beziehung schaffend – in dieses ohne Unterschied hinein, damit alles lebe. Daher ist alles Ausdruck einer Wirklichkeit, die unendlich tiefer und möglichkeitsreicher ist als das aktuell von ihm und anderen Erlebte. Erst, indem das Heilige vom Profanen nicht mehr zu unterscheiden wäre, wäre es in ihm angekommen und wäre eine neue, von Gott erfüllte Erde.“[28] Eine derart neu formatierte Schöpfungstheologie „ist weder Naturphilosophie noch eine rein hermeneutische Wissenschaft, sondern bewegt sich dazwischen: Sie deutet die Welt im Horizont des Glaubens an einen Gott, der mit dieser Welt und unseren Deutungen dieser Welt so verbunden ist, dass er weder von der materiellen Welt noch von unseren Deutungen getrennt werden kann.“[29] Die Untrennbarkeit von Gott und Welt hat auch lebenspraktische Folgen: „Je mehr ich mir bewusst bin, dass ich und mein subjektives Tun zugleich Teil einer sich ständig verändernden fragilen und gerade so mit Gott verstrickten, »gotthaltigen« Gesamtwirklichkeit sind, desto vorsichtiger, offener und mutiger zugleich kann ich werden. Mutiger im Sinn eines Zutrauens in die verborgenen, zu entdeckenden, uns affizierenden und involvierenden Potentiale dieser Wirklichkeit.“[30]
Ökologisch und politisch engagierte Christ/inn/en werden Anliegen und Ziel dieses Plädoyers teilen und darin einen wichtigen theologischen Flankenschutz ihres Einsatzes für die Bewahrung der Schöpfung erkennen. Gleichwohl fallen an ihm etliche methodische und begriffslogische Unwuchten auf. Die favorisierten Metaphern und Sprachbilder lassen den Verdacht einer Re-Mythologisierung der Theologie aufkommen und der Versuch, dabei Versatzstücke aus der mystischen Tradition des Christentums zu „recyclen“ sorgt keineswegs für argumentative Prägnanz. Die anvisierte Ent-Grenzung von Transzendenz und Immanenz, Gott und Welt geht offenkundig davon aus, dass Grenzen stets einen diskriminierenden Charakter haben. In der Tat löst der Begriff „Grenze“ meistens die negative Primärassoziation der Barriere, der Be- und Verhinderung, der Einschränkung und Negation aus. Bei näherem Hinblick zeigt sich jedoch, dass Grenzen auch der Identifizierung und Identitätsvergewisserung dienen. Denn sie verneinen, dass etwas zugleich ein anderes oder alles oder nichts ist. Grenzen machen nicht immer und ausnahmslos etwas zunichte oder engen es ein. Sie dienen auch Erkennbarkeit und Identitätssicherung einer Größe. Sie erfüllen eine Ermöglichungsaufgabe, indem sie dem, was ist, Kontur geben. In diesem Fall machen sie klar: Alles, was ist, ist weder alles noch nichts, sondern etwas je Eigenes und Anderes. Hätte es keine Konturen, wäre es weder von allem Anderen noch vom Nichts unterscheidbar. Ist aber eine Größe durch ihre Konturen identifizierbar, dann ist ihre Identität mitbestimmt durch das Andere, von dem sie verschieden ist. Etwas begrenzen heißt somit: etwas unterscheidend in Beziehung setzen zu einem Anderen. Kann man zwei Größen voneinander unterscheidend in Beziehung setzen, lassen sie sich davor bewahren, nicht mehr identifizierbar zu sein.
Was eine Kontur verneint, sind jene Merkmale, die der Existenz einer Größe ebenso abträglich sind wie ihrer Identität: Unbestimmtheit, Ununterscheidbarkeit, Beziehungslosigkeit. Grenzenlosigkeit löst jede Kontur auf und macht das Grenzenlose verwechselbar mit dem, was es gar nicht gibt.[31] Wer schöpfungstheologisch für eine Ununterscheidbarkeit von Gott und Welt eintritt, nimmt keine für das Geschaffene identitätsförderliche Verhältnisbestimmung vor. Und wer eine „gotthaltige“ Welt annimmt, spricht dem Geschaffenen nicht ein Mehr an Wert und Würde zu, sondern mindert letztlich den Selbstwert und die Selbstzwecklichkeit eines radikalen Sich-zu-eigen-Seins.
Alterität und Transzendenz Gottes
Von einem wohltuenden, d.h. daseins-, identitäts- und freiheitskonstituierenden Unterschied zwischen Gott und Welt lässt sich hingegen in der Tradition des klassischen Theismus sprechen. Er nimmt eine Verschiedenheit von Gott und Welt an, die jede Gemeinsamkeit übertrifft. Zwar sind in der zeitgenössischen Theologie kaum noch Stimmen vernehmbar, welche diesen Ansatz vertreten. Seine Stärke besteht aber darin, dass er über etwas verfügt, das in den aktuellen Diskursen weithin fehlt: Er bietet einen Zugang, den Komplex Säkularität theologisch „radikal“ zu denken, d.h. ihn in der Daseinsverfassung der Welt als Schöpfung Gottes begründet zu sehen und zugleich mit naturwissenschaftlichen Plausibilitäten kompatibel zu sein.[32]
Wer von Gott reden will, muss im Paradigma des klassischen Theismus von der Alterität und Transzendenz Gottes sprechen. Nach christlichem Verständnis ist Gott „der eine, wahre und lebendige Schöpfer des Himmels und der Erde, … Er ist wirklich und wesenhaft von der Welt verschieden, in sich und aus sich heraus überaus selig und über alles unaussprechlich erhaben, was außer ihm ist und gedacht werden kann“ (Vaticanum I/DH 3001). Nur jene Größe verdient demnach „in Wahrheit“ Gott genannt zu werden, die nicht zum Bestand des (Inner-)Weltlichen zählt. Gott ist kein „etwas“ oder „jemand“. Er ist aber auch nicht „nichts“. Vielmehr steht das Wort „Gott“ für den Unterschied zwischen Sein und Nicht-Sein, ohne den nichts wäre. Man könnte auch sagen: Gott liegt der Unterscheidung von Sein und Nichts voraus, so dass er weder ein höchstes Seiendes noch das Sein selbst ist. Er konstituiert den Unterschied von Sein und Nichts zugunsten des Seienden. Dass Gott „wesenhaft und wirklich“ von allem, was ist, verschieden ist, impliziert, dass ein Verhältnis zwischen Gott und Welt ausgesagt werden kann, das einen Unterschied einschließt, der größer nicht gedacht werden kann. Dieser Unterschied gibt dem Geschaffenen Kontur, Eigenstand und Eigenwert. Da das Geschaffene von sich aus diesen Unterschied weder generieren noch aufrechterhalten kann, ist es bleibend auf den Schöpfer dieses Unterschiedes bezogen, von dem es zugleich radikal verschieden bleibt.[33] Das Bezogensein auf Gott ist existenzkonstitutiv, das Verschiedensein von Gott ist identitäts- und freiheitskonstitutiv. In seinem unüberbietbaren Bezogensein auf Gott kann das Geschaffene bei gleichzeitig radikaler Verschiedenheit von Gott es selbst sein. Und ebenso wahrt diese Verschiedenheit die Freiheit und Unverfügbarkeit Gottes. Das Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf ist ein „bidirektionales“ Freiheitsverhältnis.
Der Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf begründet zugleich eine unüberbietbare Gemeinsamkeit aller Geschöpfe. Es gibt zwischen ihnen keine Verschiedenheit, die nicht umgriffen wird von einer je größeren Gemeinsamkeit des Bezogenseins auf den Schöpfer. Der Unterschied von Schöpfer und Geschöpf verbietet daher ebenso die Rede von einer „gotthaltigen“ Welt wie er die „Vergötterung“ irgendeiner weltimmanenten Größe untersagt. Und ebenso widerstreitet er der Behauptung, einer bestimmte Spezies komme gegenüber ihren Mitgeschöpfen eine Sonderrolle mit der Befugnis zu, sie stets nur als Mittel für die Realisation eigener Zwecke zu betrachten.[34]
Vor diesem Hintergrund kann durchaus in theologischer Perspektive die ontologische Grundsituation der Welt in ihrer Autonomie und Säkularität gewürdigt werden, d.h. als von Gott uneingeschränkt in ihre Freiheit, ihr Selbstsein und ihrem Sich-zu-eigen-Sein überantwortet. Dies impliziert, dass in erkenntnistheoretischer und in lebenspraktischer Hinsicht alles, was in der Welt geschieht, jeweils für sich auch ohne Gott („etsi deus non daretur“) erklärt und begriffen werden kann. Denn was sich zu eigen ist, frei und mit sich identisch existiert, ist hinsichtlich seiner Freiheit und Autonomie von keiner anderen Größe abhängig. Zugleich aber muss festgehalten werden: Wenn es einen Grund für den Unterschied von Sein und Nichts gibt und somit eine Klärung der naturalisierungsresistenten Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts,[35] muss dieser Grund zwar von allem, was ist, verschieden sein. Aber zugleich muss alles, was ist, hinsichtlich des Umstands, dass es ist, auf diesen Grund bezogen sein. Es wäre ja nicht, wenn es nicht den Unterschied zwischen Sein und Nichts gäbe. Darum kann auch gesagt werden: Radikales Verwiesensein auf Gott, der den Unterschied zwischen Sein und Nichts zugunsten des Seienden konstituiert, und unverkürzte Freiheit gegenüber Gott wachsen im gleichen und nicht in umgekehrtem Maße.[36] Darin steckt wiederum ein ontologischer „Gunsterweis“: Allem, was ist, kann nichts Besseres geschehen, als derart frei und sich zu eigen zu sein, und man kann nichts Größeres für jemanden tun, als ihm Dasein, Freiheit und Identität zu ermöglichen. Zur Welt in eben diesem unüberbietbaren Verhältnis der Anerkennung von Dasein, Identität und Freiheit zu stehen, macht auch die Menschenzugewandtheit Gottes aus.
Vor Gott – ohne Gott – mit Gott?
Die Weltzugewandtheit Gottes ist ein zentrales Thema in Texten, deren Autor/inn/en das Konzept eines »Open Theism« verfechten. Allerdings wird bei einem ihrer prominentesten Vertreter, dem us-amerikanischen Philosophen und Theologen Thomas J. Oord,[37] die ebenso wichtige Auseinandersetzung mit dem Komplex radikaler Säkularität eher übersprungen als in Angriff genommen. Wo sich Oord theologisch auf den Befund radikaler Säkularität einlässt, wird dessen theologische Brisanz sogleich relativiert und deren Auflösung in eine widerspruchsproblematische Façon gebracht: Religiöse Menschen dürfen weiterhin an mirakulöse Lebensereignisse glauben und dahinter eine höhere Macht annehmen. Dabei handelt es sich nicht um eine imperial gedachte Allmacht mit der Befugnis zur Intervention in innerweltliche Handlungsabläufe, sondern um die unaufdringliche, aber nicht weniger wirksame Macht der Liebe: „Gottes Wirken in unserer Welt zeichnet sich dadurch aus, dass er die Schöpfung zum Wohlergehen ermächtigt und inspiriert. Gott erhält zudem notwendigerweise die Gesetzmäßigkeiten des Universums aufrecht, weil diese Regelmäßigkeiten aus Gottes ewigem Wesen der Liebe stammen. Der Zufall in der Welt und der geschöpfliche freie Wille sind genuin. Gott ist keine Art Diktator, der auf mysteriöse Weise die Fäden zieht. Gott kontrolliert andere niemals. Dennoch wirkt Gott Wunder – allerdings ohne dabei Zwang auszuüben. Gott erhält die ganze Schöpfung auf fürsorgliche Weise und beruft sie zu Liebe und Schönheit.“[38]
Liegt hier ein Denkangebot vor, das keine Zwänge kennt und Freiräume der Gottesrede eröffnet? Ja, denn es verzichtet sogar auf die zwanglose Überzeugungskraft einer stringenten Argumentation. Darum bietet der Autor nicht nur eine problematische Problemlösung an. Er vermittelt auch eine Einsicht, die nach der Devise „Das hat uns gerade noch gefehlt!“ zur Problemvermehrung beiträgt. Diese Erkenntnis, welche die – vielleicht ungewollte – Pointe aller Texte über Gottes Liebe zur Welt nahelegt, ist wenig erfreulich: Man muss nicht Zwang ausüben, um Menschen zu fesseln. Bisweilen genügt es, sie freundlich zu umgarnen.
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Höhn HansJoachim RadikaleSäkularität
DOI: https://doi.org/10.15496/publikation-95676
Handle: http://hdl.handle.net/10900/154338
Hans-Joachim Höhn ist Professor (emeritus) für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Universität zu Köln. Von ihm erschien 2020 „Gottes Wort – Gottes Zeichen. Systematische Theologie“ (Würzburg: Echter).
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[1] Vgl. exemplarisch St. Walser (Hg.), Fehlt Gott? Eine Spurensuche, Ostfildern 2023.
[2] Zu dieser Verlegenheit siehe etwa J. Loffeld, Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt. Das Christentum vor der religiösen Indifferenz, Freiburg/Basel/Wien 2024. – Die in apologetischer Absicht häufig geäußerte trotzige Behauptung, der Mensch sei „unheilbar religiös“ ist doppelt prekär. Sie erklärt Religiosität zu einer Krankheit. Und für deren Heilung stellt sie die ungünstigste Prognose aus.
[3] Vgl. J. Knop (Hg.), Die Gottesfrage zwischen Umbruch und Abbruch, Freiburg/Basel/Wien 2019.
[4] Vgl. exemplarisch J. Söder/H. Schönemann (Hg.), Wohin ist Gott? Gott erfahren im säkularen Zeitalter, Freiburg/Basel/Wien 2013.
[5] Zu einem solchen Versuch, auf Verlustanzeigen mit pastoraler Zuversicht zu reagieren, siehe T. Kläden, Pastorale Chancen der Säkularität, in: J. Knop (Hg.), Die Gottesfrage, zwischen Umbruch und Abbruch, 245-259.
[6] Vgl. H. Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg/Basel/Wien 2012.
[7] Vgl. D. Dennett, Den Bann brechen. Religion als natürliches Phänomen, Frankfurt 2008.
[8] Vgl. etwa G. Vollmer, Auf der Suche nach der Ordnung. Beiträge zu einem naturalistischen Welt- und Menschenbild, Stuttgart 22013.
[9] Besonders prononciert vertritt diese Auffassung G. Vollmer, Geht es überall in der Welt mit rechten Dingen zu? Thesen und Bekenntnisse zum Naturalismus, in: R. Isak (Hg.), Kosmische Bescheidenheit. Was Naturalisten und Theologen voneinander lernen könnten, Freiburg 2003, 11-39.
[10] Entsprechende Wortmeldungen kommen nicht nur von Vertretern des kirchlichen Lehramtes, sondern auch von Theologen und Publizisten, die entweder die Allerklärungskompetenz des Naturalismus in Frage stellen (vgl. R. Schröder, Abschaffung der Religion? Wissenschaftlicher Fanatismus und die Folgen, Freiburg/Basel/Wien 22009) oder sich besorgt zeigen, dass mit dem Verschwinden des Gottesgedankens auch ein „Kulturverlust“ verbunden ist (vgl. J. Ross, Die Verteidigung des Menschen. Warum Gott gebraucht wird, Berlin 2012). Eine Kombination von Krisendiagnose und Verlustbilanz der technisch-wissenschaftlichen Moderne einerseits sowie der Ausstellung eines Unentbehrlichkeitsnachweises eines religiösen Weltverhältnisses andererseits begegnet bei H. Rosa, Demokratie braucht Religion, München 2022.
[11] Vgl. hierzu M. Breul/B. Rediker/B. Schmdt (Hg.), Zwischen Lebensform und Weltanschauung. Religiöse Gründe in der Öffentlichkeit, Freiburg/Basel/Wien 2024.
[12] J. Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Berlin 2019, 77-78.
[13] Vgl. dazu C. Beisbart, Naturalismus, in: K. Gabriel/Ch. Horn (Hg.), Säkularität und Moderne, Freiburg/München 2016, 121-160. – Besonders gravierend sind Genese/Geltungs-Fehlschlüsse, wonach der Nachweis der biologischen oder kulturelle Genese bestimmter Überzeugungen darüber entscheiden kann, ob diese Überzeugungen auch mit guten Gründen gerechtfertigt werden können. So ist die Wahrheit der Überzeugung, dass Gott existiert, nicht von den Umständen abhängig, unter denen Menschen zu dieser Überzeugung gelangt sind. Allerdings ist damit noch nicht geklärt, dass die Akzeptanz von kulturellen Phänomenen gänzlich von der Akzeptabilität ihrer Entstehungsbedingungen entkoppelt werden kann. Wenn KZ-Häftlinge zur konzertanten Aufführung einer Beethovensinfonie gezwungen werden, hat dies Einfluss auf die moralische Bewertung dieser Aufführung, auch wenn ihre ästhetische Qualität herausragend war. Kann man diese Qualität noch schätzen, wenn sie unter den Bedingungen von Nötigung, Erpressung und Folter entstand? Spielt man den KZ-Schergen, die sich an der ästhetischen Qualität des Konzertes delektieren, nicht in die Hände, wenn man dafür votiert, dass die Gültigkeit eines ästhetischen Urteils unabhängig ist von den Umständen seiner Genese?
[14] Philosophischen Flankenschutz für solche Versuche offeriert H. Tetens, Gott denken. Ein Versuch über rationale Theologie, Stuttgart 2015, mit dem Vorhaben, „Schwierigkeiten des Naturalismus … in Stärken des Theismus umzumünzen“ (5).
[15] Dass man Naturalismuskritiker sein kann, ohne deswegen ins Lager des Theismus zu wechseln, demonstriert Th. Nagel, Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin 2013.
[16] Für die Gültigkeit des Nichtwiderspruchsprinzips, das sowohl auf dem Feld der Weltbeschreibung als auch auf dem Feld der Weltgestaltung zur Anwendung kommt, ist die religiöse Beteuerung unerheblich, dass Gott Schöpfer der Welt sei. Es bezieht seine Gültigkeit aus dem Umstand, dass es logisch unhintergehbar ist. Es repräsentiert eine elementare Bedingung menschlichen Denkens und Handelns, die ohne Selbstwidersprich weder bestritten noch ohne Voraussetzung ihrer selbst deduktiv begründet werden kann. Vielmehr macht es selbst die Grundlage allen Begründens und Rechtfertigens aus.
[17] Zu dieser Aufgabe siehe auch A. Kreiner, Naturalismus und Theismus, in: K. Thörner/M. Thurner (Hg.), Religion, Konfessionslosigkeit und Atheismus, Freiburg/Basel/Wien 2016, 33-48.
[18] Was sich wie eine verspätete Reklame für eine „Gott ist tot-Theologie“ anhören mag, weist zurück auf ein jedem Bibelkundigen bekanntes Experiment zur Frage, wer es verdient, in Wahrheit und in Wirklichkeit „Gott“ genannt zu werden. Im Neuen Testament wird die Geschichte von der „Versuchung Jesu“ (Mt 4,1-11) als Streit um ein Gottesverständnis erzählt, das mit den Kategorien der Notwendigkeit Gottes für den Menschen operiert. Im Zentrum steht die Frage, ob die Gottesbeziehung des Menschen nach der Logik eines Zweck/Mittel-Verhältnisses oder nach Kriterien der Nützlichkeit zu verstehen ist bzw. ob das Gottsein Gottes mit Zügen des Notwendenden, Macht- und Herrschaftsförmigen auszustatten ist. Beide Auffassungen werden ebenso abgewiesen wie die Vorstellung, dass Gott machtvoll in innerweltliche Abläufe eingreift (was notwendig wäre zur Behebung menschlicher Notlagen).
[19] Vgl. hierzu die instruktive Übersicht von M. Breul, Schöpfung, Paderborn 2023, 131-163.
[20] Wer in diese Debatte einsteigen möchte, findet ausführliche Positionsdarstellungen in: B. Nitsche (Hg.), Zwischen Theismus und Pantheismus. Historisch-systematische Skizzen zur Panentheismusfrage, Baden-Baden 2023.
[21] Siehe hierzu den informativen Überblick von F. Dierker, Gottes »Mit/Leidenschaft« im Werden der Welt. Zur Relevanz prozesstheologischer Ansätze für ein neues Denken über Gott und Schöpfung, Ostfildern 2022.
[22] Vgl. exemplarisch Th. J. Oord, Gottes Liebe zwingt nicht. Ein offener und relationaler Zugang zum Wirken Gottes in der Welt, Grasmere 2020.
[23] Vgl. hierzu etwa das Oeuvre von C. Keller, Political Theology of the Earth. Our Planetary Emergency and the Struggle for a New Public, New York 2018; Dies., Cloud of the Impossible. Negative Theology and Planetary Entanglement, New York 2015; Dies., Über das Geheimnis. Gott erkennen im Werden der Welt, Freiburg/Basel/Wien 2013.
[24] Vgl. auf dieser Linie J. Enxing, Und Gott sah, dass es schlecht war. Warum uns der christliche Glaube verpflichtet, die Schöpfung zu bewahren, München 2022.
[25] Vgl. G. M. Hoff/J. Knop (Hg.), Konstruierte Schöpfung. Ein theologisches Motiv auf dem Prüfstand, Freiburg/Basel/Wien 2024.
[26] Ch. Büchner, Leben – Erde – Kreativität. Säkularisate von Schöpfung in der Theologie oder: Profanierungsprozesse in der Spur christlichen Schöpfungsglaubens, in: G. M. Hoff/J. Knop (Hg.), Konstruierte Schöpfung, 176.
[27] Ebd., 196.
[28] Ebd., 197.
[29] Ebd., 197.
[30] Ebd., 197
[31] Zur existenz- und identitätsermöglichenden Bedeutung von Grenzen siehe auch G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik I (WW 5), Frankfurt 1979, 131-139.
[32] Zur Aufnahme dieses Potenzials im Theorieformat einer Relationalen Ontologie siehe ausführlich H.-J. Höhn, Gott – Offenbarung – Heilswege. Fundamentaltheologie, Würzburg 2011, 72-139; Ders., Gottes Wort – Gottes Zeichen. Systematische Theologie, Würzburg 2020, 165-206.
[33] Mit dieser Doppelaussage ist auch der Unterschied zu deistischen Konzepten eines Gott/Welt-Verhältnisses markiert: Die Welt ist stets und ausnahmslos unüberbietbar auf Gott bezogen. Damit ist ausgeschlossen, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt „ sich selbst überlassen“ bzw. „ohne“ Gott existieren könnte.
[34] Zu den daraus ableitbaren Folgen vgl. H.-J. Höhn, Ökologische Sozialethik. Grundlagen und Perspektiven, Paderborn 2001.
[35] Zu Erörterung der „Naturalisierungsresistenz“ dieser Grundfrage der Metaphysik siehe D. Schubbe u.a. (Hg.), Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Wandel und Variationen einer Frage, Hamburg 2013.
[36] Zu dieser Denkfigur siehe auch A. Langenfeld, Frei im Geist. Studien zum Begriff direkter Proportionalität in pneumatologischer Absicht, Innsbruck 2021.
[37] Für ein erstes Kennenlernen seiner Thesen zum Gott/Welt-Verhältnis siehe die Dokumentation seiner Position auf: https://www.forum-grenzfragen.de/author/oord/
[38] Th. J. Oord, Gottes Liebe zwingt nicht, 91f.