Meinrad Furrer ist seit einem Jahr Teamleiter der Peterskapelle in Luzern, die vor 5 Jahren als Citykirche neu eröffnet wurde. Er blickt zurück auf prägende Begegnungen und Erfahrungen.
Die Peterskapelle hat viel Potential, Spiritualität im urbanen Raum neu zu denken und zu erfahren. Doch die meisten urbanen Menschen übertreten die Kapellenschwelle kaum mehr.
In meiner Bilanz nach gut einem Jahr interessieren mich deshalb vor allem andere Räume.
eine theologische Grundentscheidung
Dank einer Freundin[1], die sich intensiv mit Pastoral im digitalen Raum beschäftigt, ist mir kürzlich eine theologische Grundentscheidung klar geworden, die wir oft vor- oder unbewusst fällen. Es ist eine Grundentscheidung, wie wir die Welt bewerten, in die hinein wir pastoral wirken möchten. Plakativ können wir zwei Grundvarianten unterscheiden. Entweder so: Die urbane Welt, die Kirchenfernen, die Tiktok User, die Konsumgesellschaft etc. etc. sind defizitär und wir bringen der bösen Welt den guten Gott. Dann sind wir die, die sagen, was gut ist. Oder so: Wir gestehen dem Geist zu, dass er weht, wo er will und zwar auch dort, wo ich nicht will. Dann sind wir nicht nur die, die lehren und helfen und unsere Glaubenserfahrung und Tradition einbringen, sondern die, die hören und lernen. Dann trauen wir der uns fremden urbanen Welt viel Heilsames zu und uns viel Ratlosigkeit und Verletzlichkeit.
… dass wir zu wenig wirklich leben an den Orten, die uns verdächtig vorkommen.
Wenn ich kurz innehalte, merke ich, dass ich beides kenne. Oft vorbewusst eben – und drum ungebremst wirksam. Und ich nehme bei mir und in meinem Umfeld wahr, dass wir uns immer noch zu oft auf der guten Seite fühlen. Und das bringt uns dann in die Position, dass wir Angebote machen für die da draussen (und oft staunen, wie wenige das interessiert), dass wir zu wenig wirklich leben an den Orten, die uns verdächtig vorkommen. Oder die wir schlicht nicht kennen.
Ich plädiere dafür, auf den urbanen Raum viel weniger mit dem Defizit-Blick zu schauen und stattdessen viel mehr mit dem Ressourcenblick. Dem neugierigen Blick, was es für mich zu lernen und zu entdecken gibt. Und es geht dabei nicht mehr darum, dass ich irgendein Wissen oder eine Lehre zum Ausdruck bringe, sondern dass ich mich selber einbringe.
Zwei Räume: die queere Community und Social Media
In meinem ersten Jahr in Luzern waren es unter anderem zwei Räume, die ich bewusst erlebt und bespielt habe: die queere Community und Social Media.
Die queere Community und ihre Fragen gehören offensichtlich zu jenen Zeichen der Zeit, auf die wir als Citypastoral Antworten schaffen müssen. Aber eben, wir schaffen sie nicht allein, sondern nur im Dialog. Wir erreichen die meisten zum Beispiel nicht mehr, wenn wir queere Gottesdienste anbieten. Das Format ist für einige wenige sehr heilsam, ich liebe es, aber es erreicht viele nicht mehr. Ich weiss nicht mehr, was es braucht und das ist gut so. Aber es ist nicht einfach, dies auszuhalten. Ich habe viele Ideen, aber es geht nicht darum. Deshalb gehe ich in Luzern regelmässig an einen queeren Stamm, genannt Queerbad. Ich bin Teil des OKs der Pride Zentralschweiz, obwohl das meiste mich dort nicht wirklich betrifft. Aber ich höre viel zu.
mit einem Kirchenstand am Pridefestival
Und wir waren mit einem Kirchenstand kürzlich am Pridefestival. Ich habe noch selten an einem Anlass so viele interessierte, fragende, debattierende Gespräche geführt. Interessant war auch unsere Nachbarschaft. Unser Stand befand sich zwischen den Grünen der Stadt Luzern (sehr anschlussfähig) und dem BDSM[2]-Stand (weniger anschlussfähig). Doch gerade die Gespräche mit ihnen waren sehr aufschlussreich und lehrreich. Ich habe gemerkt, dass es in ihren Kreisen eine Kultur des Einverständnisses in sexuelle Handlungen gibt, die sehr selbstverständlich und differenziert ist. Da könnte die Mehrheitsgesellschaft viel lernen und auch wir pastoralen Menschen könnten im Umgang mit Beziehungen und Sexualität sprachfähiger werden.
Ich war an diesem Tag auch sehr berührt von vielen jungen queeren Menschen, die ganz neu nach Sinn und Freiheit und Verantwortung fragen. Wir haben das Potential dieser Menschen in den Kirchen verloren. Und sie kommen auch nicht mehr zurück in unsere alten Formen. Wir können nur demütig bitten, ob wir mit ihnen im Gespräch bleiben dürfen, um neu zu entdecken, was das Christliche in unserer Kultur morgen sein könnte.
die Entstehung der Queer-Bibel
Interessant war in der Prideweek auch die Überlappung der Sozialräume «queere Community» und «Social Media». Wir werkelten in der Pride-Woche an einer queeren Bibel. Wir haben dabei auf Social Media ein Crowdfunding von Texten und Ideen gemacht. Es gelang uns, die Entstehung der Queer-Bibel bildhaft in den Social Media-Kanälen der Pride zu zeigen. Am Festival kamen mehrmals Leute an den Stand und riefen aus: «Da ist sie ja» und zeigten auf die Bibel und schon waren wir in ein Gespräch verwickelt.
lernen, auf Social Media ins Gespräch zu kommen
So sind wir beim zweiten Raum. Wir als Team der Peterskapelle sind noch ziemlich am Anfang mit Social Media[3]. Und es ist noch nicht so lange her, dass wir begriffen haben, dass Social Media kein Ort ist, in dem wir unsere Anlässe bewerben und dokumentieren. Das ist alte Schule, die von unseren Anlässen her denkt. Wir fangen an zu begreifen, dass es tatsächlich ein Sozialraum ist, in dem Menschen leben. Cyberspace eben. Insta ist ein Wohnzimmer. Wir lassen uns dabei weiterbilden und holen auch junge Profis, die uns unterstützen. Es geht darum, dass wir lernen, auf Social Media ins Gespräch zu kommen, uns als Personen zu zeigen, erlebbar zu sein und selber zu lernen. Das Paradigma ist also nicht mehr: Die Kirche hat eine Botschaft, und die Leute haben sie zu empfangen. Sondern: Das Paradigma ist tatsächlich ein zwar virtuelles, aber doch gemeinsames Durchs-Leben-Gehen. Mir gefällt es auch, dass es etwas sehr Spielerisches, Leichtes hat. Und ein ganz wichtiger Aspekt dieser Arbeit ist es, dass wir auf Social Media viel mehr sehen, was Menschen wirklich beschäftigt.
Kirche wird vielfältiger und dialogischer.
Das hat grosse Vorteile. Kirche, die sich in diesen Raum wagt, wird viel vielfältiger und dialogischer. Und sie wird unabhängiger von fixen Zeiten, die nicht mehr in das Lebenskonzept vieler urbaner Menschen passen.
Ich habe dabei viel gelernt vom Zoom-Gottesdienst Brot&Liebe. Dort vermischen sich analoges und digitales Wohnzimmer. Ich habe gemerkt, dass diese Form viele Vorteile gegenüber einem analogen Gottesdienst hat. Der Zeitpunkt am Sonntagabend ohne den Aufwand des Anreisens scheint gut in das Zeitmanagement jüngerer urbaner Menschen zu passen. Die Möglichkeit, das eigene Gesicht zu zeigen oder auch nicht, eröffnet eine grosse Freiheit. Chat und andere Reaktionstools schaffen eine viel grössere Möglichkeit von direkter Reaktion und Austausch. Das Format lebt von Storytelling. Die Liturg:innen werden in Geschichten als Persönlichkeiten erlebbar. Durch das Online-Format können Leute teilnehmen, die Deutsch verstehen, wo auch immer sie leben.
Und wieder ist für dieses Format die Verknüpfung mit Social Media zentral. Die Gottesdienste werden über Instagram vorbereitet. Die Leute haben die Möglichkeit, sich schon in der Woche davor in das Thema einzuschwingen. Sie können Fragen beantworten. Die Antworten fliessen in die Gestaltung der Gottesdienste ein. Die Contents der Gottesdienste werden in der Woche drauf auf Insta wieder geteilt. So haben viel mehr Leute an Brot und Liebe teil als die paar Dutzend, die tatsächlich beim Zoom dabei sind.
Es gilt immer neu zu hinterfragen und zu lernen.
Kritisch frage ich allerdings, wie divers dieses Format ist. Ich schätze es so ein, dass die Mehrheit der Besucher:innen immer noch relativ kirchennah ist. Es gilt immer neu zu hinterfragen und zu lernen. Lassen wir wirklich die Erfahrung der Menschen, wie sie auch sei, an uns heran, in unsere Räume hinein? Lassen wir uns wirklich auf einen Resonanzraum ein, der auch uns verändern kann? Ich nehme bei mir und bei anderen wahr, wie Routinen und das Gewohnte uns oft daran hindern. Ich jedenfalls möchte immer neu überraschende Räume miteröffnen, in denen plötzlich unverhofft tiefere Schichten des Lebens sich zeigen.
Meinrad Furrer, *1965, ist in Beromünster/LU aufgewachsen. Nach seinem Theologiestudium in Luzern und Paris suchte er seinen Weg durch verschiedenste Beschäftigungen als Lehrer, Betreuer und auch mit künstlerischen Projekten als Sänger. Mehr als 20 Jahre arbeite er in Projekten der Zürcher Kirchen. Dabei entstand ein Schwerpunkt mit queeren Themen, wobei er mit öffentlichen Segnungen von queeren Paaren bekannt wurde. Seit Sommer 2022 wirkt er als Leiter Team Peterskapelle in Luzern.
Porträtfoto: Andreas Rosar
[1] Romina Monferrini führt auf https://www.instagram.com/rominamonferrini/ ihren persönlichen Blog.
[2] Sammelbezeichnung für eine Gruppe von Sexualpräferenzen. Das Akronym umfasst eine Gruppe von sexuellen oder sexualisierten Verhaltensweisen, die unter anderem mit Dominanz und Unterwerfung, spielerischer Bestrafung sowie Lustschmerz oder Fesselspielen in Zusammenhang stehen
[3] Das Team der Peterskapelle ist auf https://www.instagram.com/peterskapelle/ und https://www.facebook.com/peterskapelleluzern/ präsent.