Projekt „Fair-Teilen“ – und die Erfahrung einer anderen Art von Gemeinschaftsbildung. Anna-Lena Passior über die Rede von einer „offenen Kirche“ – und die Erfahrung geschlossener (kirchlicher) Räume.
Eine Kirche soll geschlossen werden, das ist nicht nur in der Diaspora Norddeutschlands für viele Menschen eine traurige Realität. Doch waren die Kirchen jemals richtig geöffnet?
Vielen Verantwortlichen in den Gemeinden ist die Gewalt, die Macht über „ihre“ Räumlichkeiten wichtig. Doch anstatt sie zum Positiven zu nutzen, schmeißen sie anderen Menschen oft die Türen vor der Nase zu und verhängen große Schilder mit „TÜR BITTE IMMER SCHLIEßEN!“. Macht impliziert hier nicht nur die Möglichkeit zu machen, sondern auch vor allem die „Macht über“. Für mich zeigt sich hier eine ekklesiale Unkultur: da gibt es viel Angst vor Unordnung. Da gibt es die Angst der Ergrauten, die ihre Ordnungsmacht fortführen wollen. Da wollen ein paar wenige steuern, wer wo was machen darf und für wen sich was gehört. Da interessiert nicht, was möglich wäre und aufbrechen könnte. Da interessiert nicht, was einer oder eine könnte. Da werden Eigentumslogik und Hierarchien nicht kritisch reflektiert und erst recht nicht abgebaut. Es ist der bauliche Ausdruck einer kirchlichen Praxis, die Rainer Bucher als „Zulassungsdiskurse“ bezeichnet.
Wem gehören die kirchlichen Räume?
Bewusst oder unbewusst, reflektiert oder unreflektiert ist sie da – die Frage, wem die kirchlichen Räume gehören und ob sie geschlossene oder offene Räume sind. Dass viele Menschen die Räume der (katholischen) Kirchen als geschlossene Räume wahrnehmen, scheint nicht allen aufzufallen und auch nicht alle zu stören.
Die Gemeinderäumlichkeiten sind nicht auf dem Stadtplan eingezeichnet, Mails mit der Frage nach Wegbeschreibungen sind nicht selten und Kreidepfeile müssen den Weg zum Eingang zeigen – Indizien für die Geschlossenheit, Unbekanntheit, Exklusivität und vielleicht auch daraus entstehende Bedeutungslosigkeit kirchlicher Räume. Es sind Räume, die entzogen sind und deshalb „friedlich, höflich und friedhöflich“[1] sind.
Utopien lassen eine Weite entstehen und sind schon jetzt an sogenannten Anders-Orten zu erfahren.
Doch an manchen Orten schimmert sie auf, die Utopie offener Kirchen. In Utopien zeigen sich Sehnsüchte und der Wunsch nach Veränderungen. Die Utopien bieten keine Lösungen, aber sie werfen gute, oft störende Fragen auf. Radikale Ideen und Utopien sind von vielen in der Kirche nicht gerne gesehen, weil sie die Ordnung, Kontrolle und die „Das war schon immer so“-Rede stören. Trotzdem sind sie da. Utopien lassen eine Weite entstehen und sind schon im Jetzt an sogenannten Anders-Orten zu erfahren. Anders-Orte durchbrechen und weiten die Selbstverständlichkeiten einer Gesellschaft.
Der Anders-Ort „Fair-Teiler“
Ein Beispiel für einen geöffneten kirchlichen Raum ist für mich der Fair-Teiler in einer norddeutschen Kirchengemeinde. Ein Fair-Teiler ist ein Ort zum Tausch von Lebensmitteln in Kooperation mit der transkapitalistischen Initiative foodsharing. Als Anders-Ort durchbricht der Fair-Teiler die Normalität der Wegwerfgesellschaft, in der nur in Deutschland 11 Millionen Tonnen Lebensmitteln im Jahr weggeworfen werden.[2] Der Fair-Teiler durchbricht die Selbstverständlichkeit, Lebensmittel nur für eine Gegenleistung zu bekommen und er fordert Menschen dazu heraus, über ihren Konsum nachzudenken. Die foodsaver*innen weiten ihren Blick vom eigenen Konsum auf die allgemeine Lebensmittelverschwendung. Sie holen abgelaufene Lebensmittel, runzlige Äpfel und braune Bananen bei den Betrieben ab und bringen sie zum fair-teilen in die Regale und den Kühlschrank nach St. Josef. Menschen bringen ungenutzte und ungeliebte Lebensmittel zum Fair-Teiler, damit sich jemand anders daran erfreuen kann und sie so nicht in der Tonne landen.
Aus Fremden entsteht Gemeinschaft
Das alles passiert ohne Geld, ohne die Erwartung einer Gegenleistung. Solidarisch stehen die Menschen gemeinsam hinter der Utopie einer Welt ohne Lebensmittelverschwendung. In St. Josef wandelt sich ein geschlossener Raum zu einem offenen Raum, ein leerer, ungenutzter Durchgangsraum wird zu einem belebten Mittelpunkt für eine solidarische, nachhaltige Gemeinschaft. Hier öffnet sich die bürgerliche Milieuverengung der Kirchengemeinde. Alle sind hier willkommen: die Schulkassen aus der benachbarten Berufsschule, Menschen aus der gegenüberliegenden Wärmestube, Senior*innen aus dem ins Gemeindehaus integrierten Altenheim, Klimaaktivist*innen, Veganer*innen, Großfamilien und Alleinstehende. Und die oft fremden Menschen tauschen Dosen mit Kuchen aus und legen Weihnachts- und Grußkarten in den Fair-Teiler – aus Fremden entsteht eine Gemeinschaft im Lebensmittelretten.
Angst vor Offenheit und Unordnung
Doch auch die Idee des „Fair-Teilers“ musste sich durch eine Kultur der Verhinderung und einen unschönen Zulassungsdiskurs kämpfen. Schließlich wisse man nicht, welche Menschen den Fair-Teiler nutzen würden − man hätte keine Kontrolle. Eine Angst vor Offenheit und Unordnung zeigt sich in absurden Fragen und „was ist wenn“-Diskussionen. Was ist, wenn Menschen vielleicht vor dem Fair-Teiler eine Party feiern würden? Was ist, wenn die Kommunionkinder den Salat aus dem Fair-Teiler im Saal verteilen? Was ist, wenn Toiletten häufiger gereinigt werden müssen? Was ist, wenn eine lebendige Nutzung von Räumen Arbeit verursacht? Was ist, wenn die ersehnte Lebendigkeit in kirchlichen Räumen sich als lästig, laut, schmutzig, aufwändig erweist?
Die Fragen erscheinen noch abstruser, wenn klar wird, welche Gebäude hier vor Unordnung geschützt werden sollen. Wer kennt sie nicht, die oft schlecht gepflegten Gemeinderäume der 1970er-Jahre? Die meisten kirchlichen Gebäude sind renovierungsbedürftig, ästhetisch nicht ansprechend, vollgestopft mit den Resten von Haushaltsauflösungen und Erinnerungen an die „guten alten Zeiten“. Doch dies sind nicht die Gründe, warum die Nutzung der Räume oft lückenhaft ist. Viele Menschen würden gerne die Räume nutzen und mitgestalten.
Ein neuer Begegnungsort entsteht
Trotz der Abers und aller „was ist wenn…“ stimmen die Verantwortlichen in einer Gemeinde dem Projekt zu. Und es wird schnell deutlich, dass hier nicht nur ein Kühlschrank und zwei Regale eine Unterkunft gesucht haben, sondern dass hinter dem „Fair-Teiler“ Menschen stehen. Schnell versammeln sich hier ganz unterschiedliche Menschen und ein neuer Begegnungsort entsteht.
Schon einige Tage nachdem im Vorraum des Gemeindehauses der Fair-Teiler eingerichtet wurde, klebt auf einmal ein großes, orangenes Plakat an der Tür, auf dem in Großbuchstaben geschrieben steht: „DIESE TÜR IMMER ABSCHLIEßEN!“ Plakate sind eine in kirchlichen Kontexten gerne und bewusst genutzte Kommunikationsform, die eine direkte Konfrontation umgeht. In dem Plakat wird die Kultur der Verhinderung und Abschottung weitergeführt. Auf die Entscheidung der Öffnung folgt doch wieder die Einsicht, dass die Türen immer abzuschließen sind. Das Plakat zeugt von einem Misstrauen gegenüber Zeitgenoss*innen, gegenüber denen, die nicht jeden Sonntag im Gottesdienst sind, die keine katholische Taufurkunde haben.
Was bringt eine offene Kirche vor Ort?
Angesichts dieser Wahrnehmung kommt die Frage auf: Was bringt es der Stadt, dass es vor Ort eine Kirche gibt? Eine Frage, die auch die Lokale Kirchenentwicklung stellt. Zeigt sich nicht auch hier die Kraft von Utopien, indem sie wegweisende Fragen aufwerfen? Lokale Kirchenentwicklung redet auch von offenen Kirchen, geöffnet für Ökumene, für die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen, für partizipative Strukturen und gemeinsame Verantwortung, für die Vielfalt der Spiritualität und für den Sozialraum. Doch wo wird diese Theorie Praxis, wo bricht Kirche aus den binnenkirchlichen Strukturen aus, wo weiß sich Kirche in die Welt gesandt?
Nicht nur die foodsaver*innen suchen heutzutage Räume für ihren Einsatz zur Bewahrung der Schöpfung und für eine solidarische Gesellschaft, sondern auch viele weitere transkapitalistische, gemeinwohlorientierte Bewegungen. So klopfen Initiativen und Gruppen, wie „Omas gegen Rechts“, „Transition Town“, „Viva con aqua“ oder „Together for future“ an den Kirchentüren an. Denn gerade im ländlichen Bereich und in Kleinstädten fehlen offene Räume, Räume, in denen man nicht konsumieren muss, wo alle willkommen sind. Wie schön wäre es, wenn diese Menschen, die auf anonyme Weise das Evangelium leben, die kirchlichen Räume als offene Räume wahrnehmen könnten, die dem Gemeinwohl dienen und in denen jede*r willkommen ist.
Wie Kirchen mit ihren Gebäuden umgehen, sagt viel über ihr Kirchenbild und ihr Gottesbild aus.
In allem sind das große, orangefarbene Schild „DIE RÄUME SIND IMMER ABZUSCHLIEßEN!“ und der Fair-Teiler als geöffneter kirchlicher Raum wohl Metaphern für zwei unterschiedliche Kirchenverständnisse. Wie Kirchen und Gemeinden mit den kirchlichen Gebäuden umgehen, sagt viel über ihr Kirchenbild aus und über den Gott, an den sie glauben und von dem sie reden.
Ich plädiere für mehr Mut zu Utopien, zur Öffnung visionärer Freiräume, zur Umsetzung von prophetischen Ideen, die über heutige Handlungsformen hinausweisen. Der Weg zu offenen Räumen verlässt die Wege zentraler Kontrolle und Steuerung. Und in unserer heutigen Gesellschaft verlässt der Weg zu offenen Räumen damit auch den Weg des Main-Stream, also der gesellschaftlich anerkannten Norm. Ich möchte in einer offenen, träumenden und lebendigen Kirche arbeiten. Das Utopien-Schmieden ist ein Teil davon. So erklärt der Philosoph Bertrand Russell: „Unser Ziel sollte nicht ein vollkommenes Utopia sein, sondern eine Welt, in der Phantasie und Hoffnung lebendig sind.“[3]
Autorin: Anna-Lena Passior ist Religionspädagogin und arbeitet als Gemeindeassistentin in der Diözese Hildesheim.
Foto: Ben Hershey / unsplash.com
[1] EBERTZ, Michael: Wider den Wohn-Terrotorialismus, Replik auf „Plädoyer für die Verörtlichung des Glaubens“, in: LS 55 (2004), 16-17, 17.
[2] Vgl. Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft
[3] RUSSELL, Bertrand: Philosophy and politics (1947), 14.