Erzählung von Daniela Feichtinger in neun Folgen.
Immer dienstags und donnerstags im August auf feinschwarz.
Zweiter Tag
Am nächsten Morgen duschte Nathanael, denn er hatte die Nacht im Fieber zugebracht – der Pyjama, den Elma ihm angezogen hatte, klebte feucht und kalt auf seiner Haut. Da seine eigene Kleidung, mit der man ihn hereingeschafft hatte, von Elma gewaschen und getrocknet wurde, gab man ihm einen schwarzen Pullover und die nie getragene, in guter Absicht gekaufte Jogginghose seines Gastgebers mit ins Bad.
Es war seltsam, einen Fremden im Haus zu haben. Ungewohnt. Der Professor ertappte sich dabei, wie er stets in Richtung der offenen Tür spähte, vom Wohnzimmer hinaus in den Vorraum, um zu sehen, ob Nathanael vorüberging. Jede Regung des jungen Mannes beobachtete und hinterfragte er, auch die Art, in der dieser ihn ansah: als sei er seinem Urteil, unterworfen. In den stillsten Momenten meinte er gar zu hören, wie sich der Mann im Gästezimmer unter der Bettdecke rührte.
Als Nathanael schließlich kurz einen Blick in das Wohnzimmer geworfen hatte, um zu grüßen, und frisch geduscht wieder in sein Kämmerchen zurückgegangen war, sprach Elma aus, was auch der Professor bemerkt hatte. „Seltsam!“, sagte sie tief einatmend. Tatsächlich verströmte der Fremde auf seinem Weg durch das Haus ein Odeur, wie es der Professor weder an sich noch an Elma jemals bemerkt hatte, obgleich sie dieselben Produkte verwendet haben mussten. Fortan flutete der Mann jedes Zimmer, das er betrat, mit dieser seltsamen Woge frischer Luft.
***
Am Abend jenes Tages, den der Fremde mit Ausnahme seines kurzen Besuchs des Bades im Bett verbrachte, nieste Elma bereits heftig: Sie habe sich wohl angesteckt, meinte sie lachend. Auch der Professor spürte, wenngleich er es nicht zugab, sein Gesicht besorgniserregend glühen. Er wollte nicht krank werden; nicht dieses Mannes wegen, den er notgedrungen beherbergte. Außerdem musste er arbeiten. Bücher schrieben sich nicht von selbst.
***
Er saß nun gerade eine halbe Stunde im Schein seiner Schreibtischlampe konzentriert bei der Arbeit, als Nathanael an der offenen Tür klopfte und fragte, ob er störe. Der Professor verneinte, aus selbst für ihn unerfindlichen Gründen, wandte sich zu ihm und bat ihn, doch auf dem Sofa Platz zu nehmen.
Dort saß er nun, in dem schwarzen Pullover, der an ihm ganz anders aussah, ein Mann von siebenundzwanzig Jahren, mit Blick zur Glasfront, durch die man die tiefschwarze Winternacht sehen konnte. „Der Birnbaum da.“, sagte er, zeigte auf den wohl einst mächtigen, nun eher kümmerlich dürren, von Schnee geradezu erdrückten Baum. „Er erinnert mich an einen Birnbaum, den ich kenne.“
„Ein Freund von Ihnen?“ Der Professor war sarkastisch, denn er bereute, Nathanael nicht abgewiesen zu haben. Er bereute allerdings auch seinen Sarkasmus.
Der Jüngere lächelte. „Ja, ein Freund von mir. Der Birnbaum auf dem Walserfeld, gar nicht weit von hier. Sie kennen ihn doch, nicht? Sie leben an einem wirklich magischen Ort, Herr Professor.“, sagte er. „Der Baum in Ihrem Garten – er sieht aus, als hätte er schon ewig nicht mehr geblüht, geschweige denn Früchte getragen.“
Der Professor sah hinaus. Er seufzte – nicht über den Birnbaum. „Nein. Er war schon hier, als ich das Haus gekauft habe. Zumindest seitdem hat er kein Lebenszeichen von sich gegeben.“
Nathanael nickte. „Wenn er nun plötzlich blühte, Herr Professor – das wäre fatal. Das bedeutete Krieg.“ Er sah den Professor an, dann wieder hinaus zu dem Birnbaum, den das Licht schwach umriss, das durch die Glasfront nach draußen fiel. Dann hob er mit seiner eindringlichen, jedoch nicht lauten Stimme an: „Es geht die Sage, dass ein Zauber den Kaiser unter der Erde bannt, und er, sobald das Leben zurückkehrt in diese mageren Äste, mit seinem Heer emporsteigt, eine Schlacht zu schlagen, da die Menschen ihre Nächsten nicht mehr lieben. Vor allem die Reichen wird er zur Flucht zwingen oder ihre Leichen an den Baum hängen, damit sie ein jeder von weitem schon sehen kann: Mahnend werden sie im Wind wehen, unter dem schweren, grauen Himmel, der sich über das Feld spannt. Und der Herrscher des Nachbarlandes wird kommen, und bis zu den Knöcheln werden sie auf dieser Wiese in ihrem Blut stehen; so lange, bis des Kaisers Bart drei Mal um den runden Tisch reicht. Dann erst wird das hingemordete Volk auferstehen – unter dem Prinzen, dessen Name noch unbekannt ist.“
Er sah dem Professor in die Augen.
„Sie sind ein Geschichtenerzähler.“, sagte dieser achselzuckend.
„Das ist nicht dasselbe wie ein Lügner.“
„Ich habe nie–“
„Sie denken es.“, unterbrach Nathanael ihn. „Sie halten mich für einen Lügner, weil meine Identität nicht beweisbar ist. Sie brauchen Beweise, Genehmigungen, damit ja alles mit rechten Dingen zugeht. Die Gewissheit brauchen Sie.“
Der Professor schüttelte verständnislos den Kopf, wie über die Worte eines dummen Kindes. „Was ist falsch daran? Immerhin habe ich Sie hier in meinem Haus. Da wüsste ich nun einmal gerne, mit wem genau ich es zu tun habe.“
„Sie wissen es doch schon.“
Der Alte wollte gerade etwas erwidern, als Elma hereinkam.
„Guten Abend.“, sagte Sie. „Brauchen Sie noch etwas, Herr Professor, bevor ich mich niederlege?“
Er schüttelte den Kopf, winkte ab, wollte sich wieder dem Gespräch widmen.
„Und Sie, Nathanael?“, fragte die Haushälterin dennoch. „Soll ich Ihnen einen Tee machen?“
„Sie sind zu gut zu mir, Elma.“, meinte er dankend.
Ja, dachte der Professor. Ja, wir sind zu gut zu Ihnen.
„Nicht der Rede wert.“, sagte hingegen Elma mit unverbrüchlicher Herzlichkeit und ging in die Küche.
Nathanael schenkte dem Professor einen versöhnlichen Blick. „Wissen Sie“, fing er an. „Die Geschichte mit dem Birnbaum verstehe ich nicht. Man muss bedenken: Sie ist alt, sehr alt. Aus der Zeit, wo die Leute noch Ehrfurcht hatten. Dennoch: Weshalb sollte etwas Schreckliches geschehen, wenn dieser Birnbaum wieder blüht? Und wie soll ein langer Bart der Menschheit helfen, wenn es ihr an Liebe fehlt?“ Er lachte, ehe er verstummte. „Dürfte ich Sie um einen Stift und ein Stück Papier bitten? Ich möchte Ihnen ein Geschenk machen.“
Grummelnd schob der Alte seinen Notizblock zur Seite, fand einen Kugelschreiber und unter einem Stapel Bücher einen Zettel, den er nicht mehr brauchte.
„Dankeschön.“ Nathanael legte das Zettelchen vor sich auf den Couchtisch und schrieb etwas darauf. Dann reichte er es dem Professor. „Paul Kubica. Ein Freund von mir.“, sagte er. „Mein bester. Sie werden froh sein, mich und nicht ihn da draußen im Schnee gefunden zu haben.“
Der Professor sah sich die Telefonnummer an, die man ihm in kunstvoller Schrift notiert hatte. „Sie reden erstaunlich schlecht von Ihrem besten Freund.“
„Nein – ich habe ihn aufrichtig und von Herzen gern. Sie werden verstehen, was ich meine.“ Elma kam mit seinem Tee. Er nahm ihn dankend. Die Haushälterin verabschiedete sich. „Mehr Geschichten erzähle ich Ihnen aber erst morgen, Herr Professor.“, fuhr er fort, prüfte mit den Lippen vorsichtig die Hitze, nahm dann einen kleinen Schluck. „Hm… Kamille.“, nuschelte er. Dann lächelte er den Alten geheimnisvoll an. „Spielen Sie vielleicht Dame? Schach kann ich nämlich nicht. Aber bei einer Partie Dame wäre ich bereit, Ihrer Neugier entgegenzukommen.“
„Es ist keine Neugier.“, meinte der Professor nüchtern, obgleich sein Gast wissend lächelte. „Nein, wirklich nicht. Es ist nichts als mein gutes Recht, etwas über Sie zu erfahren.“
Nathanael nickte, trank die halbe Tasse leer. „Über einzelne Wörter werde ich nicht mit Ihnen streiten, Herr Professor. Aber über die Damepartie sind wir uns einig, nicht? Zeit und Ort bestimmen Sie.“
So waren sie für den nächsten Morgen, zehn Uhr fünfzehn, zum Damespiel an dem Tischchen an der Glasfront im Wohnzimmer verabredet. Der Professor wusste nicht, wie ihm geschah.
Fortsetzung folgt.
Bisher erschienen:
Daniela Feichtinger ist promovierte Alttestamentlerin und Autorin.
Photo: Craig McLachlan, unspash