Erzählung von Daniela Feichtinger in neun Folgen.
Immer dienstags und donnerstags im August auf feinschwarz.
Dritter Tag
Am nächsten Morgen bat der Professor Elma um eine der Tabletten, die sie auch Nathanael gegeben hatte, welcher nun auf wundersame Weise bereits von seiner beginnenden Grippe geheilt schien. Sie lächelte mitleidig, ehe sie sich schnäuzte und dem Professor ein Gläschen Wasser dazu brachte. „Er ist sehr robust.“, meinte sie. „Jung und gesund. Unsereins macht das mildeste Lüftchen krank. Brauchen nur einmal in der Zugluft sitzen, und es ist geschehen.“ Er nickte, in Gedanken weit fort. Seine Stirn glühte, jeder Atemzug war heiß und schmerzhaft in seiner Brust. Aber mehr war es eigentlich nicht – keine triefende Nase, kein Kopfschmerz, keine Müdigkeit. Nur verbrennendes Fieber.
Pünktlich um zehn Uhr fünfzehn saßen sie einander an dem kleinen Tischchen gegenüber. Für gewöhnlich hatte der Professor sein Schachbrett darauf platziert, schrieb oder las, da das Licht sehr günstig hereinfiel, doch nun hatte er das Damespiel aus einem Schrank geholt und es vor ihnen aufgebaut. Während er die Steine sortierte – man hatte sich wortlos darauf geeinigt, Nathanael die weißen zu geben – sah ihm sein Gast lächelnd zu.
„Nun?“, fragte er den Professor. „Haben Sie ihn schon angerufen?“
„Wen soll ich angerufen haben?“
„Na, meinen Freund, Paul Kubica. Damit er Ihnen bestätigt, er kenne diesen gewissen jungen Mann mit Namen Nathanael Gitschner.“
Der Professor schüttelte den Kopf und legte die Steine auf die schwarzen Felder. „Es ist schon in Ordnung.“
„Schade.“ Nathanael tippte mit den Fingern auf die Tischkante, musterte sie nachdenklich. „Sie hätten ihn kennenlernen sollen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich – aber vielleicht hätte er Ihnen gefallen.“ Er neigte den Kopf abwägend hin und her. „Na, ja. Eher nicht.“
Der Alte klatschte die letzten Steine auf die Platte, als hätte er das Spiel schon vor seinem Beginn satt. „Was ist so Schreckliches an Ihrem Freund?“, fragte er verständnislos. So von Freunden zu sprechen zeugte in seinen Augen nicht von großem Charakter.
Aber der Gast blieb seelenruhig. „Ich will es Ihnen erzählen.“, sprach er. „Kann das Spiel beginnen?“
***
Mein Freund Paul Kubica ist ein großer Mann. Ein Hüne, könnte man sagen, mit mächtigen Händen. Wie ich hat er ganz dunkles Haar; aber seine Augen sind bersteinfarben, seine Nase ist krumm, der Mund meist ernst verschlossen. Vielleicht fürchten ihn die Menschen seines Auftretens wegen so sehr: Weil er gern schwarze Lederjacken trägt, immer schlecht rasiert ist, und donnernden Schrittes auf sie zukommt. Weil seine Stimme, wenn er sie nutzt, ein Grollen ist. Man fürchtet ihn wie einen Mörder. Dabei macht er doch nur seinen Job.
Oder besser: Er hat ihn gemacht. Kubica war früher Schlächter. Aber das tägliche Abschlachten der armen Viecher hat er, wie er mir selbst erzählt hat, irgendwann nicht mehr ausgehalten. Selbst einen solchen Mann lässt das Töten nicht kalt. Gerade ihn nicht. Er hat ein gutes Herz, ein großes. So groß wie seine Pranken, mit denen er in seinem Leben noch keinem Menschen etwas zuleide getan hat.
Seine Großeltern kamen aus Polen. Aus Boguszów-Gorce. Das ist auch schon die ganze Geschichte: Denn weder der verbitterte Großvater, noch seine wahnsinnig gewordene Großmutter hat je etwas erzählt. Nur manchmal hat sie etwas gemurmelt von Schüssen und von Bomben und vom Himmel, der zusammengebrochen ist. Chaos, hat sie immer gejammert und geklagt, und Bilder von Trümmern haben meinen Freund bis in seine Kinderträume verfolgt. Stellen Sie sich das vor – ein dunkler Fleck in Ihrem Leben, ein solches Geheimnis, die Herkunft Ihrer Großeltern. Ich wüsste nicht, wie ich damit leben könnte. Paul hat es nie sehr bewegt. Oder zumindest weiß ich nichts davon.
Er hat zwei Geschwister – sie sind ganz anders als er. Die Schwester ist Richterin geworden, gleich mit Achtzehn hat sie einen reichen Industriellen geheiratet, der ihr dann das Studium bezahlt hat. Sein Bruder – sein Zwillingsbruder – er war Hypnotiseur. Unter anderem hat er versucht, den guten Paul von seinen Zigaretten loszubringen, den achtzig filterlosen, die er täglich raucht; das aber vergebens. Ich rauche nicht. Meine Gesundheit ist mir viel wert. Wie schrecklich, dabei zuzusehen, wie sich ein solches Talent wie Paul nach und nach ruiniert! Ein Genie, und dann raucht er sich zu Tode. An einem Abend habe ich mit so einem Glimmstängel herumgespielt, ihm wieder einmal eine Moralpredigt gehalten, da meinte er: Die Zigarette passt zu dir. – Und er hat ja recht! Sehen Sie – ich pflege seitdem, es mit Stiften zu tun. Ich rauche Stifte. Genau so. Nein, ich zünde sie nicht an. Aber ich halte sie so… Das wirkt… intellektuell, nicht?
Wo war ich stehen geblieben? Genau. Viele andere Menschen haben, so heißt es, profitiert von den Methoden seines Bruders, dem großen Hypnotiseur. Einmal ist ihm angeblich ein Patient entwischt, der furchtbare Angst vor Hunden hatte und dem er deshalb eingeredet hat, er sei selbst ein Hund. Hechelnd ist er auf allen Vieren zur Tür hinaus, bevor er schnippen konnte, und ward nicht mehr gesehen. Die Familie wollte Kubicas Bruder verklagen, aber irgendwie gab es dafür keinen Rechtspassus. Von Tierphobien hat er sich danach zumindest distanziert.
Warum ich gesagt habe, er war Hypnotiseur? Er ist nicht tot. Aber am Leben auch nicht wirklich. Seit Jahren liegt er im Koma und man lässt ihn nicht sterben. Er hatte einen ganz furchtbaren Unfall, als er von einer Talkshow nach Hause gefahren ist, in der er das ganze Publikum hypnotisiert hat. Er war öfters in diesen Talkshows, auch weil er einen guten Draht zu den Toten hatte. Ein großer Seelentröster war er. Hat die Menschen verstanden.
Wie ich sagte: Paul hat das Schlachten aufgegeben. Er ist dann seiner Passion nachgegangen, dem Zeichnen. Sympathischer hat ihn das aber auch nicht gemacht. Ich lernte ihn kennen, als er in der Bibliothek saß, in dem alten Interieur mit dem schönen Holz und den majestätisch hohen Bücherregalen, in denen ich so gern nach Geschichten stöbere. Er saß an einem der massiven Tische und kritzelte – zumindest sah es von weitem so aus – mit einem billigen, giftgrünen Fineliner auf einem Notizblock herum. Aus Neugierde trat ich näher, und da ich mich in meiner Faszination nicht zurückhalten konnte, kamen wir ins Gespräch.
Heute sind wir Partner, kann man sagen. Es sind oft meine Geschichten und seine Zeichnungen, die zusammen das Großartigste ergeben, was je auf Comicseiten abgedruckt wurde. Das ist keine Arroganz, Herr Professor. Aber Sie sind ja auch noch nie dem Zauber eines dieser Comics erlegen. Woher sollten Sie also wissen, wie viel Magie, wie viel fantastische Gedanken in ihnen in Bild und Wort gebannt sind? Wir leben gut mit unserer Liebe zum Geschichtenerzählen. Und wir sind beide Vagabunden.
Deshalb sind wir zum Beispiel nach Mexiko geflogen. Wie wir uns das leisten konnten? Und wie viel das gekostet hat? Das ist aber nicht österreichisch, so nach dem Einkommen zu fragen. Sie haben direkt nordamerikanische Züge an sich, Herr Professor. Über Geld spricht man nicht, heißt es hier. Hat’s keinen Preis, hat’s keinen Wert, heißt es dort. Sie dürfen nicht glauben, wir seien arme Leute. Unsere Comics verkaufen sich gut, die Menschen scharen sich um mich, wenn ich erzähle, ganz gleich, wo. Und wenn Sie nach Mexiko wollen, und auch wieder zurück, brauchen Sie nur die Flugtickets zu zahlen. Dort können Sie sich schon irgendwie durchschlagen.
Die Mexikaner haben Paul geliebt. Wir waren einige Zeit lang in einem Dorf – es war Festzeit, als wir ankamen, Tag der Toten. Die Einheimischen haben uns eingeladen, uns verköstigt, sie haben mit uns getanzt und gesungen. Auch mit Paul, ja – vor allem mit ihm. Sie konnten ihn ein wenig aus der Reserve locken mit ihrer aufgeschlossenen Art. Er hat die Lieder mitgegrölt in seinem Bass, obwohl er nicht Spanisch konnte zu der Zeit. Noch heute spricht er geschmeichelt und ehrfürchtig von den gastfreundlichen Mexikanern. Er hat sich in ihrem schönen Land verstanden gefühlt.
Mich musste man nicht erst überreden, mit ihnen Feste zu feiern. Ich bin sehr gesellig – aber das ist Ihnen sicherlich schon aufgefallen. Die Mexikaner haben mich ausgefragt über österreichische Sagen; und ich habe dann im Gegenzug ein Geschichtchen von ihnen verlangt. Ein Alter mit dunkelbrauner Haut und einem kaputten Kreuz hat mir schließlich eine erzählt. Sie gehört zu meinen liebsten.
Einst lebten ein Vater und eine Mutter mit ihren drei Söhnen in einer schäbigen Hütte. Da die Familie sehr arm war, und sie hier keine Zukunft für sich sahen, zogen die drei, kaum waren sie junge Männer geworden, in die weite Welt hinaus. Jeder nahm dabei seinen ganz eigenen Weg, aber zweien brachte das kein Glück. Denn obwohl sie viel verdienten, gaben sie alles aus, noch ehe sie wieder zu den Eltern zurückgekehrt waren. Nur der Dritte, der Jüngste, häufte einen kleinen Reichtum an, auf den er auch sehr stolz war. Auf dem Weg zurück nach Hause traf er seine beiden Brüder. Diese fragten ihn, ob er denn etwas verdient hätte, und da er ihnen glückstrahlend seine Goldmünzen zeigte, schlugen sie ihn tot und verscharrten ihn in der Erde. Den Eltern aber erzählten sie, der arme Bruder sei gestorben. Sie waren unendlich traurig.
Nun wuchs aber an der Stelle, wo er begraben lag, eine Blume. Eines Tages kam ein Indio an ihr vorbei – sie stand da, ganz einsam, und fiel ihm deshalb auf. Er pflückte sie und blies in ihre bauschige Blüte. Da sang sie ihm plötzlich ein Lied und stellte sich ihm als einer vor, den seine Brüder getötet hatten.
Der Indio erschrak und brachte die wundersame Blume seiner Frau, die es ebenso versuchte und blies. Auch ihr sang die Blume das gleiche Lied. Und als sie die Blume dem Vater des Verstorbenen gaben, mit dem auch sie verwandt waren, tat er es ihnen gleich, und die Blume sang. Zuletzt sollte noch die Mutter dieses merkwürdige Spielchen versuchen, und abermals sang die Blume vom Mord durch die Brüder. Nun wollten die Eltern von dem Indio wissen, wo er die Blume denn gefunden hätte, und er brachte sie zu der Stelle. Sie brauchten nicht lange in der Erde zu graben, um den Bruder, ihr jüngstes Kind, lebendig zu finden.
Fortsetzung folgt.
Daniela Feichtinger ist promovierte Alttestamentlerin und Autorin.
Photo: Craig McLachlan, unsplash