Erzählung von Daniela Feichtinger in neun Folgen.
Immer dienstags und donnerstags im August auf feinschwarz.
Nathanael schlug die Dame des Professors und nahm dessen letzten Spielstein vom Feld. „Wie oft haben Sie jetzt schon verloren, Herr Professor?“ Er lächelte. „Drei-, viermal?“
Der Professor nahm die Spielsteine und packte sie in die Schachtel. „Das ist nichts, wenn Sie dauernd reden. Da kann man nicht spielen.“
„Das will ich wohl hoffen!“, sagte Nathanael triumphierend. „Ich messe gern meine Erzählerqualitäten anhand eines kleinen Spiels. Nun – hat Ihnen die Geschichte gefallen?“
Der Alte schob die Schachtel beiseite, lehnte sich zurück und ließ seine Hände auf der Tischplatte ruhen. „Es war ein Märchen, nicht besser und nicht schlechter als die zahlreichen anderen Märchen, die ich kenne.“
Nathanael sah sich suchend um. „Sie kennen viele Geschichten, nicht wahr? Gestern Abend sah es aus, als studierten Sie Homers Ilias.“ Er deutete mit dem Kinn auf das alte, abgegriffene Buch auf dem Schreibtisch unweit von ihnen.
„Ich schreibe ein Buch über Sagen und Mythen. Ich war Professor für Religionswissenschaften an der Universität.“
„Ah ja?“ Der Blauäugige nickte anerkennend. „Haben Sie Enkel, Herr Professor? Nein? Nehmen wir an, Sie hätten Enkel. Würden Sie ihnen die Geschichten erzählen, die Sie kennen? Die griechischen Mythen zum Beispiel?“
Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein.“, meinte er. „Warum sollte ich die Kinder mit diesen Erzählungen beglücken? Außerdem wäre ich nicht die Art Großvater, mit dem Enkelchen auf dem Schoß und dem Märchenbuch in der Hand.“
Der Rabenschwarze sah ihn ernst an. Dann schüttelte er seufzend den Kopf und widmete sich einem anderen Thema. „Normalerweise verlange ich von jedem, mit dem ich mich anfreunde, eine Geschichte – die Meisten erzählen mir eine, die sie in ihrer Kindheit gehört haben und an die sie sich nur dumpf erinnern. Ihr Gesicht verändert sich, wenn sie zurückdenken; immer hängen so viele Erinnerungen und eigene Geschichten an dieser einen.“ Nathanael sah nachdenklich zur Seite. Er kratzte sich am Hals. „Eigentlich möchte ich auch von Ihnen eine kleine Erzählung hören.“, meinte er. „Aber ich weiß, Sie werden meiner Bitte nicht nachkommen, obwohl Sie geradezu eine Schatzkammer schöner Geschichten sein müssen.“
„Ich habe in der Tat nicht vor, den Märchenonkel für Sie zu spielen.“
Nathanael grinste. „Einen Witz werden Sie mir auch nicht erzählen, wie ich Sie kenne.“
Der Professor zog bloß eine Augenbraue hoch. Sein junger Gast lachte.
Der Alte blieb von alldem unbeeindruckt. Er verschränkte die Arme und sagte mit einem betont desinteressierten Seufzen: „Welche Geschichte hat Ihnen denn ihr furchtbarer bester Freund erzählt? Ich nehme an, Sie haben auch ihn um eine gebeten.“
Der Rabenschwarze lächelte schelmisch.
„Selbstverständlich habe ich ihn um eine gebeten. Und er hat mir auch eine erzählt. Eine, die besonders gut zu mir passt, wie er meint.“ Nathanael lehnte sich ein Stück weit vor, stützte sich mit den Armen auf den Tisch. Er sah den Professor an, einen tiefen Atemzug lang. „Es ist die Geschichte eines jungen Mannes. Achtzehn Jahre alt war er gerade einmal. Aber da er seine Eltern schon sehr früh verloren hatte, war er immerzu auf die Mildtätigkeit anderer Menschen angewiesen. Auch zu arbeiten hatte er nie gelernt, und es verlangte ihn auch nicht danach: Wenn er Hunger hatte, bettelte er ein Weilchen. Irgendwann einmal wollte ihm in seinem Heimatdorf niemand mehr etwas geben. Jeder hatte sich sein Geld hart erarbeiten müssen, und so sagte man ihm, er solle endlich beginnen, sich sein Brot ebenfalls selbst zu verdienen.
Aber er wollte nicht arbeiten und wanderte aus.
Auf seinem Weg kam er in ein finsteres Wäldchen, wo ihm ein edler Herr begegnete. Der sollte seinen Geldsorgen ein für alle Mal ein Ende setzen. Wohin er denn ginge, wollte der Edelmann wissen. Doch das konnte ihm der junge Mann auch nicht sagen; stattdessen klagte er ihm sein Leid. Da bot ihm der Herr an, ihm für seine Seele eine wundersame Geige zu geben. Und obwohl der junge Mann in dem Moment wusste, dass er es mit dem Teufel selbst zu tun hatte, nahm er das Angebot an.
In den fünfzig Jahren, die ihm von jenem Tag an gewährt waren, verdingte er sich als Geigenspieler, denn obwohl er nie gelernt hatte, sie zu spielen, erklangen unter seinem Bogenstrich die schönsten Melodien aus ihr. Schnell flogen die glücklichen, unbeschwerten Jahre dahin, bis er sich alt, aber noch lebenswillig, zurück in den Wald begeben musste, um seine Seele abzuliefern.
Auf dem Weg zu der Stelle, an der er dem Teufel einst begegnet war, traf er eine sehr schöne Frau. Sie fragte ihn: ‚Wohin des Weges?’ Und da er ihr von der schrecklichen Frist erzählte, die nun abgelaufen war, riet sie ihm, die Geige zu zerschmettern und dem Teufel ihre Seele zu geben. Das tat der listige Mann daraufhin auch und schlug so dem fluchenden Teufel ein Schnippchen.“
Nathanaels Augen leuchteten verschmitzt, als er den Professor von unten herauf ansah. „Die Geschichte eines hinterlistigen Taugenichts.“, sagte er. „Glauben Sie noch immer, ich werde Elma und Sie eines Nachts fesseln und knebeln und mit Ihren Wertsachen das Weite suchen?“
Er legte den Kopf schief. „Ehrlich gesagt – ja.“ Das Lächeln des Professors war seltsam arrogant. „Irgendwann werden Sie dieses Haus wieder verlassen, besser früher als später, und dann stehen Sie ohne Geld da. Von Ihrer sagenumwobenen Geige habe ich auch noch nichts gesehen.“
„Sie ist bei Paul.“
„Was tun Sie dann hier in der Gegend, wenn Sie doch eigentlich aus Graz kommen?“
„Ich bin hierhergefahren, mit dem Zug.“, sagte Nathanael. „Natürlich hatte ich auch meine Geldtasche eingesteckt. Die allerdings scheint man mir gestohlen zu haben, ehe man mich im Wald liegen ließ.“
„So haben Sie also endlich einen Verdacht, wer Sie angegriffen haben könnte? Einmal muss die Erinnerung schließlich zurückkommen.“
Nathanael schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe nicht die geringste Ahnung, geschweige denn klare Erinnerungen.“
„Aber es hat Sie doch jemand angegriffen, nicht?“
Der Rabenschwarze lachte. „Meinen Sie, ich sei vom Himmel gefallen und habe mir dabei die Nase blutig geschlagen?“ Er warf einen Blick auf die Uhr, sah dann wieder den Professor an. „Versprechen Sie mir etwas, Herr Professor?“
„Ich sehe zwar keinen Grund, Ihnen diesen Gefallen zu tun, aber sagen Sie erst einmal, worum es sich handelt.“
„Erzählen Sie meine Geschichten weiter. Und auch die Ihren. Und wenn es nur Elma ist, die sie hört.“ Er stand auf. „Wenn es Ihnen recht ist – ich würde mich gern bis zum Mittagessen zurückziehen. Mir ist nicht wohl.“
Der Professor schüttelte gleichgültig den Kopf. „Gehen Sie nur.“, sagte er, winkte ab. Noch als der junge Mann gegangen war, dachte er über dessen Worte nach. Er sah zu Zadok, der die ganze Zeit seelenruhig eingekringelt in seinem Korb geschlafen hatte. Er dachte an Elma. Niemand schien Nathanael zu misstrauen – aber er wollte sich nicht so leicht blenden lassen.
***
Es war Abend geworden. Der Professor saß mit dem Rücken zur Wohnzimmertür, doch er fühlte mit allen Sinnen, als Nathanael hereinkam.
„Was wollen Sie?“, fragte er ihn.
Wortlos trat der junge Mann näher; man sah ihm an, dass er über etwas reden wollte. Er nahm auf einem Holzstuhl neben ihm Platz.
„Es wird Zeit für mich, zu gehen.“, sagte er. „Morgen Früh am besten.“
Zadok horchte auf. Eiligen Schrittes trottete er zu Nathanael und warf sich ihm zu Füßen, blickte aus Knopfaugen zu ihm auf. Der Professor aber sah nur seinen Gast an.
„Wohin gehen Sie dann?“, fragte er. „Und mit wessen Geld?“
„Ich habe kein Geld. Noch nicht. Aber wenn ich in der Stadt bin, werde ich mir einen Anruf leisten können, von einer Telefonzelle aus. Und dann wird man mich abholen. Keine Sorge.“
Die beiden Männer sagten nichts. Der jüngere sah sich um, sah den Hund an, der schon wieder eingeschlafen schien. Sein Fell war noch feucht von dem Spaziergang, den der Professor mit ihm unternommen hatte. Die kleine Uhr auf der Kommode tickte sehr laut für ihre Größe. Der Boden wölbte sich.
„Mir ist schwindelig.“, stellte er fest.
„Dann bleiben Sie noch.“
Beide erschraken ob der Plötzlichkeit dieses Satzes. Er klang lang nach.
Der Professor suchte nach Worten; aber jedes weitere schien es nur schwieriger zu machen. Also schwieg er, wartete, ob sich im Gesicht des jungen Mannes etwas regte. Seine Augen leuchteten kurz auf, doch der Alte konnte es nicht deuten. Sein Mund blieb still.
„Danke.“, sagte er schließlich, zum ersten Mal ehrfürchtig.
Er wartete noch eine Weile. Dann wünschte er dem Professor eine gute Nacht und ging.
Fortsetzung folgt.
Daniela Feichtinger ist promovierte Alttestamentlerin und Autorin.
Photo: Craig McLachlan, unsplash