Erzählung von Daniela Feichtinger in neun Folgen.
Immer dienstags und donnerstags im August auf feinschwarz.
Am Abend saßen sie meistens im Wohnzimmer. Der Fernseher – ein teurer mit großem Plasmabildschirm – blieb immer ausgeschaltet. Darüber unterhielten sie sich auch nie, obwohl Nathanael über beinah alles einmal sprach, was ihm in dem Haus ins Auge stach.
„Mögen sie Musik?“, fragte er diesmal. Er saß weit zurückgelehnt auf einem der zwei cremefarbenen Polstersessel, als wohnte er bereits hier.
„Nein.“, hielt sich der Professor kurz.
„Nein?“ Er zeigte auf die eingebaute Stereoanlage. „Nicht einmal Mahler, Wagner, irgendetwas in die Richtung?“
Der Professor schüttelte den Kopf. „Nein. Musik geht mir prinzipiell auf die Nerven.“
„Aber für Kunst interessieren Sie sich, oder? Zumindest für Malerei.“
„Nein.“
„Woher kannten Sie dann das Bild, das mit dem Engel?“
Er lächelte. Zum ersten Mal war es das besonnene Lächeln eines alten Mannes. „Als Religionswissenschafter stolpert man über so manches.“
„Ach so.“ Nathanael sah sich wieder um. Dabei streifte sein Blick die Glasfront hinter ihm, denn plötzlich zog er sich in dem Sessel hoch und wandte sich zu ihr um.
„Ihr Birnbaum“, sagte er. „Ich habe mich in ihm getäuscht. Ich weiß jetzt, welche seine Geschichte ist.“ Er setzte sich nieder, sah den Professor an. „Es gab einmal einen Baum, dessen Krone über den Himmel hinausragte und dessen Äste die ganze Welt überspannten. Er berührte insgesamt neun Welten, auch mit seinen drei Wurzeln, an denen sich drei Quellen befanden. In dem immergrünen Blattwerk lebten einige Tiere: Hirsche, eine Ziege, ein Adler, ein Eichhörnchen. Wenn dieser mächtige Baum zu welken begann, war das Ende der Welt nahe.“
Der Professor lächelte. „Das war aber eine Esche.“
„Damals.“, sagte Nathanael mit verschwörerisch erhobenem Zeigefinger. „Die Götter werden doch nicht wieder eine Esche genommen haben, wenn sich die nicht bewährt hat.“
Der Alte prustete. „Nein, die Götter haben einen verkrüppelten Birnbaum in meinem Garten genommen, der Gute Luise Birnen trägt.“ Er schüttelte lachend den Kopf. „Oder getragen hat, je nachdem.“
„Da wären wir bei der Sache.“ Nathanael setzte sich aufrecht hin. „Wenn seine Blätter welken, beginnt ein langer und harter Winter. Zwietracht, Mord und Ehebruch beherrschen die Welt. Schließlich kommt es zur letzten Schlacht, bei der fast alle Götter umkommen.“
Draußen brauste der Sturm nach wie vor. Dröhnend fuhr er in die Bäume, durch den Schnee, und wirbelte ihn auf.
Der Professor lachte vor sich hin. „Ragnarök in meinem Garten!“
„Sie leben an einem besonderen Ort.“, erklärte Nathanael. „Ob Sie es glauben oder nicht.“
Er nickte wie über die altkluge Aussage eines Kindes. „Ich werde es bedenken, wenn ich diesen Birnbaum im Frühjahr endlich umschneide.“
„Die Götter werden Sie damit nicht vertreiben.“
Kopfschüttelnd rieb sich der Professor mit dem Finger nachdenklich sein Kinn. „Sagen Sie“, meinte er dann auf einmal zu Nathanael. „Fehlen Ihnen Ihre Freunde gar nicht? Oder fehlen Sie ihnen nicht? Die möchten doch sicherlich wissen, wo Sie stecken.“
„Nein, eigentlich nicht.“ Er sah nachdenklich nach oben, strich mit der Zunge über seine Zähne. „Es ist bei uns so üblich, einfach zu verschwinden. Bislang sind auch alle wiederaufgetaucht.“
„Und es macht sich niemand je Sorgen um Sie?“
Nathanael lächelte. „Machen Sie sich Sorgen um Ihren Sohn?“
Der Professor war still. Es stimmte. Irgendwann wurde das Gefühl taub.
Fortsetzung folgt.
Daniela Feichtinger ist promovierte Alttestamentlerin und Autorin.
Photo: Craig McLachlan, unspash