Erzählung von Daniela Feichtinger in neun Folgen.
Immer dienstags und donnerstags im August auf feinschwarz.
Sechster Tag
Am nächsten Morgen wachte der Professor mit einem inneren Zittern auf, wie er es noch nie gefühlt hatte. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn, wirre Bilder setzten sich vor seinem inneren Auge abermals zu einem klaren zusammen. Mit der absurden Logik des Traums hatte er die Wahrheit gesehen. Er war fest überzeugt. Alles war zuvor schon in ihm gewesen, jedes Wort, doch in jener Nacht hatte sich in seinem Kopf erst die Antwort geformt.
Er stand auf, zog sich an, ging ins Bad, vorbei am Gästezimmer. Er hörte Elma und Nathanael reden. Sicherlich gab sie ihm etwas von ihrem Geld und ein großmütterliches Küsschen auf die Wange mit auf den Weg.
Vor dem Badezimmerspiegel stand ein altbewährt realer Professor Heiden, der einem auf seine Art realen Spiegelbild ins Auge sah. Es war lächerlich. Traumlogik war lächerlich. Aber es machte doch alles Sinn – auf absurde Weise, doch unbestreitbar.
***
Er begleitete Nathanael zur Tür. Dessen Gesicht war hübsch und gepflegt, wie er es kannte. Am Leib trug er die Kleider, mit denen man ihn hereingeschafft hatte. Seine blauen Augen sahen in den geklärten Himmel. „Heute ist Wodans Tag.“, sagte er lächelnd, von der Sonne geblendet. Er hob die Hand wie zur Entwarnung. „Aber keine Geschichten mehr.“
Leichtfüßig tat er zwei Schritte vor die Tür, stand auf dem freigeräumten, mit Steinplatten ausgelegten Weg. Da wandte er sich zum Professor um. „Jetzt war ich ganze fünf Tage bei Ihnen.“, sagte er. „Sie waren“ Er hielt inne, wog ab. „Gastfreundlich. Sie waren gastfreundlich zu mir.“, sagte er schließlich. „Ich danke Ihnen dafür.“
Der Professor nickte, als wollte er all dies gar nicht hören und nur endlich seine Frage anbringen. „Sagen Sie, Nathanael – waren Sie vielleicht einmal im Bogenschützenverein?“
Der Rabenschwarze sah ihn verwirrt und fragend an. „Im Bogenschützenverein?“, wiederholte er. „Nein. Ich hatte mein Lebtag noch keinen Bogen in der Hand. Wieso fragen Sie?“
„Nur so ein Gedanke…“, nuschelte der Alte, winkte ab. „Dann – leben Sie wohl, Nathanael. Passen Sie in Zukunft besser auf sich auf.“
Der Junge zeigte auf ihn, schnippte. Mit einem Zwinkern sagte er: „Sie auch, Herr Professor!“
Dann drehte er sich um und ging, noch ein Stück weit vom bellenden Hund begleitet, durch das kleine Gartentor fort.
Der Professor sah ihn nie mehr.
Ein paar Wochen später war ihm, als wäre er Paul Kubica auf dem Postamt begegnet. Zumindest passte die Beschreibung auf den großen Mann.
Da wusste er zumindest, was Nathanael gemeint hatte.
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Daniela Feichtinger ist promovierte Alttestamentlerin und Autorin. feinschwarz.net dankt ihr herzlich für die Abdruckerlaubnis.
Und wenn Sie die Erzählung im Ganzen lesen wollen: Hier noch einmal alle Folgen:
Photo: Craig McLachlan, unsplash