Geschlossene Moscheen, keine Einladungen zum Fastenbrechen, keine dekorierten Häuser – das schmerzt muslimische Gemeinschaften in diesen Tagen. Dieser Ramadan kann aber auch eine Zeit des Neu- und Umdenkens sein, findet Mahmoud Abdallah.
Muslime und Musliminnen rund um die Welt feiern dieser Tage den Beginn des Fastenmonats Ramadan, der eine dem Koran, der Spiritualität, der Vergebung, der Versöhnung, der Verheißung, der Familie und der Gemeinschaft gewidmete Zeit darstellt. Fasten ist die vierte der fünf Säulen des Islam. Der Monat, der sich logischerweise jährlich wiederholt, wird genauso gefeiert wie die Pilgerfahrt, die nur einmal im Leben zu verrichten ist. Der Fastenmonat ist geprägt von einem regen Austausch von Grußwünschen und das soziale Leben vieler Muslime wird von teils lange im Voraus geplanten Einladungen zum gemeinsamen Fastenbrechen, dem sogenannten Ifṭār, bestimmt. Abende werden für gemeinschaftliches Ifṭār freigehalten, Auftritte der Politiker, bei Politikerinnen und mit Politikern werden angekündigt. Und wenn – zumindest in Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung – Moscheen, Straßen und Häuserfassaden dekoriert und religiöse Hymnen ausgestrahlt werden, weiß jedes Kind: der Ramadan naht.
Fasten ist die vierte der fünf Säulen des Islam.
Doch in diesem Jahr beschäftigt die Welt etwas anderes: Covid-19. Wo gibt es Raum zu feiern in der Corona-Pandemie? Der Ramadan des Jahres 2020 wird, soviel ist sicher, ganz anders verlaufen, als viele Gläubige es gewohnt sind. Vieles, was den Ramadan traditionell ausmacht, ist unter den gegebenen Umständen unmöglich: Gemeinschaftliche Spiritualität, regelmäßiges gemeinschaftliches Fastenbrechen in großen Kreisen, Koranlesungskreise und die Zusammenkunft zum Tarāwīḥ, dem traditionellen Gebet nach dem Nachtgebet in der Moschee finden nicht statt, sondern bleiben in diesem Jahr bloß eine schöne Erinnerung an vergangene Fastenmonate.
Vieles, was den Ramadan traditionell ausmacht, ist unter den gegebenen Umständen unmöglich.
Der im Ramadan entstehende Druck ist jedoch kein allein physischer, sondern hat in diesem Jahr auch eine psychische Komponente. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft schmerzt die Seele auf vergleichbare Weise, wie das Auslassen von Essen und Trinken den Körper an seine Grenzen bringt. Das Fasten beschwört in dieser Phase der Pandemie neue Herausforderungen für die Geduld herauf und neue Dimensionen der Prüfung werden deutlich. Daher entsteht nun eine neue Situation, die existenzbedrohliche Konsequenzen für die muslimischen Glaubensgemeinschaften mitbringt. Weil sie stets von Spendensammlungen zum Freitagsgebet und vor allem auch im Ramadan ihre Kosten abdecken, stehen viele Moscheen aufgrund fehlender Aktivitäten aktuell vor großen finanziellen Schwierigkeiten; diese erwarteten Spenden fallen nun beinahe komplett aus.
Die Sehnsucht nach Gemeinschaft schmerzt die Seele.
Moscheegemeinden und deren Verantwortliche haben sich in dieser Krisenzeit lobenswerter Weise als besonders verantwortungsvoll erwiesen und starteten zum Beispiel Spendenaktionen, damit islamische Gotteshäuser weiterhin als zuverlässige Partner der Wohlfahrt, Seelsorge und sozialen Integration und vor allem als Ort der Begegnung bestehen können.
Das Glas ist halb voll: Was wir aus dieser Krise lernen können
Der Fastenmonat der Muslime beginnt dieses Jahr am 24. April und endet am 23. Mai. Dieses Mal wird er jedoch kaum von der Debatte um die Festlegung des Beginns und des Endes begleitet. Eigentlich sorgt die Vielfalt muslimischen Lebens in Europa jährlich für heftige Diskussion bezüglich der Festlegung der genauen Eckdaten des Fastenmonates – der islamische Kalender richtet sich nach dem Mond – und Eid al-Fitr, dem großen Festtag zum Abschluss des Monats.
heftige Diskussion bezüglich der Festlegung der genauen Eckdaten des Fastenmonates
Die Uneinigkeiten bezüglich des ersten und letzten Fastentages liegen in zwei unterschiedlichen Meinungen begründet, die beide theologisch untermauert sind. Der neue Monat beginnt nach dem Aufgehen des Neumonds, bei diesem Aspekt besteht unter allen Muslimen Einigkeit. Für manche muss die Sichtung allerdings traditionell, d.h. nur mithilfe einer Sternwarte, erfolgen. Laut manch anderer Gelehrten kann der Stand des Mondes jedoch auch mit den neuen Erkenntnissen der Naturwissenschaften für die nächsten einhundert Jahre im Voraus berechnet werden. Diese zweite Möglichkeit ist zwar immer noch umstritten, setzet sich aber allmählich durch. Sie bringt verschiedene Vorteile mit sich, zum Beispiel den, dass alle Muslime gemeinsam und zeitgleich den Fastenmonat Ramadan beginnen und beenden und ihr Leben – was gerade im europäischen Kontext wichtig ist – besser planen können. So können etwa rechtzeitig Anträge auf Freistellung der Kinder von der Schule zum Ramadanfest oder Urlaubswünsche eingereicht werden.
Der neue Monat beginnt nach dem Aufgehen des Neumonds.
Die erste Variante sorgt für mehr freudige Erwartung, welche mit Tradition und Erinnerung an die Großeltern und Herkunftsländer vieler europäischer Muslime verknüpft ist, aber auch mehr Raum für Zwist und Spaltungen lässt. Schließt man sich dieser Methode an, so stellt sich die Frage, ob man sich nach muslimischen Instanzen in Europa, nach dem Herkunftsland der Vorfahren oder nach einem bestimmten islamischen Land orientieren sollte. Moscheegemeinschaften mit vielfältiger ethnischer Prägung stehen hier jedes Jahr vor großer Herausforderung. In Deutschland, wo der Islam keine Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts genießt, versuchten die großen muslimischen Glaubensgemeinschaften, vertreten in dem 2008 gegründeten Koordinationsrat der Muslime in Deutschland (KRM), einen Kompromiss zu finden. Hierbei folgte der KRM der von der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) bereits im Jahre 1978 erarbeiteten Grundlage, dass der neue Monat nach dem Erscheinen des Neumonds mit der berechneten frühestmöglichen Sichtung an jedem Ort der Welt beginnt. So begeht eine seit 2008 in Deutschland stetig wachsende Zahl von Mitgliedern großer islamischer Religionsgemeinschaften den Ramadan und Eid al-Fitr, das Ramadanfest, zum selben Zeitpunkt.
Die Corona-Krise hat die Muslime geeinigt.
Diese mühsame und mittlerweile erschöpfende Debatte büßt in diesem Jahr an Bedeutung ein. Die Corona-Krise hat die Muslime geeinigt. Jetzt geht es nur um eines, nämlich den gemeinsamen Feind mit vereinten Kräften zu besiegen. „Gemeinsam“ ist hier ambivalent: es drückt Einheit aus, aber auch Distanz. Die Glaubensgemeinschaften nehmen sich bundesweit in der Verantwortung als Bürgerinnen und Bürger dieser Gesellschaft wie auch als Gläubige wahr und agieren sehr konsequent und überraschend positiv mit der Schließung der Moscheen und der Aussetzung des Freitagsgebets. Diese Reaktion, mag sie auch als alternativlos erscheinen, stieß aber auch auf Kritik. Durch Rufe nach Rechtfertigung stellte sie die islamische Theologie vor neue Herausforderungen. So reagierten einige Glaubensgemeinschaften neben der theologischen Rechtfertigung ihrer Entscheidung mit der Umsetzung anderer Maßnahmen, etwa mit Fortbildungsangeboten für Imame, wobei der Autor dieser Zeilen zum leitenden Fordbildungsteam gehört.
Re-Interpretation als Herausforderung in der islamischen Theologie
Die islamischen Gemeinschaften zeigen sich sehr flexibel und gehen mit der Ausnahmesituation verantwortungsvoll um. Sie sehen ihre bürgerliche Pflicht nicht im Widerspruch zu ihrer religiösen Pflicht, sondern als komplementär und beweisen somit ihre – oft in Frage gestellte – Integration. Aber das ist nur der Startschuss.
Sie sehen ihre bürgerliche Pflicht nicht im Widerspruch zu ihrer religiösen Pflicht, sondern als komplementär.
Pandemien gab es in der Geschichte immer wieder und das Aussetzen von gemeinschaftlichen Gebeten und religiösen Ritualen, sogar der Pilgerfahrt, ist der islamischen Historie nicht fremd. Der Verzicht auf die durch Gemeinschaft gespendete Spiritualität schmerzt während des Fastenmonats besonders, doch das setzt kein Aussetzen der Gottesanbetung voraus. Diese kann auch zuhause stattfinden – zwar nur im Kreis der engsten Familie, aber sie macht unsere Wohnungen zu Orten der Anbetung, des Lernens und der spirituellen Begegnung mit Gott.
Gottesanbetung kann auch zuhause stattfinden
Die Corona-Krise stößt jedoch eine Reihe von Debatten zu theologischen Themen und deren Verortung in der modernen Gesellschaft an. Sie zeigt, dass es an der Zeit ist, mit dem Nach- und Neudenken darüber anzufangen, was der Umgang mit einem neuen Kontext und neuen Herausforderungen über unsere Religiosität, die Belastbarkeit unserer Werte, unsere theologische Bildung und unsere theologisch-rechtlichen Normen verrät.
Das islamische Recht als Wissenschaft der praktischen Theologie ist eine theologische Disziplin, die sich mit solchen Fragen beschäftigt. Die normalen Gläubigen beschäftigen nun nicht nur Fragen der Alltagspraxis, sondern auch die Zeit nach der Pandemie betreffend. Debatten zu Themen, die nur von der Elite erörtert wurden, wie z.B. die medizinethische Problematik der Triage, werden nun zu Alltagsthemen. Zahlreiche teils gegensätzliche Meinungen kursierten im Netz. Muslimische Imame und geistliche Führungspersonen mussten sich daran beteiligen und starteten – um ihren Mitgliedern zumindest seelsorglich an der Seite zu bleiben – online religiöse Anregungen für die Gläubigen. Ebenso wie die Zusammensetzung der muslimischen Gemeinden divers ist, sind auch die Reaktionen. Die Idee der „virtuellen Moschee“ wird Realität, nachdem sie bis vor kurzen noch als Verrat an der Religion betrachtet wurde. Ein Gedanke, der, wenn er sich etabliert, nicht nur die klassischen Moscheen als überflüssig erscheinen lässt oder bestenfalls in soziale Freizeitvereine umwandelt, sondern die Debatte über „importierte“ Imame neu anstoßen wird.
Die Idee der „virtuellen Moschee“ wird Realität.
Die Schließung von Gotteshäusern fordert eine rege Auseinandersetzung sowohl mit theologischer Literatur als auch mit Gläubigen. Manche Gläubigen sehen die Schließungen als Protest gegen die von Gott geschickte Pandemie – eine Meinung, die islamisch unzulässig ist – andere sehen darin eine korrekte Umsetzung der islamischen Lehre. Die Spannung reicht von Ablehnung bis hin zur Einstufung der Moscheeschließungen als islamisches Gebot. Erstere beruht auf dem Koranvers: „Nichts kann uns treffen außer dem, was Gott uns bestimmt hat. Er ist unser Beschützer“ (Sure 9:51). Die zweite Position hat die Koranstelle zur Grundlage, in der es heißt: „stürzt euch nicht mit eigener Hand ins Verderben“ (Sure 2:195). Die zweite Position setzt sich zurecht durch, schließlich gilt „maqāṣid aš-šarīʿa“ als eine der Maximen des islamischen Rechts; das Beschützen des Lebens, welches bei nicht wenigen Gelehrten dem Beschützen der Religion übergeordnet ist. Jede Eindämmung des sozialen Kontaktes gilt als Schritt zur Realisierung dieses Ziels.
Ein Ramadan ohne Ramadan: Wenn Fasten und die Seele nicht mehr heilt
Viele Muslime fasten nach dem Motto, „Fasten in Gemeinschaft ist Halbfasten“. Der Ramadan ist in und mit der Gemeinschaft einfacher, leichter umsetzbar und spiritueller. Auch im Koran gilt Fasten als das einzige Ritual, das seine Erwähnung nicht verstreut, sondern an einer einzigen Stelle findet (Sure 2:183-185), wodurch das Zusammenkommen symbolisiert wird. In der islamischen Welt vermitteln das Dekorieren der Häuser und Straßen ein Gefühl der Gemeinschaft, auch wenn die Moscheen geschlossen bleiben. Im europäischen Kontext, wo die Tradition des festlichen Schmückens während des Fastenmonats unüblich ist, fällt das komplett aus. Gemeinschaft, welche Solidarität, Glück und Beistand bringen soll, erscheint plötzlich als Bedrohung und Gefahr und muss vermieden werden. Glückwünsche, selbst an eigene Enkelkinder, werden elektronisch übermittelt.
Gemeinschaft muss vermieden werden.
Der Ramadan wird dieses Jahr anders. Sein Beginn, die Umsetzung der religiösen Rituale und Gebote, die Zielsetzung, die erfahrene Spiritualität und der Ausklang werden 2020 ganz anders aussehen als noch im letzten Jahr. Es wird ein „virtueller Ramadan“ sein, ein Ramadan ohne die Essenz dessen, was den Monat für viele ausmacht. Wir können ihn aber so übersetzen, dass sich aus dem Fluss an theologischen Meinungen, ob Ordnung oder Grundrechte der Religionsfreiheit zu gewährleisten sind, maßgebliche Stimmen entwickeln, die eine Re- und Neuinterpretation des Religiösen aufrechterhalten und fortsetzen. Insofern haben wir es gerade mit einer Herausforderung für die Glaubensgemeinschaften und Theologie zu tun – und das ist gut so. Ich wünsche euch und Ihnen allen herzlich „Ramadan Mubārak!“
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Dr. Mahmoud Abdallah ist Senior Scientis am Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik der Universität Innsbruck.
Bild: Ahmed Sabry / Pixabay