Viele Weihnachtskrippen bleiben bis ins Neue Jahr hinein stehen. Christian Kern übersetzt ihre Botschaft in die säkulare Wirklichkeit des kommenden Jahres 2016 – an einem ‚weihnachtlichen‘ Heterotop am Stadtrand von Würzburg.
Kinder im Rauch
In Niedersachsen, in der Nähe von Hameln, liegt die kleine Stadt Salzhemmendorf. Sie ist verhältnismäßig unbekannt und anonym. Sie steht für eine Vielzahl anderer kleiner Städte und Orte im deutschsprachigen Raum. In Salzhemmendorf in der Hauptstraße 70 steht ein dreistöckiges Wohnhaus. Im dritten Stockwerk ist hier eine Wohnung für Asylbewerber eingerichtet. Eine Familie aus Simbabwe wohnte dort, zwei Eltern mit drei Kindern.
In der Nacht vom 27. auf den 28. August 2015 wurde die Wohnung attackiert. Einige Personen näherten sich dem Wohngebäude im Schatten der Nacht. Sie entzündeten einen Molotowcocktail und warfen ihn zur Wohnung im dritten Stock. Der Molotowcocktail durchschlug das Fenster des Kinderzimmers und zerbarst auf dem Boden. Der Brand breitete sich rasch aus und füllte das Zimmer mit stickigem Rauch. Zufällig waren die drei Kinder nicht im Raum. Sie übernachteten im Zimmer ihrer Eltern. Diese bemerkten den Brand, kämpften sich mit ihren Kindern durch den Rauch hindurch und gelangten nach draußen. Die alarmierte Feuerwehr löschte den Brand. Die Polizei nahm die Ermittlungen und die Suche nach den mutmaßlichen Tätern auf. Bereits vier Tage später waren diese gefasst und wurden wegen versuchten Mordes angeklagt.
Dieser Vorfall ist exemplarisch für viele andere im vergangenen Jahr 2015. Die Statistiken zählen bis Mitte Dezember über 730 fremdenfeindlich motivierte Angriffe auf Flüchtlings- oder Asylbewerberunterkünfte in Deutschland. Rechte Gesinnungen werden salonfähig und werden auch in der Mitte der Gesellschaft hörbar. Das nährt den Boden für verbale oder tätige Übergriffe. Die Köpfe der Täter sind eventuell so hohl wie leere Flaschen. Aber wenn ihre Bäuche mit genug Alkohol gefüllt sind, dann füllen sich auch ihre Molotowcocktails und finden ihre Flugbahnen zum dritten Stock hinauf. Das gab es 2015 an zahlreichen Orten. Salzhemmendorf ist lediglich eines unter vielen Beispielen.
Die Kinder der Flüchtlingsfamilien stehen dabei im doppelten Sinne im Brennpunkt.
Die Kinder der Flüchtlingsfamilien stehen dabei im doppelten Sinne im Brennpunkt. Sie sind die ersten, die unmittelbar von den Attacken getroffen und betroffen werden. Sie sind diejenigen, die sich am wenigsten gegen die Attacken wehren können. Es bleibt ihnen bisweilen nichts anderes, als sich mit ängstlichem Blick am Hosenbein der Eltern festzuhalten und den Flammen oben im dritten Stock zuzusehen. In den Kindern verdichten sich die Wehrlosigkeit, Verletzbarkeit und Ausgeliefertheit an die Gewalten des Lebens. Sie stehen exemplarisch für die Kämpfe, die Menschen auf der Flucht ausfechten müssen. Sie stehe exemplarisch für die Ohnmacht, die Menschen überhaupt erfahren können.
Ein Kind in der Krippe
An Weihnachten liegt ein Kind in der Krippe. Es ist oft umrankt von friedlichem Idyll. Da kommen Hirtenvagabunden vorbei und spielen auf der Flöte. Ein Feuer flackert in der kühlen Abendluft. Aus der Ferne klingt harfenartige Engelsmusik. Das ist schön und gut. Und die Weihnachtsatmosphäre in den Wohnungen, in den Kirchen und in den Fußgängerzonen erfreut Menschen und gibt ihnen Lebensenergie. Aber das ist nicht alles, vielleicht auch nicht das Eigentliche. Denn Weihnachten hat eine andere Seite, abseits des Idylls. Sie gerät bisweilen im Blinklicht der Sterne in den Hintergrund.
Frauen und Männer, die Kinder zur Welt gebracht und geboren haben, wissen darum. Geburten und alles, was ihnen folgt, sind keine friedlichen Phasen. Sie zerbrechen die Routinen des Alltags und erzeugen Ausnahmesituationen. Sie verschärfen sich, wenn sie in prekären Umständen erfolgt, z.B. in Ställen draußen vor der Stadt, in Situationen akuter Obdachlosigkeit oder auf der Flucht. Die Geburt an Weihnachten ist ebendort verortet. Das Weihnachtsevangelium stellt die Krippe in verschärfte Spannungsfelder und Konflikte, welche die Idylle zusätzlich erheblich stören und bedrohen. Gleich zu Beginn wird Kaiser Augustus erwähnt. Diesem großen Machthaber auf der einen Seite, der das „Dogma“ der Volkszählung verkünden lässt, wird das kleine Kind in der Krippe gegenübergestellt. Es gerät in die Mühlen der römischen Bürokratie und Macht. Später wird dann auch dreingeschlagen: König Herodes schickt seine Truppen, und diese metzeln die Kinder in den Häusern Betlehems nieder. Am 28.12. gedenkt die Kirche alljährlich solcher „Unschuldigen Kinder“. Spätestens jetzt ist die Stille der Nacht von gellenden Schreien und lautem Klagen durchzogen.
Friedensvision und Ohnmachtserfahrungen
Weihnachten fügt beides zusammen: die Friedensvision und die Hoffnung auf ein idyllisches Leben der Menschen einerseits sowie die realen Erfahrungen von Gewalt und Machtlosigkeit andererseits. Sie verdichten sich im Kind in der Krippe. Es verkörpert die Ohnmachtserfahrungen der Menschen in ihrer jeweiligen Zeit. Es verkörpert aber zugleich die Hoffnung auf die Geburt eines anderen Menschseins, in dem man über die tödlichen Dynamiken und Strukturen hinausgelangt. Das Kind in der Krippe ist in diesem Sinne ein „Heiland, der den Himmel aufreißt“, also einer, der eine gespannte Differenz erzeugt. Es macht am Ort der menschlichen Verletzbarkeit und Ohnmacht der Hoffnung platz, dass die verknechtenden Lebensbedingungen kritisch überschritten werden können. Dieses Kind ist der Ort, in dem sich eine Überschreitung ereignet, an dem sich ein Anderer einstellt, der ein Jenseits des Bisherigen sichtbar und zugänglich macht.
Die Figuren im Weihnachtsnarrativ bleiben davon nicht unberührt. Die Begegnung mit dem Kind in der Krippe verändert sie. Konkret ändert es ihre Richtungen. Es lässt sie andere Wege einschlagen. Es erschließt neue Räume. Der Welten Lauf ändert sich. Dies betrifft zunächst die Hirten. Sie lagern bekanntlich am Feuer. Als dann die Engel singen, rennen sie zum Stall und treffen auf die eigenartige Szenerie. Ganz insgeheim werden sie so von den Underdogs zu Aposteln des Messias und sind – den Engeln dabei in nichts verschieden – Botschafter eines andersartigen Herrschers. Dies betrifft vor allem aber die Sterndeuter. Sie kommen aus dem Osten. Sie finden das Kind in der Krippe, nachdem sie beim Machthaber Herodes vorbei geschaut haben. Dann kehren sie um und ziehen nachhause, doch ihre Richtung ändert sich. Sie gehen nicht zu Herodes zurück, sondern gehen ihre eigenen Wege, anderswohin. Man kann darin insgeheim eine Solidarisierung mit dem Kind und seinen Angehörigen sehen. Indem die Sterndeuter diese anderen Wege einschlagen, räumen sie dem Kind einen Lebensraum ein, der dem tödlichen Zugriff des Königs entzogen ist. Dieser erleidet einen Machtverlust, ganz ohne angegriffen worden zu sein. Das Kind autorisiert die Sterndeuter, andere mögliche Wege zu sehen und ein soziales Miteinander zu praktizieren, das bestehende Herrschaftsverhältnisse kritisch aufdeckt und übersteigt. Sie gewinnen darin selbst Autorität, weil sie sich auf eine überraschende Begegnung eingelassen und andere Wege eingeschlagen haben.
Eine Krippe im Industriegebiet
Dieses Weihnachtsevangelium ist nicht bloß eine schöne Geschichte, eine Utopie. Es gibt tatsächlich Orte, wo ein solches andersartiges Leben aus Ohnmachtserfahrungen von Kindern möglich wird: in Kinderkrippen und Kindergärten. Dort treffen bisweilen Kinder ganz unterschiedlicher Herkunft aufeinander. Die einen sind „Einheimische“, die anderen kommen aus Flucht oder Vertreibung. Mit den Kindern treffen sich auch die Eltern und treten in Kontakt zueinander. Manchmal werden diese Kontakte zu Orten der Entdeckung. Man stößt auf neue Umgangsweisen, kulturelle Horizonte ändern sich, andere Arten, miteinander zu leben, beginnen sich zu zeigen sich. Dann werden diese Orte zu Heterotopien, also zu Orten, an denen Konturen andersartigen Menschseins in einer kritischen Überschreitung der bisher gültigen Ordnung der Dinge sichtbar werden. Diese Orte sind zunächst eventuell klein und unscheinbar wie ein Kind in der Krippe, aber sie können eine immense Ausstrahlung gewinnen, weil sie universale Lebensthemen berühren. Ein solcher Ort liegt am Stadtrand von Würzburg im Vorort Unterdürrbach: der Kindergarten „Heiliggeist“ .
Der Kindergarten hat eine eigenartige Lage. Er befindet sich mitten in einem Industrie- und Großhandelsgebiet, das sich am Stadtrand von Würzburg den Main entlangzieht. Die 4-spurige, vielbefahrene Bundesstraße B 27 durchquert dieses Gebiet und verbindet es mit der Stadt. Im Industriegebiet liegt zum Beispiel ein großer Schrottplatz. Täglich werden hier Autos angeliefert und ausgeschlachtet. Ihre Metallskelette stapeln sich meterhoch auf dem Autofriedhof und verrosten und vergrauen in der Witterung. Etwas weiter mainabwärts erheben sich riesige Silos eines ehemaligen Land- und Bauwirtschaftsmittelvertriebs. Noch etwas weiter den Fluß entlang stehen die ganz in grau gehaltenen, über 40 Meter hohen Produktionshallen eines großen fränkischen Druckmaschinenherstellers, der zu den Weltmarktführern dieser Branche zählt. Dazwischen, in der Paradiesstraße, liegt ein Nachtclub. An den Fabrikgeländen vorbei zieht sich die Bundesstraße. Im Gewerbegebiet gegenüber haben sich zahlreiche Groß- und Einzelhandelsanbieter angesiedelt. Mit teilweise grellen Reklamen und knallroten Designs bewerben sie ihre Produkte weithin sichtbar.
Etwas unterhalb des Gewerbegebiets, unmittelbar am Rand der Bundesstraße liegt ein ehemaliges Kasernengelände. Es besteht im Wesentlichen aus drei großen ca. 120 Meter langen, 4-stöckigen Wohnblöcken sowie einigen kleineren Funktionsgebäuden. Das gesamte Areal ist von ca. zwei Meter hohen, weitestgehend rostig dunkelbraunen Zäunen umgeben, die oben mit Stacheldraht versehen sind. In der ehemaligen Kaserne, die von 1938 bis 1945 „Adolf-Hitler-Kaserne“ hieß und nach der Übernahme durch amerikanische Truppen Ende des zweiten Weltkrieges dann „Emery-Barracks“, ist ein bedeutsamer Ort eingerichtet: eine „Gemeinschaftsunterkunft“ . Hier sind seit 1992 Flüchtlinge und Asylbewerber untergebracht. Seit dem Anwachsen der Flüchtlingsströme im Frühjahr 2015 ist hier nochmal mehr los als vorher. Es gibt ein reges Kommen und Gehen der Bewohner – 450 Menschen leben hier derzeit – darunter auch Familien mit kleinen Kindern.
„Da bin ich zuhause“, sagen die Flüchtlingskinder und deuten auf das braune Gebäude hinter dem Stacheldraht.
Direkt neben dem Kasernengelände, unmittelbar neben der Asyl- und Flüchtlingsunterkunft liegt nun auch der Kindergarten Heiliggeist. Mitten im Industriegebiet, in Steinwurfweite der Bundesstraße, vom Kasernengelände nur durch einen Schotterweg getrennt, hat er seinen Platz. In den späten 50erJahren hat man hier eine (fast schon) konziliare Rundkirche errichtet, an die sich ein Pfarrzentrum anschließt. In einem Teil des Gebäudes befindet sich heute der Kindergarten. Er ist einstöckig und ziemlich unscheinbar. Sein Dach ragt nur ein klein wenig über die Hecke heraus, die das Gelände umgibt. Der Kindergarten duckt sich zwischen die Hecken und Zäune. Eine buntbemalte Gartentüre öffnet sich, durch die man zum Eingang gelangt.
Die Räumlichkeiten und das Konzept der Einrichtung entsprechen dem Standard von Kindergärten in kirchlicher oder kommunaler Trägerschaft in Bayern. Es gibt mehrere Gruppenräume mit Tischen, Sitz- und Spielmöglichkeiten, Teppichen auf den Böden und vielen Nischen, wohin sich die Kinder zurückziehen oder sich treffen können. Es gibt einige Kreativräume, wie z.B. das Atelier, wo die Kinder in offenen Arbeitsphasen hinkommen und malen oder basteln können. Im Hinterhof gibt es einen kleinen Garten, der von einer Betonmauer eingefasst ist. Das Gebäude ist in die Jahre gekommen. Im spärlich eingerichteten Garten gibt es einen Erdhügel, von dem eine Rutsche hinabführt. Wenn man auf den Hügel klettert, kann man über die mit Tieren bemalte Betonwand des Kindergartengeländes hinüberschauen und blickt unmittelbar auf die Gemeinschaftsunterkunft, die ca. 200 Meter entfernt liegt. „Da bin ich zuhause“, sagen die Flüchtlingskinder dann manchmal zu den Erzieherinnen und deuten auf das braune Gebäude hinter dem Stacheldraht.
Im Kindergarten wird ein offenes pädagogisches Konzept praktiziert. Es gibt einerseits feste Zeiten und Rituale, wo alle zusammenkommen, zum Beispiel beim Morgenkreis nach dem Ankommen. Daneben gibt es für die Kinder in offenen Zeiten Möglichkeit, selbstständig zu spielen oder sich für eines der angeleiteten Angebote zu entscheiden. Maddock, ein kleiner Junge, sitzt gerade an einem der kleinen Tische und liest ein „Wimmelbuch“. Das Buch erzählt in großen Bildern, die voll tausender Details stecken, den Tag eines Kindergartenkindes in seiner Familie. Der Junge betrachtet das Bild, auf dem zwei Kinder sich morgens anziehen und zum Kindergarten aufbrechen. Wenn man sich daneben setzt, zeigt Maddock einem das viele Gewimmel und beginnt zu plaudern, was er am Morgen gemacht hat, bevor er in den Kindergarten gekommen ist.
Eine Krippe im Schatten der globalen Konflikte
Der Kindergarten hat Besonderheiten. Sie werden schon auf dem Weg sichtbar, der zum Kindergarten hinführt. Man kommt an der Kirche vorbei. An ihrer Seitenwand ist eine Willkommenstafel angebracht. „Unsere Welt ist für alle da“ steht in der Mitte. Rund herum haben Kinder einige Menschen in bunten Farben gemalt, und wie Strahlen gehen kleine Papierstreifen von dieser Mitte nach außen, auf denen Worte der Begrüßung und gute Wünsche in zwölf verschiedenen Sprachen zu lesen sind, darunter Arabisch, Russisch, Polnisch, Englisch, Französisch: „The Holy Spirit Church warmly welcomes you all. Nice to see you here“. Wenn man weiter geht und durch die Eingangstüre des Kindergartens hindurch ist, trifft man erneut auf Worte der Begrüßung, wieder in zahlreichen verschiedenen Sprachen. Diese sind mit der Hand an die Wand gemalt und ziehen den Blick auf sich. Internationalität und Pluralität ist Teil des Konzepts des Kindergartens. Die Homepage überschreibt sein Projekt auch mit „Vielfalt (er)leben“. Dass das im wahrsten Sinne des Wortes nicht selbstverständlich ist, zeigen Tafeln, die im Flur zu sehen sind, der sich an den Eingangsbereich anschließt. Dort werden die Aktivitäten des Kindergartens gezeigt und erklärt. Weil einige Eltern nur brüchig Deutsch sprechen und lesen, wird auf vielfältige und ausführlich Texte verzichtet. Stattdessen sind vergrößerte Bilder zu sehen. Besonders die religiösen Feierlichkeiten im Laufe des Kindergartenjahres – Sankt Martin, Nikolaus oder Ostern –, sind zu sehen, die Gestaltungselemente, die bei der Feier anwesenden Besucher, die Bastelarbeiten, christliche Symbole. Hier wird informiert und aufgeklärt über die Veranstaltungen und es werden Einblicke ermöglicht in das christlich-religiöse Profil des Kindergartens und seine Glaubenskultur.
Die Internationalität des Kindergartens Heiliggeist ist keine gewöhnliche Internationalität. Sie ist besonders. Man könnte sie auch als „prekäre Internationalität“ bezeichnen. Denn die Menschen, die in den Kindergarten kommen, sind nicht alle frei und ungezwungen in Deutschland. Ca. 30 Kinder besuchen den Kindergarten. 17 davon kommen aus anderen, außereuropäischen Ländern, die anderen stammen aus Unterdürrbach selbst oder aus den angrenzenden Orten. 10 der Kinder haben unmittelbare Fluchterfahrungen hinter sich. Sie haben die Wege durch die nahöstlichen und europäischen Länder bis nach Deutschland durchgestanden. Sie sind Menschen, „die aus der großen Bedrängnis kommen“ (Offb 7,14), es aber geschafft haben, hierher zu gelangen. Ihr Ortswechsel ist nicht frei oder leicht, er entstammt einer großen Not. Die Genealogie der Identitäten dieser Kinder führt in die globalen Konflikte und Migrationsströme. Jetzt wohnen sie in der Kasernen-Gemeinschaftsunterkunft und gehen tagsüber nach „Heiliggeist“.
Es gibt deswegen auch einen Schatten, der den Kindergarten bewohnt. Die Flüchtlingskinder bringen ihn mit, wenn sie morgens hereinkommen. Auch ihren Eltern sitzt er im Nacken, wenn sie da sind: die traumatisierenden Erfahrungen der Kriege und der Flucht. Hier ist präsent, was eigentlich abwesend ist. Sie sind den Biographien und Lebenserfahrungen eingeschrieben. Sie sind das Außen, das den Kindergarten innerlich heimsucht. Mit ihnen gelangt man in den Lebensraum, der verloren ist und vom Tode erzählt, einen espace perdu.
Heißklebepistolenfreie Zone
Manchmal wird das im Kindergartenalltag zufällig und überraschend offenbar. Wenn zum Beispiel der Geruch von etwas Verbranntem durch den Raum weht, kann es vorkommen, dass einige Kinder plötzlich von Panik erfasst werden und den Raum fluchtartig verlassen. Wenn große, kräftige Männer in die Krippe kommen z.B. Postboten, kann es passieren, dass einige Kinder in Angst erstarren oder weinend weglaufen. Wenn Hubschrauber über dem Industriegebiet kreisen oder Düsenjets zu hören sind, flüchten sich Kinder unter die Tische und versuchen, sich dort zu verstecken. In den Bastelecken gab es bis vor einiger Zeit Heißklebepistolen. Sobald diese aber hervorgeholt wurden, kam es bei Kindern ebenfalls zu Angst- und Panikreaktionen. Häufig ist es nicht gleich offensichtlich, was in den Kindern vorgeht. Die Erzieherinnen mussten erst lernen, die Zeichen der Zeit richtig zu deuten, um besser zu verstehen, woher die Reaktionen kommen. Dann werden Veränderungen möglich. Was z.B. die Heißklebepistolen betrifft: Sie sind inzwischen aus den Bastelecken verbannt. Der Kindergarten ist eine Art heißklebepistolenfreie Zone geworden.
Der Kindergarten ist ein Ort, der von Ohnmachtserfahrungen geprägt ist. Sie stehen nicht im Vordergrund. Wie es oft bei Ohnmachtserfahrungen der Fall ist, sind sie eher versteckt. Manchmal zeigen sie sich und werden artikuliert. Manchmal erzählen auch die Eltern davon, z.B. abends, wenn sie die Kinder abholen. Dann lassen sie die Erfahrungen auf den Flüchtlingsbooten oder den LKW der Schlepper durchblicken. Auch für die Erzieherinnen wird es dann manchmal schwierig, abends abzuschalten, wenn sie nach Hause kommen und in den Nachrichten erneut das Flüchtlingselend auf den überfüllten Booten oder in den Lagern zu sehen bekommen. Therapeuten, die den traumatisierten Eltern helfen und auch die Mitarbeiter begleiten, fehlen. Es scheitert bisher an der Finanzierung.
Eine Krippe als Gegenort
Der Kindergarten Heiliggeist konfrontiert sich mit diesen Erfahrungen. Und er hält sie aus. In ihm steckt Mut; und in ihm stecken Glaube und Hoffnung, dass die herrschenden Verhältnisse überschritten werden können. Er sucht in kleinen Schritten nach anderen Formen des Zusammenlebens, nach Wegen anderswohin. Der Kindergarten Heiliggeist ist deshalb in mehrfacher Hinsicht ein Gegenort (contre-lieu) und ein Ort der Überschreitung. Das macht seine Besonderheit aus.
Er ist erstens ein Gegenort zu den Erfahrungen der Gewalt und der Traumatisierung. Der Kindergarten bietet einen geschützten Raum. Hier dringt nicht so schnell irgendjemand ein. Vor allem aber bietet er andersartige soziale Beziehungen, einen Sozialraum. Hier können die Kinder da sein und miteinander und den Mitarbeitern dauerhafte und vertrauensvolle Beziehungen entwickeln. Die Tage gewinnen einen Rhythmus und eine Ordnung, an der man sich festhalten kann. In den Räumen und in den Begegnungen mit den Menschen, den anderen Kindern und den Mitarbeiterinnen, öffnen sich Arme, wo man sich trösten lassen kann. „Das Äußere ist nicht so wichtig, es geht vor allem um die Beziehungen“, sagt Katja Romberg, Leiterin des Kindergartens. Für die Sozialpädagogin sind jene Momente im Berufsalltag besonders wertvoll, wenn sich ein Kind in den Arm nehmen und trösten lässt, oder wenn es sie zum ersten Mal mit ihrem Namen anspricht. Dann öffnen sich Beziehungswelten, die jenseits von Flucht oder Vertreibung liegen. Sie machen das Dasein der Kinder anders möglich.
Kein Paradies, aber ein kleiner Anfang.
Der Kindergarten ist deshalb zweitens ein Gegenort zu den Erfahrungen der Vertreibung. Die Orte der Herkunft waren vielfältig von Gewalt gekennzeichnet. Die Menschen haben dort Leid und Ohnmacht erfahren. Dasselbe gilt für den Weg durch die Länder der Fluchtroute bis zum Grenzübertritt nach Deutschland und nach Würzburg. Im Kindergarten gewinnen die Wege und Orte nun eine andere Qualität. Sie sind befriedeter. Sie ermöglichen ein einfaches Dasein. Und sie stehen nicht im Zeichen der Vertreibung, sondern des Empfangens und Ankommens. Diese kleine Welt im Kindergarten will eben „für alle da“ sein, wie es an der Willkommenstafel am Eingang geschrieben steht. Es ist keine perfekte Welt, kein Paradies, aber ein kleiner Anfang.
Der Kindergarten ist drittens ein Gegenort zu den Erfahrungen der asylrechtlichen Bürokratie und ihrer technisierten Verwaltung. Es dauert, bis Anträge gestellt werden können. Es dauert ebenfalls lange, bis sie bearbeitet und angenommen werden. Technisierte und formularisierte Betreffe werden ausgeführt. Darunter leiden die Face-to-Face-Beziehungen. Hier ist kein Ort zum Klagen. Und sie erfolgen mitunter in fremden Sprachwelten und Büroräumen. Auch das Leben in der Gemeinschaftsunterkunft ist davon berührt. Wenn viele Menschen aufeinander wohnen, dann erzeugt das nicht bloß Konflikte, es nimmt auch Privatsphäre und die Möglichkeit, intimere Beziehungen zu gestalten. Dann fehlen Orte des Rückzugs. Für Kinder und Familien ist das doppelt schwer: Wie soll ein Kind im Alter von zwei Jahren lernen, rechtzeitig aufs Klo zu gehen und dort sein Geschäft zu verrichten, wenn es dafür nachts über einen langen Gang laufen muss und dort in einem großen Toilettenraum auf Fremde trifft? Auch zu diesen Erfahrungen bildet der Kindergarten einen Gegenort. Gegenüber der technisierten und formalisierten Bürokratie öffnet er einen Raum für Begegnungen zwischen Menschen und gegenseitigem Austausch. Gegenüber der Anonymität und dem Mangel an Privatsphäre bildet er einen Ort des Rückzugs und der Vertrautheit.
Der Kindergarten Heiliggeist ist deshalb ein Ort der Befreiung. In ihm öffnet sich ein Raum, in dem man aus den herrschenden Strukturen des Lebens als Geflüchtete(r) für kurze Zeit heraustreten kann. Die Lebensbedingungen in den Unterkünften werden überschritten. Zu den Erfahrungen der Flucht ist ein anderer Zugang und Umgang möglich. Der Nicht-Ort einer Gemeinschaftsunterkunft, der eine notgedrungene Verwaltung des Lebens der Flüchtlinge zum Ziel hat, rückt ein klein wenig in die Ferne. Die Kinder und Eltern erleben im Kindergarten: Hier kann ich da sein. Hier kann ich anders atmen und leben. „Wir wollen den Leuten hier so etwas wie einen Freiraum bieten. Wir wollen das belastete Leben etwas leichter machen“, sagt Katja Romberg. Manchmal kommen dann auch Mütter mit einem Brief vom Asylamt, und sie lesen vor, was dort geschrieben steht: dass ihr Antrag auf Asyl angenommen wurde. Sie können jetzt bleiben. Dann zieht ein Lächeln über ihr Gesicht, und sie atmen auf.
Eine Krippe als Entdeckungsort
Die Kinderkrippe ist nicht bloß ein Gegenort, sie ist ebenfalls ein Entdeckungsort. Hier wird die Überschreitung, die der Ort ermöglicht, nicht bloß kritisch, indem er prekäre Lebensbedingungen aufdeckt, hier wird er auch konstruktiv. Er entlarvt die Mächte, denen die Flüchtlinge unterworfen sind, und führt zugleich auf anderes Terrain, er erschließt andersartiges Leben. Er ist wirklich eine Krippe, ein kleiner Geburtsort.
Es ereignen sich erstens Entdeckungen in kultureller Hinsicht. Beispielsweise bei den Feierlichkeiten im Kindergartenjahr, sei es bei religiösen Anlässen wie Sankt Martin oder den Sommerfesten. Dann bringen die Menschen kleinere Speisen aus ihren Herkunftsländern mit, und es wird geteilt. Die Gerüche und Gesten durchmischen sich. Mit dem, was Menschen mitbringen, zeigen sie etwas sehr Persönliches. Einmal brachte eine muslimische Frau ein selbst gebackenes Brot ihrer Heimat mit. Es wurde dann gemeinsam gebrochen und verteilt. Ein solches Sharing ermöglicht kulturellen Kontakt, Einblicke in die Kunst des Alltags der jeweiligen Menschen. Es lässt die Geschichten sichtbar werden, die sich in die Gesten und Gaben eingeschrieben haben.
Entdeckungen ereignen sich auch in Sachen Religion. Am 11. November findet beispielsweise ein Martinszug statt. Der Kindergarten befindet sich in Trägerschaft der Kirchenstiftung der Pfarrei sowie der Caritas. Deswegen legt man Wert auf katholisches Profil und gestaltet im Laufe des Kindergartenjahres die klassischen Feste mit kleinen Andachten, religiösen Feiern oder Treffen. So auch den Martinszug. Auch die muslimischen Eltern der Flüchtlingskinder sind eingeladen. Und sie kommen tatsächlich dazu, wenn sich eine alte Routine ändert: wenn der Martinszug nicht in der Kirche stattfindet, sondern auf dem Platz davor. Der Innenraum der Kirche mit dem Kreuz auf dem Dach würde einige der Leute abhalten, er würde sie in gewissem Sinne ausschließen, weil sie ihrer religiösen Gesinnung nach den Raum nicht betreten möchten. Also hat man sich auf einen Ortswechsel geeinigt: Der Martinszug und die damit verbundene kleine Andacht finden einfach vor dem Kirchenraum statt, direkt vor der Türe auf dem geschotterten Platz. Dann kommen fast alle.
Religion ist für die Leute da.
In gewisser Hinsicht dreht sich dadurch die Bedeutung des kirchlichen Rituals um. Die Leute kommen nicht, damit es stattfinden kann. Die Leute sind nicht für die Religion da. Sondern es findet statt, damit die Leute kommen, und damit soziale Begegnungen möglich werden, die einen Zuwachs an Gemeinschaft und Verständnis versprechen. Die Religion ist für die Leute da. Sie tritt in den Dienst an der Entfaltung ihres Lebens. Das verändert sie: Es nötigt ihr einen Ortswechsel auf. Sie verliert damit ein Stückweit auch ihre definitorische und inklusive Macht. Sie entäußert sich dadurch, erzeugt aber zugleich einen wirklichen Lebensraum. Er ist angefüllt mit Respekt vor der Eigenständigkeit der fremden Religionen und der Würde ihrer Gläubigen, und er vermehrt und intensiviert die sozialen Beziehungen. Er hat Autorität.
Entdeckungen ereignen sich auch hinsichtlich der Sprache: Die Kinder verstehen sich untereinander verbal nicht. Viele sprechen die Sprachen der anderen nicht, und auch das Deutsche taugt am Anfang nicht als koiné. Kinder lernen üblicherweise rasch fremde Sprachen, zumal wenn sie im Land der Sprache selbst leben. Aber im Kindergarten passiert noch mehr. Die Kinder entwickeln eigene Sprachen. Sie kommen bisweilen ganz ohne gesprochene mündliche Wörter aus, sondern verständigen sich durch Gesten, Blicke, Handzeichen. Darin gehen sie über die herrschenden Sprachen hinaus. Sie praktizieren das mit großer Achtsamkeit. Im Schweigen der Wörter öffnet sich ein Mikrokosmos an Gesten und Bedeutungen, die anders sind. Sie sind von einer unmittelbaren Präsenz der Kommunizierenden füreinander gekennzeichnet, echten Begegnungen jenseits der üblichen, routinierten, standardisierten Kommunikation. Etwas ganz verborgen Reales und Singuläres zeigt sich da manchmal im Zwischenraum der kleinen Gesten der Kinderhände. Das lässt sich wirklich sehen und beobachten: Während des Gesprächs mit Katja Romberg in einem der Gruppenräume kommen plötzlich zwei kleine vielleicht 4-jährige Mädchen in den Raum; die eine aus Albanien, die andere aus Syrien. Sie sprechen noch keine gemeinsame mündliche Sprache. Doch in der kurzen Begegnung mit den beiden ist etwas Anderes zu beobachten. Nachdem die beiden den Raum betreten haben, blicken sie sich kurz an, tippen sich auf die Schulter, zeigen schweigend mit ihren Händen in eine der Spielecken, nicken sich kurz zu und gehen dann nebeneinander dorthin. Die Szene dauert nur kurz, aber darin äußert sich eine Freundschaft und mit ihr ein andersartig erfülltes Leben.
Der Kindergarten dort im Industriegebiet hat etwas sehr Kreatives. In ihm weht ein wirklich schöpferischer Geist. Und er befähigt Menschen, in anderen Sprachen zu sprechen. Er ist ein Entdeckungsort für’s Leben. In ihm werden gesellschaftliche Erfahrungen der Gewalt, der technisierten Bürokratie und der Vertreibungen überschritten. Die Ohnmachtserfahrungen der Kinder werden zu einem Ort, aus dem sich neues Leben verbreiten kann. Der Kindergarten gewinnt darin eine Autorität, eine Urheberschaft, die das gemeinsame Leben anders ermöglicht und zur Sprache bringt. Er gibt Impulse – und sei es ganz im Kleinen und in den Gesten des Teilens und Zeigens –, wohin eine europäische Gesellschaft insgesamt gehen kann: in ein Jenseits der herrschenden Ordnungen hin zu andersartigen Formen der Sprachen und des Lebens, die ein „Mehr“ an Sozialität erschließen, weil sie offene Andersheit statt inklusive Identifikation zu ihrem Prinzip gemacht hat.
Dem humanen Gehalt praktisch nicht ausweichen
Der Kindergarten Heiliggeist ist also ein besonderer Ort: Er ist ein Ort von Freude und Hoffnung sowie von Trauer und Angst der Menschen, die aus den Fluchterfahrungen kommen. Im Kindergarten – so klein und unscheinbar wie er zunächst wirken mag – finden sich die großen Themen der globalisierten Welt. Wer dorthin gelangt, trifft auf die topoi der Migration, der Armut, der Verfolgung, der Heimatlosigkeit. Sie sind Menschheitsthemen und Zeichen unserer Zeit. Sie verdichten sich in den Kindern. Diese stehen exemplarisch für die Ohnmacht der Flucht und des obdachlosen Lebens schlechthin. Was dort im Kindergarten passiert – auch die ganz kleinen Gesten – hat deshalb eine sehr weite, globale Signifikanz. Dorthin müsste sich der Welten Lauf ändern. Dorthin müssten die Wege führen und darauf verweisen. Und hier im Industriegebiet am Rande der Stadt zeigt sich, dass es wirklich möglich ist. Hier wird sichtbar, was die Kirchenkonstitution Gaudium et spes meint, wenn sie von den „wirklich humanen Lösungen“ spricht, auf die der Geist der Menschen hinorientiert werden kann (GS 11).
Das hat Ausstrahlung, im wahrsten Sinne des Wortes: Die Würzburger Lokalzeitung Mainpost hat mehrfach berichtet, dann klopften andere regionale Zeitungen an, später der Bayerische Rundfunk und die Süddeutsche Zeitung. Vor kurzem gab Katja Romberg erstmals ein Interview am Telefon für die BBC. Es entsteht ein Gegendiskurs, der ein Leben aus der Ohnmacht anders ermächtigt und artikuliert.
Ortswechsel eröffnet Lebensräume
Vom Kindergarten Heiliggeist geht aber auch eine Vielzahl von Impulsen für Theologie und Verkündigung aus. Beispielsweise für den interreligiösen Dialog: Von den beiden Mädchen könnte man lernen, wie spielend leicht es gehen kann, die Sprache des Glaubens, Dogmen und ihre definitorische Macht, zu überschreiten, um einen Ortswechsel anzuzeigen. Das öffnet wissentlich Lebensräume. Damit ist die Differenz berührt zwischen der Macht der Worte und der Sprachen einerseits und der Erfahrung eines ohnmächtigen Schweigens, das sich dann einstellen kann, wenn man es mit einem je größeren und immer andersartigen Gott zu tun bekommt. Es gehen zweitens Impulse aus für die Ekklesiologie: Inwiefern kann Kirche gerade durch einen Ortswechsel wirklich umkehren? Indem sie ihr Inneres äußert, stellte sie sich in den Dienst an den Menschen, ohne diese gleich zu Bediensteten ihres Inneren zu machen. Solche ekklesiologische Inversionen geben ein ganz anderes Standing in den Konflikten der Gegenwart. Vor allem durchbrechen sie ein narzisstisches Kreisen um sich selbst. Es würde drittens Impulse ausgehen für eine Pneumatologie. Der Heilige Geist ist im Kindergarten in Unterdürrbach nicht nur im „Konzept“, also im Namen und den pädagogischen Leitideen aufzufinden. Man kommt auf seine Spur im belebten Raum, im espace vécu (H. Lefebvre), der sich in den Mikroüberschreitungen der Interaktion der Kinder im Spielen und Gestikulieren öffnet. Hier zeigt sich eine Größe, die in den prekären Lagen menschlichen Lebens auf andere Weise „Herr ist und Leben schafft“. Alle diese Themen wären interessant zu vertiefen.
Vor allem aber werden Theologie und Verkündigung hier auf ihre Authentizität hin befragt. Wenn sie der Realität der Kinder, Familien und Mitarbeiterinnen im Kindergarten Heiliggeist nicht ausweichen, dann kann sie das ehrlicher machen. Denn es stellt ihnen die Fragen nach ihrem insgeheimen Stil und Ort: Sprechen Theologie und Verkündigung doch insgeheim von Idyllen und bewegen sich auf sicherem und stabilem Terrain? Machen sie Worte und bieten sie Reflexionen an, die schön und passend sind, aber gesellschaftlich nicht wirksam werden? Oder gelingt es ihnen, einen echten Gegendiskurs zu markieren, der an den Ohnmachtserfahrungen der Menschen von heute ansetzt, ihnen Gesicht und Stimme verleiht und den Glauben an Gott zu einer Größe macht, die tatsächlich Humanisierungseffekte erzeugt? Das würde bedeuten, dass man sich wirklich an die Orte begibt, an denen Menschen leben. Dort kann man sich intellektuell zur Verfügung stellen und in Anspruch nehmen lassen. Theologie wäre dann nicht nur eine Bibliothek, kirchliche Verkündigung keine gähnend leere Halle. Sondern sie beide würden zu Krippen, in denen sich neues Leben zeigte und Kinder zu spielen begännen. Sie wären Geburtsorte andersartigen Menschseins.
Es gibt die Todesorte in unseren Gegenden, die Dystopien. Salzhemmendorf ist ein Beispiel unter vielen. Doch es gibt auch die andersartigen Orte wie die Kinderkrippe in Unterdürrbach, die Heterotopien. Sie überschreiten das Bedrängende und Beherrschende anderswohin und werden zu rauchbefreiten Kinderkrippen mit theologischer Autorität.
Christian Kern
Bildquelle: http://www.bayerische-staatszeitung.de/staatszeitung/politik/detailansicht-politik/artikel/die-noete-der-erzieher.html