Ist die Ausbildung pastoraler Berufsgruppen überhaupt noch sinnvoll und zu verantworten angesichts des Kollaps der kirchlichen Strukturen, des Einbruchs der Mitgliederzahlen und der daraus resultierenden Grabenkämpfe innerhalb der Kirche? Woraufhin sind junge Menschen angesichts dieser Situation auszubilden? Annette Stechmann geht diesen Fragen nach und findet Antworten in einer Klinik als einem existentiellen Anders-Ort von Kirche.
Kirche bricht zusammen. Das provoziert unterschiedlichste Reaktionsweisen, die keineswegs immer weiterführend sind. Da schwärmen manche angesichts dieser Situation von Aufbruch, andere träumen auf Twitter davon, eine andere Kirche oder ein „ökumenisches Bistum“ zu gründen. Manch einer versucht in der Zeit von Orientierungslosigkeit und zunehmender Heimatlosigkeit, in freikirchlichen und auch fundamentalistischen Strömungen neuen Halt zu bekommen. Auch die Leib-Christi-Ekklesiologie, die schon häufiger den theologischen Nährboden für eine Sakralisierung der Institution geboten hat, nimmt wieder Fahrt auf.[1]
Sämtliche Überlegungen, Kirche zu optimieren oder zu retten, haben laut Pollack und Rosta kaum Erfolg. Diese beiden Soziologen belegen in ihrem Buch „Religion in der Moderne“[2] empirisch, dass Kirche nicht mehr selbst über ihre Zukunft bzw. ihre Bedeutung entscheiden kann. Sie ist abhängig vom Nutzungsverhalten und der Zustimmung ihrer Mitglieder, wie Bucher mit dem Begriff „autologisches Dispositiv“ deutlich gemacht hat. (https://www.feinschwarz.net/nach-volk-und-strasse-riechen-der-ort-von-theologie-und-lehramt/)
Spuren Gottes in dieser Welt
Wenn Kirche eine Zukunft haben will, wird sie diese nur haben, wenn es ihr nicht um sie selbst geht. Kirche wird nur eine Zukunft haben, wenn es den einzelnen Mitgliedern gelingt zu fragen: „domine, quo vadis?“ („Herr, wohin gehst du?“). Sich auf die Suche nach den Spuren Gottes in dieser Welt zu machen, könnte ein lohnender Weg sein, der im II. Vatikanum in der Polarität von Kirchen- und Pastoralkonstitution vorgezeichnet ist.
Spuren Gottes finden sich an Orten, an denen Gott eine Bedeutung hat, wo er/sie „vorkommt“. Diese existentiellen Orte finden sich nicht vornehmlich in den Ruinen vergangener Macht, sondern dort, wo Menschen leben. Sie können als kirchliche und theologische Andersorte Perspektiven bieten.
Ein beispielhafter Ort dafür ist die Klinik. Es gibt in der Klinik eine existentielle Wucht, der auszuweichen bedeuten würde, die Sendung der Kirche durch Gott aufzugeben. Gott hat hier Bedeutung – und zwar nicht, weil Klinikseelsorge als kirchliche Institution ihn/sie in das Leben oder gar das Leiden von Menschen hineinträgt, ihn/sie in die existentiellen Fragen von Menschen hineinzwängt, um ihm/ihr Relevanz zu verschaffen, sondern seine/ihre Bedeutung zeigt sich in den „eigenen Theologien“[3] von Menschen, die sie angesichts ihres Leidens, ihres Hoffens, ihrer Trauer und Ohnmacht entwerfen.
Haltung der Zärtlichkeit als angemessene Antwort auf die Endlichkeit des Lebens
Klinikseelsorge arbeitet also nicht im theologiefreien Raum. Das hat Bedeutung für ihre Formatierung. Es ist nicht die Aufgabe, die „eigenen Theologien“ dieser Menschen zu kontrollieren. Es ist aber ebenso nicht die Aufgabe von Klinikseelsorge, den christlichen Gottesbegriff in diese Theologien zu implementieren. Stattdessen zeigt sich, dass ihre zentrale Aufgabe ist, in einer Haltung der Zärtlichkeit, die die angemessene Antwort auf die Endlichkeit des Lebens ist (Isabella Guanzini), mit den kranken, leidenden, sterbenden Menschen unterwegs zu sein.
Es geht also nicht vornehmlich darum, Kirche um ihrer selbst willen an diesem existentiellen Ort anders zu erfinden, sondern es geht in der Klinik darum, mit Menschen unterwegs zu sein unter dem Horizont der Gottesherrschaft, Menschen zu ermöglichen, von Gott zu sprechen, von ihm zu schweigen, ihn anzuschreien, mit ihm zu ringen. Als Mensch ein Ort zu sein, der es ermöglicht, Resonanzraum für all das zu sein, macht Gott nicht präsent, denn er ist es längst. Aber es gibt ihm/ihr sprachliche Repräsentanz, die ausgesprochen, miteinander beschwiegen, bestaunt, bekämpft, etwas im Leben der Kranken und Leidenden verändern kann.
Keine Macht über Gott
In der Klinik zeigt sich sehr deutlich, dass Kirche keine Macht über Gott hat, dass sie nicht über Gottes Präsenz in der Welt bestimmen kann. Er/Sie ist der/die Allmächtige, der/die ÜberallSeiende. Die daraus folgende Demut und eine Ahnung davon, dass Gott nicht nur in Vergangenheit oder ferner Zukunft zu finden ist, sondern vor allem und gerade in der Gegenwart, sind hilfreiche Werkzeuge einer Klinikseelsorge.
Entdeckungslustig zu suchen, wo Gott in der Welt gegenwärtig ist, zu überlegen, was Arme, Trauernde, Gefangene von Kirche brauchen könnten, bedeutet vor allem, mit diesen Menschen in Kontakt zu gehen, ihnen zuzuhören und nicht schon vorher Antworten parat zu haben. Nötig ist eine Offenheit für die konkreten Menschen, die da sind. Hilfreich sind Respekt vor diesen Menschen und eine geradezu heilige Scheu, vor dem, wie sie ihr Leben leben, mit Leid und Krankheit umgehen und die Spuren Gottes in ihrem Leben zur Sprache bringen. So versteht sich Kirche als Sakrament, das heißt als Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit (LG 1).
„Domine, quo vadis?“
Diese Frage, „domine, quo vadis?“ und damit die Ekklesiologie des II. Vatikanums geben Orientierung in der Frage, ob und wie überhaupt noch pastorales Personal ausgebildet werden kann. Junge Menschen als Kanonenfutter für zusammenbrechende Strukturen zu missbrauchen, verbietet sich nicht nur nach den obigen Ausführungen. Sich stattdessen an ihnen und ihren Berufungen zu orientieren, ist quasi die Richtschnur einer als geistlicher Weg verstandenen Berufseinführung im Bistum Hildesheim.
In einer vernetzten Ausbildung pastoraler Dienste, die Raum für Vielfalt bietet, gilt deshalb: Den jungen Menschen ist die Freiheit der eigenen Formatierung ihrer Nachfolge zu lassen. Sie selbstständig, aber gleichzeitig nicht alleine zu lassen, bedeutet Spurensucher/innen der Gegenwart Gottes auszubilden. Diese Grundhaltung von Freiheit und Förderung ist entscheidend. Sie ist eine Haltung, mit der Priesteramtskandidaten, Diakonatsanwärter, Pastoral- und Gemeindeassistent/inn/en selbst unterwegs sein sollen und anderen Menschen begegnen sollen.
Keine dieser Berufsgruppen liefert allein die Lösung für alle anstehenden Herausforderungen. Vielfalt ist ein richtiger Weg von Kirche in der Postmoderne. Die Haltung, den/die Andere/n als wichtige Ergänzung seiner/ihrer selbst in Nachfolge und Spurensuche zu erkennen, prägt dieses Ausbildungssystem im tiefsten und ist Ausdruck einer Kirche, die fragt „Domine, quo vadis?“.
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Dr. Annette Stechmann, Katholische Klinikseelsorge Universitätsmedizin Göttingen; Ausbildungsleiterin für Pastoralassistent/inn/en in der vernetzten Ausbildung pastoraler Dienste „Raum für Vielfalt“ im Bistum Hildesheim.
[1] Vgl. Matthias Reményi, Die Kirche als Leib Christi. Geltung und Grenze einer umstrittenen Metapher, Freiburg/Br. 2017
[2] Detlef Pollack/Gergely Rosta, Religion in der Moderne, Frankfurt/M. 2015.
[3] Annette Stechmann, Das Leid von Müttern totgeborener Kinder. Ein Ort der Theologie, Würzburg 2018.
Photo: Rainer Bucher