Die neuen Medien beeinflussen das Selbst-Bild der Generation der Digital natives. Was die „Selfie-Kultur“ mit der Ekklesiologie zu tun hat, reflektiert Edmund Arens.
Im Mai 2015 fand an der Päpstlichen Salesianer-Universität in Rom ein hoch interessanter Kongress statt über „Jugendkatechese und Neue Medien“. Da ich weder des Italienischen mächtig bin noch mich mit Jugend, Katechese und/ oder Neuen Medien beschäftige, wollte ich die Einladung dorthin zunächst gar nicht annehmen, habe das aber zum Glück dennoch getan. Denn im römischen Frühling habe ich nicht nur Norbert Mette wiedergetroffen, sondern auch ein fantastisches Referat des Mailänder Psychologieprofessors Giuseppe Riva gehört. Es ging darin um „Neue Medien und Identität. Der Einfluss neuer Technologien auf die Subjektivität des Individuums.“
Anhand eindrücklicher, von ihm aufgezeichneter Video-Sequenzen seiner kleinen Tochter, legte Riva dar, dass und wie der Gebrauch der Neuen Medien die Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Bedürfnisse und Präferenzen bereits von Kleinstkindern verändert. Mit dem väterlichen Tablet hatte die kleine Göre sichtlichen Spass. Sie wischte nach vorne und nach hinten, ergötzte sich an den bunten bewegten Bildern und quiekte vor lauter Lust. Auf dem Tablet war eine Bildergeschichte für Microkids zu sehen. Als der Vater seiner Tochter sachte das Tablet entzog und ihr stattdessen ein Bilderbuch vorlegte, versuchte die Kleine zunächst, auch die Bilder im Buch durch Wischen auf Trab zu bringen. Als ihr das nicht gelangt, warf das gelangweilte Kind das Buch weg.
… wie der Gebrauch der Neuen Medien die Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Bedürfnisse und Präferenzen bereits von Kleinstkindern verändert.
Rivas Fazit: Die jetzigen und nächsten Generationen, welche im elektronischen Zeitalter aufwachsen, lesen keine Bücher mehr. Diese Binsenweisheit kennen ProfessorInnen bereits von ihren Studierenden her. Aber das Dramatische der aktuellen Veränderung im Mediengebrauch besteht laut Riva darin, dass die kommenden Generationen, ein wenig kulturpessimistisch formuliert, keinen oder höchstens einen elektronisch portionierten Zugang zu den spirituellen und intellektuellen Schätzen unserer Kultur und anderer Kulturen haben dürften. Manche Bildungsmanager finden das voll in Ordnung. An diesem, von der Aufklärung und der Kritischen Theorie her betrachtet, konter-revolutionären Wandel ist natürlich nicht das Tablet schuld. Jener Wandel wird bereits seit über 20 Jahren durch die Bologna-Ökonomisierung der Universitäten schamlos betrieben.
Aber wenn Augustinus und Paulus, Habermas und Hannah Arendt, Dostojewski und Judith Hermann nur noch auf dem wie immer weiterentwickelten Tablet oder I-phone3000 husch-husch konsumiert werden, dann schlägt die Ökonomisierung aller Lebensbereiche in Totalität um.
Giuseppe Riva hat noch an einem anderen signifikanten Beispiel die durch die Neuen Medien erfolgende fundamentale Veränderung deutlich gemacht: am Unterschied zwischen Porträt und Selfie. An einem Porträt (ob gemalt oder fotografiert) von mir ist immer eine andere Person beteiligt, die mich in ihren Rahmen stellt und einen von ihr bestimmten Moment meiner Existenz festhält. Das Selfie, so Riva, ist die dagegen reine narzismusgesättigte Selbstbespieglung. Schaut mal wie toll ich bin. ICH-Fixierung, ICH-Feier. Selbstverlust.
Das Selfie, so Riva, ist … reine narzismusgesättigte Selbstbespieglung.
Nach Rivas Vortrag bat mich der Tagungsleiter spontan und ohne vorherige Absprache, auf Kollege Rivas Vortrag zu reagieren. Als ich zum Mikrophon ging, fiel mir zum Glück – dem Geist, welchem auch immer, sei Dank – das Folgende ein: Der Unterschied zwischen Porträt und Selfie lässt sich mühelos auf die katholische Kirche anwenden. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat die katholische Kirche etwa durch die Einladung ökumenischer Beobachter (leider noch keiner Beobachterinnen) einen entscheidenden Schritt von der Selfie-Church zur Porträt-Kirche gemacht, welche sich in den Rahmen stellt, den ihr die Aussenwelt gibt. Seit der Bischofssynode von 1975 mit ihrem wandlungsfähigen Sekretär Walter Kasper ist mit der lehramtlichen Forcierung der Communio-Eklesiologie die Selfie-Church unter massgeblicher Mithilfe einstiger deutscher Theologieprofessoren reanimiert worden. Unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. hat die Selfie-Church etwa bei den medial perfekt inszenierten Weltjugendtagen weltweite Triumphe gefeiert. Dieser Neo-Triumphalismus war am 13. März 2013 schlagartig zu Ende, als ein kleiner, rundlicher Kardinal aus dem fernen Argentinien auf die Loggia trat und die auf dem Petersplatz Versammelten mit „buona sera“ begrüsste. Franziskus kam mit dem Porträt-Blick von aussen, von den Armen der Zweidrittelwelt ins Konklave, und seitdem, dem Heiligen Geist sei Dank, erleben wir, wie sich eine Selfie-Church in eine Porträt-Kirche verwandelt, in der statt des triumphierenden der in den Armen leidende Christus mit und durch Franziskus ins Bild kommt.
Franziskus kam mit dem Porträt-Blick von aussen, von den Armen der Zweidrittelwelt
Während die restaurativen ausserordentlichen Bischofssynoden der Selfie-Church gehuldigt haben, zeichnet die gerade zu Ende gegangene erste wirklich synodal agierende, nämlich als gemeinsame, den Stolpersteinen nicht ausweichende und den Streit nicht administrativ oder papalistisch abwürgende Bischofssynode (in Rom gibt es mehr als genug Geschäftsordnungshengste) das Bild einer Porträt-Kirche. In letzterer war der Rahmen der der weltweiten Probleme von Ehe und Familien, Sexualitäten und Lebensformen. Diese Knackpunkte kamen nicht nur auf den römischen Tisch, wurden nicht weggewischt, sondern ausgesprochen und im Streit um die Wahrheit mal besser, mal dürftiger bearbeitet. Die Synode hat sicher nicht das Optimum aus der Porträt-Kirche herausgeholt, aber sie hat – lang lebe Franziskus! – das Porträt einer weder heillos zerstrittenen, noch einer communiomässig uniformierten Kaderkirche geboten. Eine deliberative, kommunikative Kirche trat da ins Bild, eine Kirche wie im richtigen Leben, in der Platz ist für schwule Asketen und Zweiteheathleten, PatchworkerInnen und geweihte Jungfrauen.
(Edmund Arens)
Buchhinweis und Grafik:
La catechesi dei giovani e i new media. Nel contesto del cambio di paradigma antropologico-culturale, a cura di C. Pastore e A. Romano, Torino 2015