Viele Diözesen und Bistümer haben bereits einen umfassenden Reformprozess eingeleitet oder stehen kurz davor. Die Church of the Nativity in Baltimore, Maryland, geht seit Jahren einen Weg, der auch im deutschsprachigen Raum Interesse geweckt hat.[1] Florian Mittl über eine wachsende Kirche in den USA.
Spricht man hierzulande über erfolgreiche Kirchen in den USA, wird man oft mit zwei Einwänden konfrontiert: Die USA kann man nicht mit Europa vergleichen. Und dieses enorme Wachstum kann es nur in evangelikalen Megakirchen geben, deren Spiritualität mit der katholischen schwer vereinbar ist. Natürlich gibt es (teilweise eklatante) kulturelle Unterschiede zwischen alter und neuer Welt, aber es ist auch unumstritten, dass wir uns in der „Westwindzone“ befinden und stark von Technologie, Medien, Musik, Mode, Filmen, Literatur, Sport etc. aus den Staaten beeinflusst sind. Also warum nicht auch im kirchlichen Bereich positive Beeinflussung zulassen?
Pfarrer Michael White und Pastoralassistent Tom Corcoran haben tatsächlich von einer evangelikalen Kirche und Mega Church gelernt, nämlich der Saddleback Church in Kalifornien. Resultat: Die Church of the Nativity ist heute immer noch katholisch, nur ungefähr viermal so groß wie früher.
Consumer culture
Als sich eine Frau vor ungefähr 15 Jahren bei einer Veranstaltung in der Fastenzeit sehr unhöflich über ein (Gratis-)Essen beschwerte und schnell von anderen Personen darin unterstützt wurde, beschloss Michael (der selbst servierte), dass etwas geschehen musste.
Zwei Dinge wurden klar: Erstens hat Kirche in den meisten Fällen schlicht zu wenig zu bieten. „We’re boring and bad; we’re irrelevant in people’s lives (…).”[2] Zweitens sind wir in einer consumer culture gefangen, in der viele Gläubige erwarten, bedient zu werden und sich nicht einbringen, sich jedoch sofort beschweren, wenn etwas nicht ihren Vorstellungen entspricht. Das Höchste der Gefühle in Nativity war es, Pfarrmitglieder dazu zu bewegen, an diversen Angeboten teilzunehmen, aber kaum jemand konnte sich wirklich mit Kirche und Pfarre identifizieren. Die Sonntagspflicht war eine echte Pflicht, die die Menschen nicht veränderte. „My parish was sleepy, people came as consumers, our job was to satisfy their consumerism.”[3]
Wie muss Kirche sein, damit jemand, der sich zu uns „verirrt“, Lust bekommt, wieder zu kommen?
Bei ihrem Besuch der Saddleback Church erleben Michael und Tom dann zwei „Schocks“. 1) Das Kirchengebäude sieht aus wie ein „Wallmart with chairs“[4]. Offensichtlich werden hier der Ästhetik andere Werte vorgezogen. 2) Die beiden werden freundlich aufgenommen. „They were so nice, so happy, so happy that we were there. I went outside to come in again [bei einem anderen Eingang] to see if the friendly welcome would happen again. It did.”[5] Die Mitglieder dieser Kirche hatten also tatsächlich Freude an ihrem sonntäglichen Feiern.
Kirche für kirchenferne Menschen
Michael und Tom beschließen fortan, alles auf kirchenferne Menschen auszurichten und ihre Pfarre aus deren Blickwinkel zu sehen. Wie muss Kirche sein, damit jemand, der sich anlässlich einer Taufe, eines Begräbnisses oder an einem hohen Festtag zu uns „verirrt“, Lust bekommt, wieder zu kommen? Im Folgenden ein paar konkrete Faktoren:
1) Irresistible welcome. Man muss spüren, dass die Pfarrmitglieder gerne kommen, dass sie authentisch sind, dass sie um einander und um Besucher bemüht sind. Kirchenferne Menschen sollen sich wohl fühlen. Auf ihre Bedürfnisse muss eingegangen werden. Nativity liegt im Vorort „Timonium“, einer Gegend der weißen, gehobenen Mittelschicht. Der „Prototyp“ des dort lebenden kirchenfernen Mannes ist Timonium Tim, wie er liebevoll genannt wird. Timonium Tim wird in jeder Pfarre etwas anders aussehen, aber es ist wichtig, ihn/sie wahrzunehmen und konkret auf seine/ihre Bedürfnisse einzugehen
2) Prioritize the weekend experience. Ist die Sonntagsmesse langweilig, wird Timonium Tim daraus schlussfolgern, dass wir langweilig sind, schlimmer noch: dass Gott langweilig ist. Zu einem gelungenen Sonntagserlebnis gehört wesentlich die Musik. In Nativity musizieren nur Profimusiker/innen, die einen Mix aus Worshipmusik mit Elementen des gregorianischen Chorals (rund um die Wandlung) bieten. Diese Mischung hat sich nach vielen Experimenten als die für Nativity am besten geeignete und zugängliche erwiesen.
Sehr viel Wert wird auf die Predigt gelegt, die Kinder besuchen währenddessen einen auf ihr jeweiliges Alter abgestimmten Wortgottesdienst, der vor allem eines macht: Spaß. Das Evangelium wird nebenbei nahegebracht. Für die wöchentlichen Treffen in sogenannten small groups, die von 1200 Personen besucht werden, gibt es einen zusätzlichen Input sowie Impulsfragen, die das Gespräch in den Gruppen anregen sollen.
3) Turn consumers into ministers and disciples. Der Pfarrer muss nicht alles managen, nicht bei allen Sitzungen etc. dabei sein, sondern sich auf seine eigentlichen Aufgaben konzentrieren können. „My job is to lead and to feed“[6] sagt Michael und konzentriert sich daher auf die Spendung der Sakramente und die Predigt. Unter Leitung versteht er, seinen Mitarbeitern im Rahmen einer gabenorientierten Mitarbeiterschaft möglichst viel Raum, Verantwortung und Autorität zu geben. Michael selbst ist eher introvertiert, ein sehr guter Redner, aber kein Entertainer. Er stellt sich in den Dienst und nimmt sich zurück, wo es ihm möglich ist. Er bringt sich ein, wo es ihm notwendig erscheint.
Die Pfarrmitglieder werden eingeladen, einen Dienst (ministry) zu übernehmen. Every member a minister, ist das Motto. Diese rangieren von Parkplatzeinweisung zur Info-Theke (nimmt der Pfarrsekretärin viel Arbeit unter der Woche ab) und komplexeren Aufgaben, an die jeweiligen Interessen und zeitlichen Ressourcen angepasst.
4) Vision matters. Am Anfang jeglichen Aufbruchs steht eine Vision, die oft sehr weit von der Realität entfernt zu sein scheint. Aber vielleicht ist das, was (noch) nicht ist, das was eigentlich sein sollte: „The vision is always solid and reliable. The vision is always a fact. It is the reality that is often a fraud.“[7] Vielleicht kann Kirche gerade angesichts von Priester- und Gläubigenmangel neu und umso ursprünglicher als aktive Gemeinschaft aller Getauften wachsen. Und vielleicht kann Kirche gerade deshalb wieder interessant für Kirchenferne werden. An der Church of the Nativity sind die Rahmenvoraussetzungen dafür geschaffen worden. Der Weg dorthin war und ist nicht einfach, impliziert viel Arbeit sowie die Bereitschaft, Komfortzonen zu verlassen und sich einem echten Mentalitätscheck zu unterziehen. Aber er führt zum Ziel.
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Florian Mittl ist promovierter Fundamentaltheologe und lehrt an einem Grazer Gymnasium
Bild: Pfarrer Michael White und Pastoralassistent Tom Corcoran (© Church of the Nativity)
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[1] Vor allem dank der Initiative von Dr. Georg Plank, dem Gründer von Pastoralinnovation. Vgl. www.pastoralinnovation.at
[2] White, Michael/Corcoran, Tom: Tools for rebuilding. 75 really, really practical ways to make your parish better, Notre Dame, IN, 2013, 295.
[3] White, Michael, Vortrag bei PfinXten 2017.
[4] Ibid.
[5] Ibid.
[6] White, PfinXten 2017.
[7] Chesterton, Keith Gilbert: Orthodoxy, NY 2004, 38.
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Bereits von Florian Mittl bei feinschwarz.net erschienen: