Pastorale Reisegruppen besuchen zur Zeit immmer wieder die Nativity-Church in Baltimore in den USA. Anni Findl-Ludescher war Teil einer solchen Gruppe und sendet in einem Livebericht erste Eindrücke von dort.
„Was inspiriert uns in Baltimore für unsere Kirchenpraxis in Österreich?“ Diese ‚Forschungsfrage‘, mit der eine Gruppe von 10 österreichischen Kirche-Leuten die Pfarre Church of the Nativity in Baltimore besucht, ist simpel. „Simple, but not easy“ haben wir oft gehört in Nativity. Das gilt auch für unser Vorhaben: Simple, but not easy.
„Simple“ deshalb, weil sowohl Zahlen und Fakten vorliegen und die Geschichte dieser Pfarre gut dokumentiert ist[1], „simple“, weil Georg Plank[2] diese Reise leitet und er vor uns schon mit anderen Gruppen dort war. „Simple“ auch deshalb, weil wir konzentriert Einblicke bekommen: einen Sonntag vor Ort miterleben, an einer Church-Conference teilnehmen, die von Nativity organisiert und inhaltlich gefüllt wurde. „Very simple“ also, alles wird auf dem Tablett präsentiert.
Unterscheidend kritische Inspirationsreise
„… but not easy“. Wir wollen ja nicht (nur) verstehen, wie und warum diese Pfarre wächst und gedeiht, sondern die Brücke zu unserer Kirchenrealität schlagen: eine unterscheidend kritische Inspirationsreise.
Die Beteiligung der volunteers bzw. „ministers“, wie sie hier genannt werden, ist einer der Leuchttürme von Nativity. Da lässt sich viel lernen. Warum sind so viele bereit, Zeit und Energie für die Pfarre zu investieren?
Es wird den Menschen leicht gemacht, ja zu sagen. Sie werden immer nur für eine bestimmte, überschaubare einfache Aufgabe gefragt und zunächst auch nur für eine kurze Zeit, für drei oder vier Einsätze. Sie werden aufmerksam bei ihrem Tun begleitet, stehen immer im Kontakt mit ihren „directors“, bekommen klare Hilfestellungen, ihr Tun wird evaluiert und sie werden gefördert. Man muss es den Menschen leicht machen, einzusteigen! Make it simple!
Priester, Hauptamtliche und männliche Ministranten
Zwei unterscheidend kritische Beobachtungen schließen sich daran an:
(1) Von diesen mehr als 800 ministers braucht es (fast) keine im Gottesdienst. Der Sonntagsgottesdienst, Herz und Aushängeschild der Pfarre, wird vom Priester und von hauptamtlichen MitarbeiterInnen durchgeführt. Sogar die Ministranten (hier fehlt kein Binnen-I) sind vom Priester ausgewählte junge Männer, die dafür bezahlt werden. Der Altarraum bleibt dem Priester und den Hauptamtlichen vorbehalten.
(2) Alle Freiwilligen, die eine Gruppe bzw. ein Treffen leiten, bekommen regelmäßig Hinweise für den Ablauf oder sogar ein ausformuliertes Drehbuch an die Hand. Daran sollen sie sich halten. Diese Hilfestellung ermöglicht den ministers einen leichten Einstieg in ihre Aufgabe und sie garantiert der Pfarrleitung die Durchsetzung ihres Prinzips „One Church one Message“.
Ich beobachte junge Mädchen, wie sie ein Kinder-Programm leiten: Das Drehbuch in der Hand lesen sie die – von Hauptamtlichen vorbereiteten – Dialoge, zur rechten Zeit wird das vorbereitete Video eingespielt und die anschließenden Fragen finden sich auch im Drehbuch. Eine macht das souverän, eine andere weniger. Sicher eine tolle Möglichkeit, in Leitungsaufgaben hineinzuwachsen. Authentizität zu fördern scheint weniger im Vordergrund zu sein.
Konsequente Ausrichtung auf „unchurched people“
Ein anderer Leuchtturm dieser Pfarre ist die konsequente Ausrichtung auf „unchurched people“. Der Gottesdienst, die Angebote der Pfarre, die Gestaltung der Räume, die Art des In-Beziehung-Tretens, etc.: All das soll attraktiv sein für „unchurched people“ aus dem Stadtteil. Ein Kernsatz der Pastoral lautet: „An invitation for the unchurched, a challenge for the churched people”
Wieder zwei unterscheidend kritische Beobachtungen dazu:
(1) Prototyp dieser Zielgruppe der unchurched people ist „Tim Timonium“. Auf diesen fiktiven Tim wird alles ausgerichtet. Er soll sich eingeladen und willkommen fühlen. Ihn möchten sie (wieder) in die Kirche bringen. Das bedeutet eine enge Fokussierung. Tim ist „gebildet, gut gekleidet und erfolgreich. Tim ist verheiratet und hat Kinder. Er hat ein schönes Haus und einen angenehmen Lebensstil. Er fährt ein tolles Auto. Tim arbeitet die ganze Woche über hart und hat an den Wochenenden gerne frei.“ (rebuilt 85 f.)
Diese „Tim- Zielgruppe“ ist im Blick bei der Raumgestaltung, bei der Auswahl der Musik, bei der Erstellung der Predigt, etc. Was hier geschieht, lässt sich vielleicht als „milieusensible Pastoral“ bezeichnen. Pastoral aber ist ein sich wechselseitiges Durchdringen von Evangelium und Kultur. In Nativity entsteht der Eindruck, dass die Kultur des Tim den Ton angibt. Bekommt die kritische Funktion des Evangeliums ihren angemessenen Platz? Papst Franziskus betont konsequent diese kritische Funktion des Evangeliums jeder Kultur gegenüber. Papst Franziskus wird während der gesamten church-conference in den Hauptvorträgen im Plenum nie zitiert. – Zufall?
Tim Timonium
(2) Tim ist ein Mann. „Wenn der Vater seine Rolle als spiritueller Führer ernst nimmt, scheinen Familien eher ein gottesfürchtiges Leben zu führen und ihre Kinder erfolgreich zur Jüngerschaft zu erziehen. Wenn Männer diese heilige Verantwortung vernachlässigen oder sie nur ihren Frauen überlassen, leiden viele Aspekte des Familienlebens, und die Einheit der Familie ist gefährdet.“ (rebuilt 87)
Manche mögen es mutig finden, diesen Fokus so klar zu setzen und offen zu legen. Es ist ja tatsächlich so, dass Männer auch in dieser Kirche Mangelware sind. 80% aller Freiwilligen (Ministers) sind Frauen. Auch in Nativity zeigt sich die gewohnte katholische Geschlechterverteilung: Die zentrale Leitung liegt bei den Männern, im erweiterten Kreis der Verantwortlichen finden sich dann sowohl Frauen als auch Männer und bei den Freiwilligen überwiegen schließlich die Frauen deutlich. Dass sie bewusst diejenigen in den Blick nehmen, die fehlen, ist vielleicht nachvollziehbar. Dass sie dazu diese konservative Geschlechtertypologie zementieren, ist selbstoffenbarend.
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Dr. Anni Findl-Ludescher ist stellvertretende Leiterin des Instituts für Praktische Theologie an der Universität in Innsbruck.
Bild: Pixabay
[1] http://www.churchnativity.com Michael White, Tom Corcoran, Rebuilt. Die Geschichte einer katholischen Pfarre, Deutsche Ausgabe: Pastoralinnovation 2016.
[2] http://www.pastoralinnovation.at/