Erst seit dem II. Vatikanischen Konzil setzt sich die katholische Kirche weltweit für den Schutz der individuellen Menschenrechte ein. Im Kircheninneren aber verfügen die Gläubigen kaum über menschenrechtlichen Schutz. Dies betont der Luzerner Kirchenrechtler Adrian Loretan im Interview mit dem Journalisten Beat Baumgartner.
Adrian Loretan, sich nach Aussen als Menschenrechtsanwalt einsetzen und nach innen diese Menschenrechte verletzen. Ist das nicht zutiefst kirchliche Doppelmoral?
A. Loretan: Seit Bischof Ambrosius von Mailand, das heißt seit dem 4. Jahrhundert nach Christus, verlangt die Kirche vom Staat, dass er sich für ihre Position einsetzt. Darum musste diese Kirche auch eine gewisse Loyalität zum Staat entwickeln, was ihr in faschistischen Staaten zum Verhängnis wurde. Dies geschah in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert etwa bei den menschenrechtsverachtenden Regimen in Spanien, Portugal und Italien. Seit dem Konzil von 1962 – 1965 vertritt die Kirche die Menschenrechte konsequent nach außen, alle Päpste seit dem Konzilspapst Johannes XXIII. stehen hinter dieser Position. Doch, so meine These: Wenn die katholische Kirche diese Menschenrechte nicht auch nach Innen umsetzt, ist ihr Zeugnis nach außen nicht glaubwürdig.
Die Kirche muss selbst die Menschenrechte umsetzen
Es geht also nicht nur um ethische, sondern rechtliche Fragen?
A. Loretan: Ja, die katholische Kirche muss dringend den nächsten Schritt machen und ihr Kirchenrecht ändern. Opfer sexueller Gewalt müssen in der Kirche rechtliches Gehör und Rechtsansprüche auf Entschädigung durchsetzen können vor den neu zu schaffenden Verwaltungsgerichten. Die Kirchenrechtsfrage wird für die katholische Kirche heute zum entscheidenden Punkt ihrer Glaubwürdigkeit. Die Kirche muss jetzt die Menschenrechte intern umsetzen, oder sie wird ihre Glaubwürdigkeit als Menschenrechts-Anwältin verlieren.
Warum ist das denn so schwierig, in der Kirche die Menschenrechte durchzusetzen? Gemäß kirchlicher Lehre haben doch alle Gläubigen aufgrund der Taufe gleiche Würde, darum auch gleiche Rechte und gleichen Verantwortung.
A. Loretan: Es geht um den Spagat zwischen Theologie und Recht. Man kann nirgends so gut aufzeigen, warum es gerade in der Kirche ein Rechtssystem braucht, wie am Beispiel der Menschenrechte. Das Konzil anerkannte theologisch die Würde der menschlichen Person und deren Rechte wie z.B. die gleiche Würde von Mann und Frau. Es betonte, dass es keine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts in der Kirche geben darf. Solange wir aber diese menschenrechtlichen Aussagen des Konzils nicht wirklich rechtlich verstehen, ist alles Makulatur. Bereits der Theologe Karl Rahner hat auf diesen anstehenden Strukturwandel der Kirche hingewiesen. Darum müssen gleiche Rechte von Mann und Frau, Kleriker und Laien, ein Diskriminierungsverbot in der Kirche, rechtlich einklagbar sein vor Verwaltungsgerichten. Unter Papst Paul VI. waren diese Verwaltungsgerichte geplant.
Kirchliche Verwaltungsgerichte waren bereits geplant.
Sehen sie da in Rom Fortschritte in Sachen Struktur-Reform?
A. Loretan: Die Mühlen mahlen in Rom nur sehr langsam. Meiner Meinung nach müssen darum Bischofskonferenzen oder Partikularkonzilien vorwärts machen. Auch Papst Franziskus hat ja die Diözesen ermuntert, nicht zuzuwarten, bis Rom z.B. das Zölibatsgesetz ändert.
Jene Leute, die in der Kirche um ihre Privilegien fürchten, wehren sich vehement gegen die Änderung der Strukturen. Sie wollen nicht, dass das veraltete Kirchenrecht geändert wird. Bis heute hatten zölibatäre Priester ganz automatisch alle Leitungsfunktionen in der Kirche inne, von der Pfarrei bis zur Weltkirche. Dies wird aber in Zukunft in der Kirche mit Sicherheit nicht mehr funktionieren: Denn Leitungsämter können schon im gelten Recht an Frauen oder nichtgeweihte Laien vergeben werden, so steht es im Kodex c. 129 §2.
Geht es bloß um Machtverlust?
Sie sagen vorher, dass Kirchenvertreter, die um ihre Privilegien fürchten, gegen eine Strukturreform der Kirche sind. Die Betroffenen haben Angst vor Machtverlust?
A. Loretan: Es ist ein psychologisches Problem. Mit Verweis auf Thomas von Aquin kann man sagen, gibt es in der Kirche nur ganz wenige verbindliche Vorschriften, die im Kern unveränderbar sind. Zum Beispiel können wir das Bischofsamt oder die Weihestruktur als solche nicht einfach weglassen. Aber bei deren Organisation sind wir sehr viel freier als wir meinen. Das ist auch die Meinung von Papst Franziskus in Evangelii Gaudium Nr. 43.
Sexueller Missbrauch ist also eine Form des Machtmissbrauchs. Noch immer gibt es aber Kirchenvertreter, die sich hier als Opfer einer Rufmordkampagne sehen. Doch eigentlich sind es nicht die Kirchenkritiker*innen, die den Ruf der Kirche zerstören, sondern die Missbrauchstäter selber.
A. Loretan: «Nicht die Aufklärung verletzt die Menschen und spaltet die Kirche, sondern die Verbrechen der sexuellen Gewalt und ihre Vertuschung,» schreibt der St. Galler Bischof, Markus Büchel, in einem im März 2019 publizierten offen Brief. Den Ruf des Priestertums haben in den letzten Jahren jene zerstört, die in den obersten kirchlichen Leitungspositionen waren und die kriminellen Vergehen von Priestern vertuschten und vor der staatlichen Justiz versteckten.
In Irland konnte man nachweisen: Wer als Laie sexueller Missbrauch in der Kirche verübte, wurde rausgeworfen, ein fehlbarer Priester wurde einfach versetzt. Und diese Praxis geschah in großem Stil und wurde jahrelang unter Verschluss gehalten. Der Dammbruch ist eigentlich erst in jüngster Zeit mit der Ausstrahlung wichtiger Spiel- und Dokumentarfilme passiert, etwa der Hollywood-prämierte Spielfilm Spotlight. Er zeigt auf, wie in der Erzdiözese Boston der sexuelle Missbrauch von 6% der Priester aufgedeckt wird. In Australien hat eine staatliche unabhängige Kommission gar 7 % der Priester als Sexualstraftäter bezeichnet.
Ungleiche Rechtspraxis für Priester und Nichtpriester
Aber darin ist ja die Dunkelziffer noch gar nicht enthalten?
A. Loretan: Richtig. Denn eine grosse Zahl der vor das Gericht kommenden Fälle kann nicht bewiesen werden. Wir reden hier nicht von ein paar einzelnen Missbrauchsfällen, sondern von einer weltweiten Organisation, die strukturell ihr Priester-Sexualstraftäter vor der staatlichen Justiz versteckt hat. Ein französisches Gericht hat den obersten katholischen Würdenträger Frankreichs, Kardinal Barbarin, wegen Vertuschung von Kindesmissbrauch verurteilt. Und wie wird Behinderung der Justiz in der Schweiz, in Österreich und Deutschland geahndet?
Zum Schluss, wann kommen denn endlich in der Kirche die grundlegenden Menschenrechte zum vollen Durchbruch?
A. Loretan: Bis 2023 soll der Frauenanteil in den Leitungspositionen der deutschen Diözesen und der überdiözesanen Institutionen auf ein Drittel und mehr gesteigert werden. Damit erwarten sich die Bischöfe zu Recht eine nachhaltige Veränderung in der Leitungskultur. Die Bischöfe haben also faktisch eine Frauenquote eingeführt, um die Diversifizierung der Leitungspersonen durchzusetzen. Die Zielvorgabe von einem Drittel von Frauen in Leitungspositionen werde 2023 überprüft, sagte Bischof Franz-Josef Bode (Osnabrück) vor kurzem.
Ich bin gespannt, welche strukturellen Veränderungen die Schweizer Katholikinnen und Katholiken ihren Bischöfen auf einem Partikularkonzil abringen werden. Diese notwendige Dezentralisierung der Problemlösungen wäre ganz im Geiste von Papst Franziskus, so sein apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium Nr. 16. Persönlich bin ich der Auffassung, wir leben in einem der spannendsten Momente der Kirchengeschichte: Die «Berliner Mauer» zwischen Klerus und Laien ist am Zerbrechen.
Wie können die Rechte von Kindern, Jugendlichen und Frauen in der Kirche geschützt werden vor dem Machtmissbrauch, der sexuelle Gewalt erst ermöglicht. Einklagbare Grundrechte sind ein Mittel, Macht zu begrenzen und Freiheit zu garantieren.
___
Das vollständige Interview ist ab August 2019 unter www.ite-dasmagazin.ch . zu lesen.
Autor: Beat Baumgartner, Journalist und Redakteur, Ebikon/Schweiz
Adrian Loretan ist Co-Direktor des Zentrums für Religionsverfassungsrecht der Universität Luzern. Kürzlich publizierte er: Wahrheitsansprüche im Kontext der Freiheitsrechte.
Foto: Sebastian Pichler / unsplash.com
Veranstaltungshinweis: «Freiheit und Religion»
Am 15. Mai (17.15-18.45 Uhr) befasst sich das Abendgespräch zu Freiheit und Religion der Universität Luzern mit dem Thema Menschenrechte. Professorin Julia Hänni spricht zu «Verfassungsrechtliche Handlungsinstrumente zur Stärkung der religiösen Freiheit», Professor Adrian Loretan zu «Auf der Suche nach der Freiheit. Ein kirchenrechtliches Plädoyer». Und die Politologin Elham Manea referiert über «Die Praxis des Islamischen Rechts und die Frauenrechte». Der Eintritt ist frei.