Wer verrät hier das Volk? Vielleicht ist es ja zu kurz gegriffen, die Schuld immer nur bei den Politikerinnen und Politikern zu suchen. Die Sozialethikerin Michelle Becka sucht nach Gründen für den gegenwärtigen Populismus in Politik und Gesellschaft.
Le Pen, Kaczynski, Wilders, Strache, Höcke … Die genannten Personen und die zugehörigen Parteien und Bewegungen lassen sich – bei allen Schwierigkeiten des Begriffs – als rechtspopulistisch bezeichnen. Den Rechtspopulismus prägt v.a. seine Anti-Establishment-Orientierung: Das „einfache“ Volk ergreift Partei gegen die herrschende Partei oder Elite. Zu der klaren Entgegensetzung von (moralisch reinem) Volk und korrupten Eliten kommt der Anspruch, allein die Interessen dieses Volkes zu vertreten. Die anderen Parteien setzen sich demnach nicht für die wahren Interessen des Volkes ein. Populismus ist antipluralistisch. Er wird autoritär, wenn er, um die eigenen Interessen durchzusetzen, demokratische Mitwirkung ignoriert und demokratisch legitimierte Verfahren umgeht (vgl. Müller, 1).
Was beschert dem Populismus derzeit solchen Erfolg?
Damit ist Populismus nicht klar bestimmt, und man könnte diskutieren, inwieweit populistische Elemente im Sinne einer Nähe zum (wie auch immer definierten) „Volk“ für die Politik sinnvoll und notwendig sind. Hier soll es allein um einen Rechtspopulismus gehen, der antidemokratisch und antipluralistisch ist – und (in unterschiedlicher Ausprägung) autoritäre Züge aufweist. Dieser Populismus dient als Scharnier zwischen Rechtsextremismus und einem antiliberalen Neokonservativismus und gefährdet als solcher die freiheitlich demokratische Grundordnung Europas (vgl. Decker/Brähler, 95). Was macht eigentlich seinen Erfolg aus? Ich komme auf vier Faktoren, die sicher nicht exklusiv zu verstehen sind.
Autoritäre Gesinnung
Theodor W. Adorno und sein Team führten ab 1945 Studien zum autoritären Charakter durch, die beim heutigen Lesen erschreckend aktuell erscheinen. Durch die „Erforschung von Meinungen, Attitüden und Wertvorstellungen“ (Adorno, 3) sollten Denkmuster zum Vorschein gebracht werden, die eine Affinität zu faschistischem Denken aufweisen. Die Bereitschaft, sich Autoritäten zu unterwerfen, antidemokratisches Denken und Diskriminierung bzw. „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (Wilhelm Heitmeyer) gehen dabei häufig zusammen, so die Studie. Es gibt wohl so etwas wie eine charakterliche Disposition, sich bereitwillig Autoritäten zu fügen. Doch es handelt sich dabei nicht um eine „natürliche“ Persönlichkeitsstruktur. Sie wird vielmehr entwickelt, sie begünstigt und festigt sich in Wechselwirkung mit verschiedenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen.
Krise der Repräsentation
Kritik an politischen Entscheidungen ist sinnvoll und demokratisch erwünscht. Auf Politiker und Politikerinnen zu schimpfen, hält Demokratie aus. Es wird aber problematisch, wenn die (gefühlte?) Distanz zwischen Regierten und Regierenden zu groß wird, wenn sich der Eindruck verhärtet, dass sich die gewählten Volksvertreter soweit vom „Volk“ entfernt haben, dass sie „es“ nicht mehr repräsentieren. Die darin implizierte Konstruktion des Mythos eines einheitlichen Volkes ignoriert die Heterogenität der Gesellschaft, und sie macht dies auf Kosten von Minderheiten; sie diskriminiert Einzelne und Gruppen und ist als gefährlich abzulehnen. Anders verhält es sich mit der Frage, warum sich Menschen nicht vertreten fühlen: So müssen sich Politikerinnen und Politiker Fragen nach ihrer Glaubwürdigkeit gefallen lassen, und es erschwert Demokratie, wenn Parteien sich kaum unterscheiden, wenn Interessen der Wirtschaft wichtiger zu wiegen scheinen als die der Menschen u.v.m.
Der Mythos vom homogenen Volk ignoriert die faktische Vielfalt der Gesellschaft.
Teilweise sind diese Eindrücke auf Kommunikationsprobleme zurückzuführen: Komplexe politische Sachverhalte lassen sich schwer kommunizieren: Auch dort, wo Politiker zum Wohle der Wähler handeln, können sie das teils schwer verständlich machen – und je stärker sich mediale „Blasen“ bilden, desto schwieriger wird es. Und teilweise werden Interessen ja auch wirklich nicht wahrgenommen oder gar vertreten.
Wirtschaftliche Veränderungsprozesse
Globalisierung und Digitalisierung haben erhebliche Auswirkungen auf Wirtschaft und Arbeit in allen europäischen Ländern. Die Arbeitswelt hat sich schnell verändert (und wird sich durch die Digitalisierung weiter verändern), ganze Sektoren und Produktionsbereiche sind in den letzten Jahrzehnten weggefallen: Steinkohleabbau im Ruhrgebiet, Lederindustrie im Rhein-Main-Gebiet etc. Teilweise folgte diesen Veränderungen eine hohe Arbeitslosigkeit und damit der soziale Abstieg der Betroffenen – dabei geht es Deutschland noch deutlich besser als anderen europäischen Ländern.
Hinzu kommen Auswirkungen auf die betroffenen Regionen: Mit der Arbeit fielen oft die Investitionen in Infrastruktur weg, so dass sich heute ganze Gebiete als „abgehängt“ betrachten. Und weil häufig bestimmte Produkte und Berufe auf einzelne Regionen konzentriert sind, haben sie deren Identität bestimmt. Diese regionalen Identitäten sind brüchig geworden, und das wird als Verlust und Verletzung erfahren.
Angst
Das diffuse Label „Angst“ vereint unbestimmte negative Stimmungen zu allen genannten Bereichen.
- Wohlstand steigt nicht mehr scheinbar automatisch. Wir sind auf einem hohen Niveau angekommen, es zu halten oder für nachkommende Generationen wieder zu erreichen, ist aber nicht selbstverständlich. Begründete und unbegründete Abstiegsängste machen sich breit.
- Es gibt eine instabile weltweite Sicherheitslage, die schwer zu erfassen ist. Das verunsichert viele Menschen. Die Unklarheit, welchen medialen Darstellungen dieser Lagen man eigentlich glauben kann, verstärken die Orientierungslosigkeit.
- Hinzu kommt eine Verunsicherung durch den Freiheitsgewinn der späten Moderne, den manche als Verlust von Gewissheiten und Halt gebenden Orientierungen erleben.
Inwiefern stärkt das die Rechtspopulisten – und was tun?
Wenn die Angst einmal da ist, breitet sie sich aus, ungeachtet dessen, ob sie begründet ist. Gegen Angst lässt sich schwer argumentieren. Unsicherheit und Angst erscheinen zudem besser erträglich, wenn sie kanalisiert werden. Die Empfänglichkeit, diffuse Ängste auf konkrete Personengruppen zu übertragen, ist hoch – Girards Sündenbocktheorie lässt grüßen! Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist das Ergebnis.
Die Rechtspopulisten nehmen diese Stimmungen auf und vermitteln Menschen so das Gefühl, ernst genommen zu werden. Zumindest rhetorisch. Rational ist das meist nicht nachvollziehbar – spätestens wenn man einen Blick in Parteiprogramme wirft! Aber offensichtlich dominiert ein Gefühl der Dankbarkeit bestimmter Gruppen im Sinne von: Hier nimmt uns jemand wahr (Anerkennung) und denkt wie wir (Bestätigung)! Oder es handelt sich einfach um Protestverhalten.
Vorhandene Ansätze, die Institutionen der EU zu reformieren und zu demokratisieren, sind weiterzuentwickeln; gute Politik muss kommuniziert werden und neue Formen der demokratischen Willensbildung sind zu suchen. Gleichzeitig ist die Verantwortung jeder und jedes Einzelnen zur Gestaltung von Gesellschaft zu betonen und zu fordern – ganz im Sinne des Subsidiaritätsprinzips, dass eine Delegation von Verantwortung allein auf die Regierenden nicht zulässt, sie aber dennoch einfordert! Eine wichtige Frage ist zudem – und hier scheint mir sozialethische (auch empirische!) Forschung gefragt, wo gesellschaftliche Wertschätzung erfahrbar wird. [1]
Endlich hört uns jemand zu!
Es ist auffallend, dass Rechtspopulisten teilweise wirtschaftspolitische Positionen vertreten, die traditionell eher „links“ waren, Teile des klassischen Arbeitermilieus fühlen sich derzeit durch die Rechtspopulisten vertreten, nicht aber durch linke Parteien oder Gewerkschaften. Dabei verknüpfen die Rechtspopulisten jedoch Globalisierungskritik stark mit nationalen Interessen, z.B. Marine Le Pen.
Derzeit ist unklar, ob jene mit Autoritarismus gepaarte Globalisierungskritik erfolgreich sein wird. Bleibt zu hoffen, dass nicht! Ihr ist umso engagierter eine kritische Gestaltung von Globalisierung entgegenzustellen, die den Gemeinwohlbegriff stärkt und den von Papst Franziskus häufig geäußerten unscharfen Begriff des globalen Gemeinwohls theoretisch auszuarbeiten und zu begründen versucht.
Von Angst geprägte autoritäre Charaktere sprechen stark auf die markigen Sprüche der Populisten an. Denn sie versprechen Halt und Orientierung durch klare Vorgaben und einfache Antworten. Komplexitätsreduzierung ist nicht neu – und in gewissem Maße auch notwendig – problematisch ist, dass die Reduzierungen mehr und mehr zur Wirklichkeit selbst erklärt werden. Wenn Meinung an die Stelle von Wahrheit tritt, wird aber die Auseinandersetzung schwierig, ja, der ohnehin durch Angst erschwerte Diskurs wird unmöglich gemacht.
Empathie und Beharren auf der Vernunft sind dem entgegenzusetzen. Die Ängste der Menschen dürfen nicht arrogant ignoriert werden. Aber es fehlen offensichtlich Strategien, wie damit umzugehen ist, ohne sich anzubiedern. Demgegenüber ist es die Aufgabe theologischer Ethik, Sinn und Relevanz rationaler Diskurse kreativ deutlich zu machen – nach dem Motto: „Make enlightenment smart again.“
In diesem Sinne sollten wir deutlich jenen katholischen Milieus entgegentreten, die im Rechtspopulismus einen Konservatismus gestärkt sehen, der vermeintlich christliche Werte rettet und stärkt, und daher die Nähe zu diesem suchen – trotz dessen antiliberalen, autoritären und menschenfeindlichen Ausprägungen!
Literatur:
Müller, Jan Werner, Populismus. Der Spuk geht nicht so schnell vorbei. Interview, in: Zeit vom 16.08.2016, URL vom 10.02.17: http://www.zeit.de/zeit-wissen/2016/05/populismus-politikwissenschaft-jan-werner-mueller-interview.
Adorno, Theodor W., Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt 1995.
Decker, Frank; Brähler, Ein Jahrzehnt der Politisierung, in: Decker, Frank et al. (Hg.) Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland, Gießen 2016, 95-136.
Honneth, Axel, Verwilderungen. Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahrhundert, in APUZ 1-2/2011, URL vom 10.02.17: http://www.bpb.de/apuz/33577/verwilderungen-kampf-um-anerkennung-im-fruehen-21-jahrhundert?p=all.
[1] Es geht um die dritte Ebene in Honneths Anerkennungstheorie: Die Anerkennung der Besonderheit, ohne die Grundlage emotionaler Bindung. Vgl. Honneth 2011.
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Prof. Dr. Michelle Becka lehrt Christliche Sozialethik an der Universität Würzburg.
Bild: Esther Stosch / pixelio.de