Johanna Beck, im Synodalen Weg engagiert und Autorin von „Mach neu, was dich kaputt macht“, bringt Überlegungen zur aktuellen Kirchenfrage – anhand der vielen Wortbedeutungen von „reclaim“. Und sie fordert: Reclaim the Church!
Ich weiß nicht, ob es Ihnen ähnlich geht, aber ich befinde mich im Moment kirchentechnisch ziemlich in der Schwebe – und das nicht unbedingt im locker-luftigen, sondern im halt- und ziellosen Sinne: Der deutsche Synodale Weg, in den viele von uns Zeit und Kraft investiert haben, ist vorerst vorbei und die Beschlüsse wie die Errichtung des Synodalen Ausschusses stehen auf wackeligen Füßen. Die Weltsynode nimmt nur langsam Konturen an und es ist unklar, wieviel Hoffnung man auf diesen Prozess setzen kann. Und dann sind da auch noch der unzureichend aufgearbeitete Missbrauchsabgrund, das Ausbleiben der Reform der Ermöglichungsbedingungen und vieles mehr. So nimmt es nicht wunder, dass aktuell eine Art Massenexodus aus der katholischen Kirche stattfindet. Viele Menschen fliehen vor einer erstarrten, absolutistischen, geschlechterungerechten oder für ihr Leben irrelevant gewordenen Institution. Bisweilen gehen sie sogar, um ihren Glauben an die Frohe Botschaft Jesu zu retten!
Wie kann es mit der katholischen Kirche weitergehen? Was sollen wir Gläubigen tun? Was dürfen wir hoffen?
Angesichts dieser teilweise niederschmetternden Erkenntnisse und dieser Ungewissheiten fühle ich mich manchmal ohnmächtig und ratlos, fast so, als würde ich durch ein graues Zwielicht wandern, in dem man nicht sagen kann, ob als Nächstes die völlige Finsternis herein- oder nach einer langen Nacht endlich der rettende Tag anbrechen wird. Wie kann es mit der katholischen Kirche weitergehen? Was sollen wir Gläubigen tun? Was dürfen wir hoffen?
In diesem nachdenklichen Zustand – just an dem Tag der Veröffentlichung der verheerenden Austrittszahlen – saß ich mit meinem Sohn am Schreibtisch, um mit ihm die Englischvokabeln für seine nächste Klassenarbeit zu lernen:
„… to explain – erklären, to achieve– erreichen, to reclaim – zurückfordern …“
Beim letzten Wort geriet ich ins Stocken. Aus irgendeinem Grund kam mir unmittelbar die Situation der Kirche in den Sinn.
… to reclaim – zurückfordern …
Neugierig begann ich, diesem soeben entdeckten englischen Wort weiter auf den Grund zu gehen, und vor meinen Augen eröffnete sich ein regelrechter Bedeutungsreigen – und ausnahmslos alle Varianten dieses Begriffes erschienen mir wie eine passende Antwort auf die über mir kreisende „Kirchenfrage“.
Könnte man nicht dieses facettenreiche Verb auf die katholische Kirche übertragen?
Könnte man nicht vielleicht dieses facettenreiche Verb auf die katholische Kirche übertragen und daraus den Aufruf „Reclaim the Church“ an alle veränderungsmotivierten Gläubigen ableiten? Denn to reclaim bedeutet:
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Reklamieren, Einspruch erheben
Es gilt, laut und deutlich die Stimme zu erheben, wenn das „Produkt Kirche“ nicht so gestaltet ist, wie man es eigentlich erwarten könnte, wenn es seiner eigenen Botschaft eklatant widerspricht und wenn Menschen in seinem Raum diskriminiert, ausgegrenzt oder gar missbraucht werden.
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Ein- und Zurückfordern
Das, was Kirche ist und ausmacht – das Evangelium, die Glaubenserfahrungen, die Spiritualität, die Mystik, die Liturgie uvm. – sollte von allen getauften „Würdenträger*innen“ aktiv zurückgefordert, neu belebt und besonders den Kirchenvertretern entrissen werden, die diesen Schatz verraten, pervertieren oder zum Erlöschen bringen.
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Bezwingen
Mit einer großen Portion Kraft und Beharrlichkeit müssen die versteinerten strukturellen Mauern niedergerissen und die katholischen Wagenburgen geschleift werden, denn nur so kann Raum und Weite für Neues entstehen.
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Trockenlegen (z.B. Sümpfe)
Dann müssen sämtliche Missbrauchsabgründe und vernebelte klerikale Sümpfe trockengelegt werden, damit man ein gutes und tragfähiges Fundament erlangt, auf dem eine solide Kirche der Zukunft errichtet werden kann.
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Urbar machen, kultivieren
Zudem sollte man den Boden der verwüsteten Kirchenlandschaft so beackern und bearbeiten, dass er sich in einen fruchtbaren Grund verwandelt, in dem viele der ausgesäten Samenkörner aufgehen, gedeihen und reiche Frucht tragen können.
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Bessern, bekehren, zurücklenken
Last but not least braucht es in der Kirche eine tiefe Metanoia, eine innere wie äußere Umkehr und einen radikalen Kurswechsel – weg von evangeliumsverdunkelnden, menschenfeindlichen, verletzenden oder missbrauchsbegünstigenden Tendenzen und zurück zur leuchtenden Spur Jesu und seiner Frohen Botschaft.
Mit diesen Schritten könnte es uns engagierten Gläubigen vielleicht gemeinsam gelingen, uns zu ermächtigen, die Kirche und ihr Evangelium (wieder) für uns zu reklamieren und sie in vielseitigen, bunten, tragfähigen und offenen Händen in eine bessere Zukunft zu tragen.
„Maaamaaaa! Wolltest du mich nicht in Englisch abfragen?!“
Vom leicht genervten Rufen meines Sohnes wurde ich aus meinen Kirchengedanken gerissen. Kurz bevor ich meinen Laptop wieder zuklappte und die Vokabelabfrage fortsetzte, schnappte ich mir noch schnell ein Post-it, schrieb mit Edding Reclaim the Church! darauf und klebte es als Erinnerung und Motivation mitten auf meine Schreibtisch-Pinnwand.
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Autorin: Johanna Beck ist Literaturwissenschaftlerin, Autorin und freie Redakteurin, Mitglied des ZdK und des Betroffenenbeirats.