Dass die Kirche wegkommt von Regeln und Vorschriften und vielmehr hört und versteht, diese Hoffnung äussert die Lebens- und Paarberaterin Maria Weibel-Spirig im Interview im Anschluss an die Familiensynode in Rom.
Die ersten Kommentare zum Abschluss der Familiensynode gehen weit auseinander. Matthias Drobinski titelt in der SZ: „Rom kann sich nicht zu Reformen durchringen“, während Christiane Florin in der „Zeit“ fragt: „Sag mir, wo die Sünder sind“. Das kritische Publik-Forum bilanziert „einen knappen Arbeitssieg für Franziskus“ und damit die Freude bei den Reformkräften. Und Rainer Bucher analysiert die Abschlussansprache von Papst Franziskus auf feinschwarz.net unter dem Titel: „Willkommen in der Postmoderne!“
Frau Weibel-Spirig, was war Ihr erster Eindruck zum Abschluss der römischen Bischofssynode?
Ich war sehr zurückhaltend in meinen Erwartungen. Ich hatte mir gar nicht erlaubt, etwas zu erwarten. Dann habe ich aber wahrgenommen, dass die Bischofssynode zur Hauptsache nicht etwas – eine bestimmte Lehre, einzelne Inhalte – reformiert hat, sondern vor allem die eigene Gesprächskultur: Dass überhaupt gehört wurde, dass man merkte, es gibt Unterschiede in den Kulturen, was die Vorstellungen von Partnerschaft und Familie betrifft. Wichtig finde ich auch, dass die Familie mehr zum Subjekt wurde, dass Familien und Beziehungen nicht einfach „Objekte“ sind, für die man bestimmte Regeln aufstellen muss. Es ist mir klar, das sind sehr kleine Schritte, die ich auch nicht überbewerten will. Aber es sind Schritte in die richtige Richtung.
dass Familien und Beziehungen nicht einfach „Objekte“ sind
Sie haben langjährige Erfahrung als Leiterin und Beraterin der Regionalen Ehe- und Paarberatungsstelle in Aarau und arbeiten nun in Ihrer eigenen Lebens- und Paarberatungspraxis in Stans. Wie reagieren Ihre Klientinnen und Klienten auf die Ergebnisse der Familiensynode? Können sie diese kleinen Schritte und die Betonung der Unterscheidung von verschiedenen Familiensituationen verstehen?
Ich denke, die Klienten und Klientinnen werden die Ergebnisse der Synode erst verstehen können, wenn sich die spirituelle Herangehensweise in der Begegnung mit den Menschen auch bewährt. Ich spüre in meiner Arbeit ganz klar: Neben allem, was Familien in ihrem Alltag beschäftigt – was sie zu bewältigen haben bei der Kinderbetreuung, bei der Organisation von Arbeit und Freizeit, der Verteilung der Aufgaben und so weiter – ist im Grunde gar keine Erwartung da, dass Kirche ihnen etwas geben könnte. Wenn die Pfarrei einen Kinderhütedienst oder auch Kindergottesdienste anbietet, ist das schön und gut. Aber mehr wird nicht erwartet.
Die Situation ist vielmehr so: Paare und Familien haben sich schon lange daran gewöhnt, gegen die kirchenamtliche Lehre, die nicht mehr als hilfreich erachtet wird, eigenständig und in gegenseitiger Achtung Lösungen für auftretende Probleme zu finden. Gegenseitige Achtung und das Bewahren von Werten hat für die Paare eine grosse Bedeutung. Aber sie erwarten darin keine Unterstützung mehr von der Kirche. Ja, manche waren sogar erstaunt, als sie hörten, dass die Ehe- und Paarberatungsstelle in Aarau von der Kirche mit finanziert wird.
Gilt dies auch für die zivil wiederverheirateten Geschiedenen? Was ist deren Verhältnis zur Kirche und der lehramtlichen Haltung ihnen gegenüber?
Ich kenne relativ wenige Paare, die dazu Fragen oder Erwartungen an die Kirche stellen. Auch Verletzungen durch die Position der Kirche sind kaum mehr vorhanden. Das ist für die meisten weit weg.
Männer oder Frauen, die nach einer Scheidung eine neue Beziehung eingehen und ein zweites Mal heiraten, sind meist etwas älter. Sie verstehen es, ein schönes Fest zu feiern ohne kirchliche Trauung. Vielleicht lassen sie ihre neue Beziehung segnen oder sie wenden sich an eine Ritualbegleiterin.
Die Teilnahme an der Kommunion kann zum Thema werden, wenn die Erstkommunion eines Kindes ansteht. Ich denke jetzt an die Situation in einem überschaubaren Dorf, wo sich die Menschen noch gut kennen. Da kann es schon mal Thema werden, wie sich wohl der wiederverheiratete Vater verhalten wird, ob er mit seinem Kind zur Kommunion gehen wird.
Die Position der Kirche … ist für die meisten weit weg.
Dann suchen die Eltern das Gespräch mit einer Seelsorgeperson um zu klären, was sie dürfen. Ich habe nie erlebt, dass in dieser Situation jemand abgewiesen wurde und nicht zur Kommunion gehen konnte.
Insofern werden bei uns schon längst individuelle Lösungen und Begleitung praktiziert.
Was eher noch hartnäckig in den Köpfen der Menschen umhergeistert, ist die Idee, dass Scheidung an sich gemäss kirchlicher Lehre nicht erlaubt ist. Daher verabschieden sich viele Menschen nach einer Scheidung von der Kirche, obwohl es dafür an sich keinen Grund gibt. Viele heiraten auch nicht mehr, wenn sie in eine neue Partnerschaft eintreten. Dass dies für die Kirche nicht in Ordnung sein könnte, macht ihnen dann kein Problem.
All dies ist natürlich die Perspektive von Paaren und Familien in Westeuropa. Für mich war es sehr beeindruckend im Verlauf der Synode wahrzunehmen, wie unterschiedlich Beziehung und Familie in den verschiedenen Kulturen und Ländern gelebt werden und sich von daher je nach Weltgegend ganz andere Probleme stellen.
Die Distanz der Menschen zur Kirche ist also so gross, dass auch kaum jemand noch erfreut oder enttäuscht ist vom Ergebnis der Synode?
Eine Erwartung hätte ich jedenfalls schon noch gehabt, nämlich die, das Leben grundsätzlich anders zu verstehen. In jedem Leben, so auch in Beziehungen, sind Brüche möglich. Das ist auch ein Kontextbezug zu heute, der zu beachten wäre. Wir leben heute viel länger, die Beziehungen dauern dadurch länger und sind vielen Veränderungen ausgesetzt. Die unterschiedlichen Einflüsse verändern auch das Familien- und Beziehungsleben. Und dazu können eben auch Brüche gehören. Mit 25-30 Jahren eine Entscheidung für das ganze Leben zu fällen, ist sehr schwierig. Die Paare haben bei ihrer Heirat die besten Absichten, aber trotz viel gutem Willen schaffen es nicht alle. Brüche im Leben, in Beziehungen sind eine Realität.
In jedem Leben, so auch in Beziehungen, sind Brüche möglich.
Davon habe ich im Abschlussdokument nichts gelesen. Dass die Kirche auch dies zur Kenntnis nimmt, könnte also eine Erwartung für die Zukunft sein.
Ein grundsätzliches Fragezeichen habe ich schon noch an die Bischofssynode: Es bleibt eine Tatsache, dass fast ausschliesslich zölibatäre Männer über ein Thema gesprochen haben, das Verheiratete und insbesondere Frauen betrifft. Gewiss, in den Umfragen vor den beiden Familiensynoden konnten sich alle einbringen, und die Männer haben dies auch gehört.
Einen wichtigen Akzent setzt das Schlussdokument auf die seelsorgliche Begleitung von Paaren und Familien. Wie realistisch ist dies aus Ihrer Sicht?
Wenn diese seelsorgliche Begleitung vor allem von Priestern wahrgenommen werden soll, sehe ich verschiedene Grenzen. Viele – nicht alle – der Priester sind mit den vielen Themen der Paarbeziehungen überfordert. Ich wünsche mir, dass bei der Umsetzung der Anliegen der Bischofssynode in den Regionen darüber gesprochen wird, dass auch Beratungsstellen und andere professionelle Begleitpersonen diese seelsorgliche Begleitung wahrnehmen können. Und wenn es vor allem um die Möglichkeit der Beichte und der Lossprechung geht, dann sehe ich die Grenze bei den fehlenden Priestern. Dann müssten auch die Zulassungsbedingungen zum Weiheamt diskutiert werden.
Auch Beratungsstellen können seelsorgliche Begleitung wahrnehmen.
Das Anliegen der Dezentralisierung finde ich gut. Nicht alles muss in Rom entschieden werden, was die Familien und ihre Begleitung betrifft. Das ist eine Aufgabe, die vor Ort angegangen werden muss. Doch da gibt es noch viel zu klären. Das Gespräch muss weitergehen.
Der Prozess des Suchens, des Hörens und Verstehens muss sich bewähren. Damit sind meine Erwartungen an die Seelsorge sehr hoch. Die Kirche und ihre Verantwortlichen müssen vom Urteilen in Fragen von Beziehung und Sexualität wegkommen. Es geht darum, nach der Not der Menschen zu fragen, nicht nach ihrer Schuld.
Was möchten Sie zum Schluss unseres Gesprächs noch ergänzen?
Das Schuldbekenntnis der deutschen Sprachgruppe 1 hat mich sehr berührt. Es steht im Moment noch etwas isoliert und wurde nicht aufgenommen in das Schlussdokument. Und doch ist es schön, dass dies möglich geworden und auch öffentlich zugänglich ist. Ich habe gedacht: Wenn dies meine Eltern noch hören könnten! Sie waren der Kirche sehr verbunden. Aber in der Frage der Geburtenregelung und den Vorschriften zur Sexualität fühlten sie sich von ihr betrogen. Deshalb muss sich die Sexualmoral auf eine Beziehungsethik hin öffnen. Dazu gehören Verbindlichkeit, Verlässlichkeit, Treue, Solidarität.
Wichtig ist mir, dass die Kirche wegkommt von Regelungen und Vorschriften und vielmehr hört und versteht. Je weniger man für andere definiert, was für sie richtig sein soll, und sie vielmehr selber entscheiden lässt, desto mehr erhalten sie ihre Verantwortung zurück.
Maria Weibel-Spirig, Paartherapeutin, Ausbildungen in Systemberatung und Paartherapie, Master „Spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess“.
Das Interview führte Franziska Loretan-Saladin. Bild: zvg
- „Im falsch verstandenen Bemühen, die kirchliche Lehre hochzuhalten, kam es in der Pastoral immer wieder zu harten und unbarmherzigen Haltungen, die Leid über Menschen gebracht haben, insbesondere über ledige Mütter und außerehelich geborene Kinder, über Menschen in vorehelichen und nichtehelichen Lebensgemeinschaften, über homosexuelle orientierte Menschen und über Geschiedene und Wiederverheiratete. Als Bischöfe unserer Kirche bitten wir diese Menschen um Verzeihung.“ Der Text der deutschen Sprachgruppe ist hier nachzulesen ↩