Synodale Kirche – wer hat’s erfunden? Daniel Kosch jedenfalls hat vor kurzem das Buch „Synodal und demokratisch. Katholische Kirchenreform in schweizerischen Kirchenstrukturen“ veröffentlicht. Die Samstagsrezension von Thomas Schüller.
Daniel Kosch, prägnantes Gesicht des Schweizer Katholizismus in den letzten Jahrzehnten, vor allem in seiner Funktion als langjähriger Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz, legt mit dem auf 520 Seiten imposanten Sammelband die reiche Ernte seiner intensiven wissenschaftlichen Beschäftigung mit gewichtigen Themen des weltkirchlich betrachtet einzigartigen Schweizer Katholizismus vor.
Duales System
Alle Beiträge sind bereits an anderen Orten erschienen, werden zum Teil von ihm für diesen Band aktualisiert und handeln in vier Kapiteln über Partizipation und Machtteilung (35-138), Herausforderungen, die die Katholische Kirche in der Schweiz auf Zukunft zu meistern hat (139-287), den Zukunftsaussichten, vor allem was die Fortschreibung des kantonal zerklüfteten Religionsverfassungsrechtes angeht (288-375), und abschließend wie sich die besondere staatskirchenrechtlich konnotierte demokratische Synodalität im dualen System der Schweiz vielleicht doch mit dem Anliegen des amtierenden Papstes für eine synodalere Kirche verbinden lässt, ohne das geistliche Amt zu nivellieren, geschweige denn in Frage zu stellen (378-467). In diesen abschließenden Überlegungen dürfen natürlich seine Beobachtungen zum sog. Synodalen Weg in Deutschland nicht fehlen (439-457), an dessen Versammlungen er als offizieller Beobachter aus der Schweiz rege und stets interessiert Anteil genommen hat. Abgerundet wird der Sammelband durch ein Quellen-, ein Abkürzungs- und ein umfängliches Literaturverzeichnis, dem ein Verzeichnis der Nachweise für die Erstveröffentlichungen und eine nochmalig kleinteiligere Gliederung hinzugefügt wurden.
Fair und redlich
Was zunächst auffällt, ist der stets faire argumentative Stil, mit dem Kosch vor allem die kritischen Argumente zu den Besonderheiten des Schweizer dualen Systems aufgreift und auf ihre Stichhaltigkeit überprüft. Solche intellektuelle Redlichkeit findet man nur noch selten in den zumeist digital aufgeregten Blasen des weltweiten Katholizismus. Von daher überrascht es nicht, dass der lange Zeit umtriebige und wohl profilierteste Kritiker des Schweizer Systems, Martin Grichting, einige Jahre Generalvikar im Bistum Chur, mit seinen Thesen zu Wort kommt, ohne direkt dem heiligen Zorn der Verfechter des dualen Systems zu verfallen. Kosch greift auch das „Vademecum für die Zusammenarbeit von katholischer Kirche und staatskirchenrechtlichen Körperschaften in der Schweiz“ aus 2013 auf, mit dem die Schweizer Bischöfe nach einem Ad-Limina-Besuch in Rom versuchten, auf dort vorgetragene Bedenken einzugehen. Inzwischen hat Franziskus beim letzten Besuch der Schweizer Bischöfe Entwarnung gegeben, was die Zukunft des dualen Systems angeht. Dies wird von Kosch nüchtern konstatiert, ohne in Triumphgeheul auszubrechen.
Gemeinwohldienlichkeit
Zur Redlichkeit gehört auch und durchzieht alle Beiträge, dass Kosch das Weiterdenken über die Modifikation des dualen Systems immer in Blick hat. Er kann hierfür die neuesten statistischen, fiskalischen und demografischen Zahlen in Anschlag bringen, die den Informationsgehalt vieler Beiträge substantiell veranschaulichen und die Notwendigkeit einer kritischen Relecture des eingefahrenen Systems evozieren. Wenn 2025 weniger als die Hälfte der Gesamtbevölkerung der evangelisch-reformierten Kirche und der römisch-katholischen Kirche angehören werden, gleichzeitig wie in Deutschland die Landschaft der religiösen Akteure auch in der Schweiz immer vielfältiger werden wird, dann müssen darauf auch die Politik und die Zivilgesellschaft reagieren. Kosch plädiert für einen neuen Wortlaut des Art. 72 der Bundesverfassung nach einem Vorschlag von René Pahud de Mortanges (317ff.), der auch dem Bund gewisse Kompetenzen bei der Regelung des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften zuweisen würde. Die Coronakrise habe gezeigt, dass dies notwendig und hilfreich sein könnte. Erfreulich ist bei Kosch, dass er bei der Fortschreibung einer grundsätzlich religionsfreundlichen Verfassung konsequent von der Religionsfreiheit her denkt und auf die rechtliche Gleichbehandlung auch kleinerer Religionsgemeinschaften pocht. Anfragen an die Erweiterung der Kriterien für eine religionsrechtliche Anerkennung kleinerer bzw. neuer Religionsgemeinschaften mit dem Hinweis auf die Gemeinwohldienlichkeit stellen sich allerdings bei mir ein, denn Kosch lässt unbeantwortet, woran man diese Dienlichkeit im konkreten Alltag messen müsste.
Auf der Höhe der Zeit
Was die kirchenrechtlichen Passagen der diversen Beiträge angeht, ist Kosch immer auf der Höhe der Zeit. Er kann das billige Ausspielen von demokratischen Entscheidungsprozessen mit ihrer angeblichen Unverträglichkeit zu einer hierarchischen Verfasstheit der Kirche als geschichtsvergessen demaskieren, indem er nüchtern mit Blick auf die Rechtsgeschichte nachweist, dass die wesentlichen Grundlagen des Glaubens auf Synoden oft nach erbitterten Diskussionen und Mehrheitsentscheidungen getroffen wurden. Zudem erinnert Kosch an die bekannten Rechtsregeln wie die, dass das, was alle angeht, von allen beraten und entschieden werden möge. Er kontrastiert diese aus der Tradition stammenden Grundregeln mit den aktuell unterkomplexen Überlegungen zur Synodalität in der Kirche, wie sie beispielsweise mit dem Begriffspaar decions making and taking in römischen Papieren zu finden sind. Natürlich hat Kosch seine kanonistischen Lieblingsautoren: innen wie zum Beispiel Sabine Demel, die in seinen älteren Beiträgen als seine entscheidende Referenzgröße auftaucht, während hierarchie- und lehramtsaffinere Kirchenrechtler: innen – nehmen wir Grichting mal raus – eher selten zu Wort kommen. Auch lässt sich bei einem Sammelband nicht vermeiden, dass bestimmte Beiträge, die für Kosch in seiner theologischen Arbeit wertvoll wurden, regelmäßig auftauchen wie beispielsweise das Buch „Der Nachmittag des Christentums“ von Tomáš Halik oder das Opus „Ohne Geländer“ des Frankfurter Pastoraltheologen Wolfgang Beck.
Theologische Neugier
Allerdings zeigen diese Seitenblicke, dass Kosch seine rechtlichen Überlegungen mit Gedanken speist, die er anderen innovativen Büchern aus benachbarten theologischen Disziplinen entnimmt und damit seine theologische Neugier gut zum Ausdruck bringt. Hier fehlen natürlich auch nicht innovativ-kritische Schweizer Theologen: innen wie Daniel Bogner, aber auch Kirchenrechtler: innen wie Astrid Kaptijn (die leider im Literaturverzeichnis vergessen wird) oder Adrian Loretan. Bei einem zentralen Punkt, den Kosch aus den Diskussionen im Synodalen Weg im Forum Macht und schon früher bei Sabine Demel entlehnt, nämlich die durch c. 127 CIC mögliche Selbstbindung eines Oberen an die Beratung oder sogar die Zustimmung eines Rates, stimme ich in seine positive Prognose nicht ein. Dies deshalb, weil in der aktuellen Verfasstheit der katholischen Kirche mit ihrer theologischen Hypostasierung des päpstlichen und bischöflichen Amtes, die nach dem Vorbild des unaufgeklärten politischen Absolutismus mit einer Union der drei Gewalten verbunden sind, am Ende immer noch der bischöfliche Entscheidungsträger entscheidet, ob ein Rat, sei es in Form eines Ratschlages oder eines verbindlichen Beschlusses im Sinne der Zustimmung, mit Lehre und Recht der Kirche übereinstimmt. Diese Kompetenz-Kompetenz hebelt der c. 127 CIC nicht auf und bindet des Weiteren auch nur solange, wie es die jeweiligen Nachfolger der emeritierten Päpste und Bischöfe wollen.
Berührende Liebe zur Hl. Schrift
Berührend empfinde ich nicht wenige Stellen in den luziden Beiträgen von Kosch, in denen er seine offenkundige Liebe und genaue Kenntnis der Heiligen Schrift erkennen lässt. Immerhin ist er promovierter Exeget, die Fachrichtung, in der auch ich lange Zeit promovieren wollte. Das verbindet uns beide. Seine klug ausgewählten biblischen Stellen sind nicht einfach Steinbruchexegese nach dem Motto, ob es ein irgendwie geartetes biblisches Zitat gibt, das passen könnte, sondern stets sachlich genau bezogen auf den Aspekt, den Kosch in seiner zumeist rechtlich gehaltenen Darstellung erläutern möchte. Dies gibt seinen Beiträgen einen unaufdringlichen, aber spürbaren geistlichen Tiefgang, der die Quellen seines beruflichen Engagements für die Schweizer Kirche erahnen lässt.
Uneingeschränkte Leseempfehlung
Fazit: der Sammelband informiert kundig und kenntnisreich über alle aktuellen relevanten Fragen, die besonders die katholische Kirche in der Schweiz mit ihrem einzigartigen dualen System betreffen. Auch ältere Beiträge, die zum Teil aktualisiert wurden, haben nichts von ihrer Relevanz verloren und lohnen von daher, noch einmal gelesen zu werden. Man darf dem Kollegen Kosch noch viele Jahre wünschen, in denen er seine reichhaltige Erfahrung, sein Wissen und seine wohlwollend-kritische Loyalität mit seiner Kirche, der er die längste Zeit seines Lebens gedient hat, in kritischen und tagesaktuellen Einwürfen zur Verfügung stellt. Von daher: uneingeschränkte Leseempfehlung.
—
Daniel Kosch, Synodal und demokratisch. Katholische Kirchenreform in schweizerischen Kirchenstrukturen, Edition Exodus: Luzern 2023, 520 Seiten.
Dr. Thomas Schüller, geb. 1961 in Köln, Studium der Kath. Theologie und Kirchenrechtswissenschaft in Tübingen, Innsbruck, Bonn und Münster. Nach Tätigkeit im Bistum Limburg seit 2009 Prof. für Kirchenrecht und zugleich Direktor des Institutes für Kanonisches Recht an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Münster. Mitglied der Unabhängigen Aufarbeitungskommission für Fälle von sexuellem Missbrauch im Bistum Münster. Seit 2023 Mitglied des Synodalen Ausschusses.