Päpste reden schnell von der „kindlichen Unschuld“ und der Reinheit, die durch sexualisierte Gewalt verletzt werde. Dass solche Rede höchst eigenartige Vorstellungen transportiert, analysiert Moritz Bauer.
„In der Kirchengeschichte gab es immer wieder Zeiten der Finsternis. Aber kaum je war in den Kirchen hierzulande die Finsternis so groß wie heute (…)“ [1]. Mit diesen Worten leitete der Kolumnist Heribert Prantl Anfang Oktober einen Beitrag über die aktuelle Lage der katholischen Kirche ein. Sein Beitrag zeigt: Der sogenannte „Missbrauchsskandal“ und die öffentliche Beschäftigung hiermit dauern an – und das ist gut so! Die wissenschaftliche Theologie zieht hier inzwischen mehr und mehr nach – und auch das ist gut so! [2] Ebenso gilt: Auch die Kirche beschäftigt sich hiermit – und das muss sie auch! Viele der päpstlichen Aussagen zur sexualisierten Gewalt sind bereits ausgiebig diskutiert worden. Eine Nuance scheint bisher jedoch kaum beachtet worden zu sein: die Redeweise von einer verlorenen kindlichen Unschuld.
Der amtliche Zungenschlag
Papst Franziskus äußert sich 2014 in einer Predigt in einer gemeinsamen Messe mit Betroffenen folgendermaßen:
„Das ist meine Bestürzung und mein Schmerz über die Tatsache, dass einige Priester und Bischöfe die Unschuld von Minderjährigen und ihre eigene priesterliche Berufung geschändet haben, indem sie sich an ihnen sexuell vergingen.“ [3]
Bereits vier Jahre zuvor deutet Papst Benedikt XVI. Ähnliches an:
„Um so mehr waren wir erschüttert, gerade in diesem Jahr in einem Umfang, den wir uns nicht hatten vorstellen können, Fälle von Mißbrauch Minderjähriger durch Priester kennenzulernen, die das Sakrament in sein Gegenteil verkehren, den Menschen in seiner Kindheit – unter dem Deckmantel des Heiligen – zuinnerst verletzen und Schaden für das ganze Leben zufügen.“ [4]
Die Päpste zeigen sich hier allzu menschlich, denn auch in unserem Sprachgebrauch kennen wir die Ausdrucksweise einer kindlichen Unschuld. Doch vor der Hintergrundfolie der Verbrechen von sexualisierter Gewalt und der kirchlichen Sexualmoral erweisen sich diese als problematisch.
Eine mehrdeutige Redeweise
Zunächst: Die Redeweise ist mehrdeutig und nicht abschließend geklärt. Eine psychologische Deutung liegt außerhalb meiner Kompetenzen. Möglicherweise jedoch ließe sie sich so verstehen, dass die Kinder eben noch unbefangen, ohne Last und ohne Leid durch die Welt gehen (jedenfalls in idealisierter Vorstellung). In einem theologischen Sinn: Bisher scheint eine Konfrontation des Kindes mit der realen Welt, in welcher Schuld und Sünde die Wirklichkeit entscheidend mitprägen, weitestgehend ausgeblieben.
Im Umkehrschluss könnte die Redeweise von der verlorenen kindlichen Unschuld bedeuten, dass das Kind auf radikale Weise mit sündhaftem Verhalten, oder ethisch gesprochen, mit schuldhaften Verhalten, konfrontiert wird.[5] Im Zusammenhang der Verbrechen sexualisierter Gewalt entschieden zurückzuweisen ist jedweder Gedanke einer Mitschuld des Kindes; dies würden natürlich auch beide Päpste unterschreiben. Doch der Ausdruck intendiert unterschwellig (!) Problematisches.
Die kultische Idealisierung des Kindes
Wie ist das zu verstehen? Ein Verständnisansatz bietet der Kirchenhistoriker Hubertus Lutterbach mit seiner These, dass es in der Kirchengeschichte zu einer kultischen Idealisierung des Kindes gekommen sei.[6] Im Hintergrund steht die heidnische Unterscheidung in eine kultische Unreinheit, die etwa aufgrund des Kontakts mit Blut, Tod oder Körperflüssigkeiten entsteht, und einer ethischen Unreinheit, die auf sündhafte Taten zurückzuführen ist. Eine kultische Reinheit stelle zugleich die Bedingung für den Kontakt mit dem Bereich des Sakralen dar.
Es ist ein Gedanke, der auch im Alten Testament fest etabliert ist.[7] Zwar habe, so Lutterbach, die jesuanische Botschaft versucht, dieser heidnischen Vorstellung entgegenzuwirken und den Akzent auf die ethische Reinheit zu verlagern, doch im Zuge von Inkulturationsprozessen mit archaischen Kulturen erlebt das spätantike Christentum eine sogenannte Rearchaisierung. Die Vorstellung der kultischen Reinheit setzt sich durch. Dieses Reinheitsideal wird zunächst auf Mönche und später auf Kleriker übertragen. Das Kind, welches als kultisch rein und ethisch unschuldig angesehen wird, wird zu einem Prototyp der Reinheit stilisiert. Es galt somit, sich am Ideal des reinen beziehungsweise unschuldigen Kindes zu orientieren. Beispiele für dieses Denken wären etwa die Verbreitung der Tonsur, Einflüsse auf die Etablierung des Pflichtzölibats[8] sowie – teilweise bis heute – das weiße Kommunions- oder Brautkleid.
Das „Problem“ mit der Sexualität
Auch in kirchenamtlichen Dokumenten, die den Bereich der Sexualität behandeln, finden sich Relikte dieses Gedankens. [9] Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf die traditionelle kirchliche Sexualmoral zu werfen. Diese ist von zwei Strömungen entscheidend beeinflusst. Einerseits die oben angesprochene archaische Vorstellung kultischer Unreinheit, andererseits ein ‚augustinisches Erbe‘. Verkürzt gesagt, geht dieses davon aus, dass der Mensch nicht triebhaft handeln solle, sondern sich von seinem Willen (voluntas recta), der ihn zu Gott führt, leiten lassen müsse. Triebhaftes Verhalten wird als Verweigerung des Gott gegenüber geschuldeten Gehorsams gedeutet. [10]
Das „Problem“ mit der Sexualität hat die traditionelle Moral dahingehend zu lösen versucht, indem diese exklusiv an (Natur-)Zwecke gebunden, in eine Güterlehre integriert und in den als ethisch korrekt angesehenen Raum der Ehe verschoben worden ist. [11] Als Fazit kann somit festgehalten werden, dass im traditionellen katholischen Denken gleich zwei „Einfallstore“ der Sünde in die Sexualität existieren: Zum einen von Seiten des schwachen Willens (voluntas perversa), zum anderen von Seiten des unreinen Körpers.
Vom Makel zur Schuld – ein allzu kurzer Weg
Was lässt sich nun aus den Überlegungen folgern? In Bezug auf die sexualisierte Gewalt kann (vorsichtig) die These gewagt werden, dass der Ausdruck der verlorenen kindlichen Unschuld (unterschwellig) weiterhin die angesprochenen Reinheitsvorstellungen transportiert. Der Kontakt mit dem Bereich der Sexualität verunreinige den Menschen (hier: das Kind) und beflecke ihn mit dem Makel der Sünde – ethisch mit Schuld. Die Kinder, die in ihrer physischen, psychischen und sexuellen Integrität bereits massiv verletzt wurden und deren Würde missachtet wurde, werden nun in einem zweiten Schritt von derselben Institution als „sündhaft“ und „befleckt“ bezeichnet.
Das Kind hat sich zwar nicht schuldhaft verhalten, jedoch intendiert diese Redeweise, dass es nun mit Schuld behaftet sei. Dass dies nicht beabsichtigt wird und die päpstlichen Aussagen einem verbreiteten Sprachduktus entsprechen, vermag dies zu erklären, nicht aber zu rechtfertigen. Die Kirche sollte daher viel genauer prüfen, welche ihrer eigenen Traditionslinien sie in ihrem Sprechen transportiert.
Sexualmoral – eine offene Baustelle!
Zusätzlich bedacht werden muss, dass die katholische Kirche die sündhaften Handlungen des Missbrauchs noch immer als Verbrechen gegen das sechste Gebot (Ehebruch) wertet. Weiterhin stellen empirische Untersuchungen einen entscheidenden Zusammenhang zwischen der traditionellen Sexualmoral und den Taten sexualisierter Gewalt fest.[12] In anderen lehramtlichen Aussagen fehlen konkrete Hinweise zu Möglichkeiten einer Revision der katholischen Sexualmoral. Die Kirche blockiert durch eine ausbleibende ernsthafte Reflexion und hierauf basierende Revision ihrer Sexualmoral eine adäquate Aufarbeitung des Missbrauchsgeschehens. Wie das thematisierte Beispiel der kindlichen Unschuld zeigt, scheint eine wissenschaftliche Reflexion jedoch dringend geboten.
[1] Prantl, Heribert, Hölle und Himmel. In: SZ vom 02.10.20.
[2] Siehe hierzu aktuelle Publikationen wie Hilpert, Konrad u. a. (Hg.), Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Raum von Kirche. Analysen – Bilanzierungen – Perspektiven (= Questiones disputatae 309), Freiburg i. Br./ Basel/ Wien 2020; Remeny, Matthias/ Schärtl, Thomas (Hg.), Nicht ausweichen. Theologie angesichts der Missbrauchskrise, Regensburg 2019; Striet, Magnus/ Werden, Rita, Unheilige Theologie! Analysen angesichts sexueller Gewalt gegen Minderjährige durch Priester (= Katholizismus im Umbruch 9), Freiburg i. Br./ Basel/ Wien 2019; oder auch zahlreiche Beiträge auf www.feinschwarz.net.
[3] Franziskus, Predigt während einer Messe mit Missbrauchsopfern im Vatikan vom 07.07.2014. Dt. Üb. in: OR 44 (28/2014), 12.
[4] Benedikt XVI., Ansprache beim Weihnachtsempfang für das Kardinalskollegium und die Mitglieder der römischen Kurie sowie des Governatorats vom 20.12.2010. In: AAS 103 (2011), 33–41, dt. Üb. online: http://www.vatican.va/content/benedict-xvi/de/speeches/2010/december/documents/hf_ben-xvi_spe_20101220_curia-auguri.html (abgerufen am 24.10.20).
[5] Vgl. für den Zusammenhang von Schuld und Sünde im theologischen Sinne Ernst, Stephan, Grundfragen theologischer Ethik. Eine Einführung, München 2009, 263–301.
[6] Lutterbach, Hubertus, Die Kultische Reinheit – Bedingung der Möglichkeit für sexuelle Gewalt von Klerikern gegenüber Kindern? In: Striet, Magnus/Werden, Rita (Hg.), Unheilige Theologie! Analysen angesichts sexueller Gewalt gegen Minderjährige durch Priester (= Katholizismus im Umbruch 9), Freiburg i. Br./Basel/Wien 2019, 175–195; ebenso vgl. Lutterbach, Hubertus, Werdet wie die Kinder. Spiritualität und Missbrauch, in: HerKorr 73 (01/2019), 48–51.
[7] Vgl. Breitsamter, Christof/ Goertz, Stephan, Vom Vorrang der Liebe. Zeitenwende für die katholische Sexualmoral, Freiburg i. Br./ Basel/ Wien 2020, 33–42.
[8] Ebd., 39.
[9] So etwa in der 1975 erschienen Erklärung Persona humana „Zu einigen Fragen der Sexualethik“. Hier zeigt sich, dass die Masturbation noch immer stark mit dem Gedanken der Befleckung (pollutio) und der somit herbeigeführten Unreinheit in Verbindung gebracht wird. Vgl. Breitsamter, Christof/ Goertz, Stephan, Vom Vorrang der Liebe. Zeitenwende für die katholische Sexualmoral, Freiburg i. Br./ Basel/ Wien 2020, 33.
[10] Vgl. für weitere Verweise Angenendt, Arnold, Ehe, Liebe und Sexualität im Christentum. Von den Anfängen bis heute, Münster 2016, 74–78; Schockenhoff, Eberhard, Der lange Schatten des Augustinus – oder: Was heißt menschenwürdige Sexualmoral? In: IKaZ Communio 41 (02/2012), 197–212, 197f.
[11] Beide Strömungen wirken sich auch auf den christlichen Einsatz für den Schutz der Kinder aus. Sexuelle Übergriffe ihnen gegenüber sind zu verurteilen, da sie einerseits sexuelle Praktiken außerhalb der Ehe darstellen und ohne den Zweck der Prokreativität vollzogen werden. Andererseits können sie die kultische Reinheit der Kinder durch den Kontakt mit dem Bereich der Sexualität aufheben, vgl. Lutterbach, Hubertus, Der sexuelle Missbrauch von Kindern. Ein Verstoß gegen die christliche Tradition des Kinderschutzes, in: Ulonska, Herbert/ Rainer, Michael J. (Hg.), Sexualisierte Gewalt im Schutz von Kirchenmauern. Anstöße zur differenzierten (Selbst-)Wahrnehmung (= Theologie Forschung und Wissenschaft 6), Berlin 22007, 63–74, 71f.
[12] Vgl. Dreßing, Harald u. a., Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz (MHG-Studie). Online: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf (abgerufen am 24.10.20); Ernst, Stephan, „Ein Kleriker, der sich auf andere Weise gegen das sechste Gebot des Dekalogs verfehlt“. Anmerkungen und Anfragen aus moraltheologischer Sicht, in: Hallermann, Heribert u. a. (Hg.), Der Strafanspruch der Kirche in Fällen von sexuellem Missbrauch (= Würzburger Theologie 9), Würzburg 2012, 185–209.
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Mag. theol. Moritz Bauer hat in Mainz Katholische Theologie studiert und arbeitet seit Juli 2020 als Doktorand im SNF-Projekt „Komparative Theologie im Schweizer Kontext“ am Lehrstuhl für Vergleichende Religionsgeschichte und interreligiösen Dialog an der Universität Fribourg/ Schweiz.
Bild: Sabine Meyer / pixelio.de