Unter diesen Titel stellte Fulbert Steffensky am 5. Juli 2023 seinen Vortrag in Luzern. Die Reformierte Kirche Stadt Luzern hatte anlässlich des 90. Geburtstag des Autors zur Feier und Buchpräsentation eingeladen. Feinschwarz veröffentlicht hier den Vortrag, in Dankbarkeit und mit besten Wünschen an den Jubilar.
Ich mache mit Ihnen einen kleinen Streifzug durch die religiöse Welt, in der ich geboren wurde: 1933; durch die Welt, in der meine Kinder geboren und aufgewachsen sind, etwa nach der Mitte des letzten Jahrhunderts. Letzte Station des Streifzugs: heute – 2023.
Meine Generation ist seitdem einen langen Gang gegangen. Wir haben auf diesem Gang viel verloren, wir haben viel gewonnen. Ich frage mich, welche Verluste unser Gewinn waren. Ich frage mich, welche Verluste uns ärmer gemacht haben. Und ich frage mich, was wir uns nach unserem Gang für unsere Kinder und Enkelkinder wünschen. Ich frage also nach drei religiösen Welten: meiner alten Welt, nach der Welt meiner Kinder, die vermutlich von meiner Welt noch nicht ganz verschieden war, und schliesslich nach der Welt, die wir für unsere Nachkommen wünschen.
Für die katholische Welt, in der ich geboren wurde, finde ich drei Begriffe: Geschlossenheit, Ganzheit, Fraglosigkeit. Es war eine einstimmige Welt. Fast alle waren katholisch. Die wenigen Protestanten konnte man mühelos schlucken. Sie störten die Geschlossenheit jener Welt nicht. Die Einstimmigkeit machte die Stärke jener Welt aus. Die Leute wussten, was zu glauben war. Sie wussten, was zu beten und welche religiösen Akte zu vollziehen waren. Sie wussten, dass man in der „österlichen Zeit“ beichten ging; dass man freitags kein Fleisch ass und welche Heiligen bei Feuersgefahr und Halsleiden anzurufen waren. Aber man wusste auch, dass man keinen Protestanten, keine Protestantin, heiraten sollte; dass man Autoritäten gehorchen musste; dass vorehelicher Geschlechtsverkehr verboten und der eheliche massvoll zu vollziehen war. Eine Welt, in der für die ungetauften Kinder, die Mitglieder anderer Religionen – einschliesslich der Protestanten – das Seelenheil nur schwer zugänglich war. Das war ein hoher Preis für diese Zweifelsfreiheit und Einstimmigkeit. Systeme, die in sich keine Widersprüche und Gegensätze kennen und dulden, sind immer gefährlich, auch kirchliche. Diese zwanghafte Geschlossenheit haben die Kirchen verloren. Dieser Verlust ist ihr Gewinn. «Die Grösse eines Menschen zeigt sich darin, wie viele Gegensätze er in sich vereinigt.» So der Kardinal Nikolaus von Kues, der in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts gelebt hat. Auf die Kirchen übertragen: Die Grösse einer Kirche zeigt sich darin, wie viele Gegensätze sie in sich vereinigt.
Ich hüte mich davor, ungerecht zu sein jener alten Glaubenswelt gegenüber. So will ich zunächst ihren Trost nennen. Es war Krieg. Die Menschen bangten um ihre Männer und Söhne; die Bomben fielen, und nach dem Krieg tobte der Hunger. In jenen harten Zeiten war keine Zeit für den Zweifel, diesen erhabenen Bruder der Wahrheit. Man hatte keine Zeit für diffizile Glaubensüberlegungen. Man hockte im Haus dieses Glaubens und man fragte nicht, ob das Haus erneuerungsbedürftig war. Man wusste nicht einmal, was erneuert werden könnte. Man betete und fragte nicht nach dem Sinn des Gebetes, den kannte man, er war so selbstverständlich wie die Luft, die man atmete. Man hat um alles gebetet, man hat Gott für alles zuständig gehalten. Man hat gegen die Halsschmerzen gebetet, für das Gelingen eines Examens, für die Niederlage der Feinde, für den guten Ausgang einer Reise. Theodor Fontane hat diese Art des Betens im Gebet eines Pfarrers so karikiert: „Gott, lass heute die Sonne scheinen, meine Frau hängt die Wäsche auf.“ Gott war unmittelbarer Autor von allem, was geschieht – eine tröstliche und eine gefährliche Annahme.
Eine weitere Station meiner religiösen Reise: 13 Jahre als Mönch im Benediktinerkloster Maria Laach, dies aber nur als kurzer Exkurs. Nachkriegszeiten sind immer Klosterzeiten. So war es nach 1918, so war es noch stärker nach 1945. Die Institutionen hatten ihre Selbstverständlichkeiten verloren: die Kirchen, die Kollaborateure waren; die Schulen, die dem Ungeist gedient haben; viele unserer Väter und Mütter gehörten zu den Verrätern oder Zuschauern; unseren Dichtern und Musikern haben wir misstraut, denn sie haben mitgemacht oder sich missbrauchen lassen. Die meisten Deutschen haben nach dem Krieg und nach dem Wirtschaftswunder die Nazizeit für einen unerheblichen Klacks in der Geschichte gehalten. Der AfD-Chef Gauland hat die Hitler-Zeit relativiert: Die Nazis seien „nur ein Vogelschiss“ in 1000 Jahren deutscher Geschichte. Wir lebten in einer Gesellschaft des schlechten Gedächtnisses. Wohin geht ein junger Mensch, der sein Leben nicht vertun will und der sein eigenes Land nicht aushält? Er geht ins Kloster. Viele Klostereintritte sind eher aus Verzweiflung als aus Frömmigkeit geschehen.
Das also hat uns aus der Welt ins Kloster getrieben. Was aber hat uns dorthin gezogen, was suchten wir? Wir suchten ein einfaches Leben, in dem Besitz, Kleider, Geld, Ansehen keine oder doch nur eine geringe Rolle spielten. Nein, die Klöster waren keine Paradiese. Aber es waren Orte, an denen es nur wenig Überflüssiges gab. Die Einfach- und die Abwesenheit von Überflüssigem machten das Leben einsichtig. „Überflüssige Dinge machen das Leben überflüssig“, sagt Pasolini, eine der klügsten Sätze der Menschheitsgeschichte.
Wir suchten im Kloster ein gerechtes Leben, in dem Menschen das Geld und das Brot teilten; in dem z.B. das besitzanzeigende Wort „mein“ oder „dein“ in der Sprache verboten waren. Ja, es hatte seine rührende Komik, wenn die Mönche von „unserer Hose“ sprachen oder von „unserer Zahnbürste“. Es war das komische Zeichen einer gerechten Idee.
Die Idee der Gerechtigkeit, der Einfachheit und der Gottsuche war eine geteilte Idee. Die Kommunität und der Ort haben sie getragen, nicht der einzelne Mensch allein. Ideen werden stark, wenn sie geteilt werden. Ideen müssen Orte haben. Sie verblassen, wenn sie nur im Kopf von einzelnen nisten und nur mit den Händen von einzelnen erarbeitet werden.
Man hatte nicht nur geteilte Ideen, sondern geteilte Aufgaben; jedes der Klöster eine spezifische. Die Ingenbohler Schwestern haben sich um die Mädchenbildung gekümmert, die vernachlässigt war. Mutter Teresa und ihre Gruppe hat sich um die Sterbenden auf den Strassen Calcuttas gekümmert. Die Kapuziner in Deutschland haben sich nach dem Krieg vor allem um die Versöhnungsarbeit gekümmert und das Raue Haus in Hamburg, eine diakonische Gruppe, kümmerte sich um die obdachlosen Kinder und rechtlosen Jugendlichen auf den Strassen Hamburgs. Aufgaben müssen Orte haben. Mönche sind Nichtsnutze wie alle anderen Christenmenschen auch. Aber da gibt es ihren Ort, an dem man einfach lebt; an dem man Besitz, Ideen und Gebete teilt. Ich erwähne auch klösterliche Gruppen, die sich nicht durch ihre äusseren Arbeiten rechtfertigen können: die beschaulichen Orden. Vielleicht tragen sie mit ihren Klöstern und mit ihrem Leben in unseren profitversessenen Gesellschaften die am meisten aufsässige Idee eines Lebens, das sich nicht durch sich selbst rechtfertigen muss. Es ist ein unersetzlicher Verlust für den Katholizismus wie für die Gesamtkirche, wenn all diese Gruppen und Klöster aussterben.
Damit schliesse ich meinen klösterlichen Exkurs.
„Wenn man die Kirche“ nicht hätte, höre ich meine Mutter in jenen Zeiten meiner ersten religiösen Welt sagen; eine Welt, in der Glaube noch nicht ohne Kirche denkbar war, jedenfalls nicht im Katholizismus. Sie hat nicht gesagt: wenn man den Glauben nicht hätte. Getröstet hat sie jenes Haus, dessen Fundamente man für stabil hielt. „Ein Haus voll Glorie schauet“ hat man gesungen, jenes Haus, das viele mit den gleichen Absichten und mit dem gleichen Glauben beherbergt hat. Der Glaube war glaubhaft, weil er von so vielen getragen wurde. Wir sind Menschen, d.h. wir sind dialogische Wesen; wir sind abhängig davon, dass wir von anderen gesehen und bestätigt werden. Unser Selbstbewusstsein, und damit auch unser Glaube bildet sich nicht allein und in Einsamkeit heraus, sondern im Austausch und in Gemeinschaft mit anderen. Man kann sich selbst nur verstehen, wenn man ein Gegenüber hat; wenn man im Kontext mit anderen lebt und glaubt. Das heisst: Der Glaube kommt auf Dauer nicht ohne Kirche aus; nicht ohne eine Gruppe, in der Menschen ihre Überzeugung teilen, miteinander ein Bekenntnis haben; ein Bekenntnis, das sich nicht nur in Sätzen abspielte, sondern in vielen Gesten, Aufführungen und Inszenierungen seine Gestalt findet. Ich gestehe, dass ich manchmal Heimweh empfinde nach jenem alten Haus, in dem alles seinen Ort, seine Zeichen und seine Erklärung hatte. Ich gestehe, dass ich manchmal eine Spur von Heimweh habe nach jener Welt, in der man nicht immer vollständiger Autor seiner selbst sein musste und in der man sich fraglos bergen konnte in den Glauben der Toten und der lebenden Geschwister; beten und singen konnte mit der Stimme und den Liedern, die heilig waren, weil so viele vor uns sie geheiligt hatten; die wahr waren, weil so viele vor uns sie für wahr gehalten haben.
Was ich bisher gesagt habe, hat mein katholisches Herz gesprochen. Der protestantisch-moderne Teil dieses Herzen murrt. Es verlangt von mir zu bedenken, was jene Ganzheit, Geschlossenheit und Zweifelsfreiheit angerichtet hat. Es murrt und verlangt von mir, Subjekt meiner selbst zu sein; meines eigenen Glaubens, meiner eigenen Erkenntnis und meiner eigenen Entscheidungen. „Lass die Toten die Toten begraben!“, fordert es mit den Worten jenes jungen Mannes aus Nazareth. Ich aber bin alt und brauche den Glauben meiner Toten, um glauben zu können. Es gibt nicht nur eine Bekehrung von den Toten weg und gegen sie. Es gibt auch eine Bekehrung zu den Toten; zu Hildegard von Bingen, die dem Mainzer Bischof widerstanden hat; zu Karl Rahner, der seine Kirche ehrte und sie zum Wackeln brachte; zu Dorothee Sölle, die aus der Kirche nicht zu vertreiben war, obwohl es viele versucht haben; zu meiner Mutter, die ihren abendlichen Rosenkranz gebetet hat, im Oktober gleich drei.
Ich frage: Wie war es mit dem Kirchenhaus, als unsere Kinder in dieses Haus geboren und in ihm getauft wurden? Das Wirtschaftswunder erfreute uns alle und wir setzten Fett an, die Arbeitslosigkeit war gering und wir sahen Robert Lembkes heiteres Berufsraten. 1955 entstand der Film „Das verflixte siebte Jahr“ mit Marilyn Monroe. Oh, Ihr Jüngeren, was habt Ihr verpasst, wenn Ihr die Szene verpasst habt, in der sie ihren Rock über einem U-Bahn Schacht zu halten versuchte! Es hat sich nicht nur die Theologie verändert, sondern die Theologie veränderte sich, weil sich die Lebenssituationen der Menschen verändert hatten. Wir waren nicht mehr nur aufs Überleben bedacht. Wir hatten Zeit und Musse zu fragen und zu befragen. Das alte Haus meiner Kindheit war bei der Geburt unserer Kinder noch nicht eingestürzt. Noch wurden sie bei ihrer Taufe gefragt: Widersagst du dem Satan? Noch durfte ein Laie mit seinen Händen die Hostie nicht berühren und noch haben die Konfessionen behauptet, sie seien die einzigen Besitzer der Wahrheit. Das alte Haus stand noch, aber es wackelte und einige Bilder stürzten schon von den Wänden. Viele hatten das unklare Gefühl: So geht es nicht weiter, aber was so nicht weiter gehen sollte, war undeutlich. Was wir wünschen sollten und konnten, wussten wir noch nicht. Auch das Wünschen muss man lernen. Ich sage es an einem Beispiel: Ab Mitte der 50er Jahre wuchs der Gedanke eines notwendigen Konzils. Etwas später, das Konzil war einberufen, nahm mich ein Konzilsvater auf eine Reise mit und er fragte mich, was ich mir vom Konzil wünschte. Meine Antwort: Die Epistel und das Evangelium sollten auf Deutsch gelesen werden. O heilige Einfalt der bescheidenen Wünsche! Ja, dann bald haben wir das Wünschen in beiden Kirchen gelernt.
Ich habe eine grundlegende Veränderung nachzutragen, die sich seit meiner Kindheit für Glaube und Kirche ereignet hat, sie heisst Auschwitz. Für unseren Glauben, für unser religiöses Empfinden ist es nicht mehr derselbe Gott, zu dem wir nach der Erfahrung der grossen Zerstörungen beten. Wir haben die Illusionen über den Menschen verloren. Wir haben die Illusionen über Gott verloren. Ganz ohne Zögern können wir das herrliche Lied von Joachim Neander aus dem 17. Jahrhundert nicht mehr singen:
Lobet den Herren, der alles so herrlich regieret.
Der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet,
der dich erhält, wie es dir selber gefällt;
hast du nicht dieses verspüret?
Es ist nicht mehr derselbe Gott, zu dem wir singen. Wir haben es lange nicht gemerkt und haben getan, als seien Welt und Glauben nicht in ihren Grundfesten erschüttert. Der Atheismus ist seit Auschwitz nie mehr ganz aus unseren Herzen zu vertreiben. Die Gebete derer, die in die Feueröfen getrieben wurden, sind nicht erhört worden. Wir leiden an Gott, dessen Engel versprochen sind und die doch so weit entfernt sind, wenn wir in den Strudel der Untergänge geraten. Der Regenbogen erinnert uns daran, was wir Gott schuldig sind, er erinnert uns daran, was Gott den Menschen schuldig ist. Ich habe keine Lust, Gott zu verteidigen und zu behaupten, dass er uns auf höhere Weise erhört und auf andere Weise rettet, als wir es sehen und wünschen. Die Menschen, die Menschen, die in die Öfen getrieben wurden, wollten nicht auf höhere Weise erhört und gerettet werden. Sie wollten atmen, und sie sind erstickt. Sie wollten leben, und ihre Leiber wurden zu Asche. Ihre Leiden waren sinnlos, und ich weigere mich, diesen Leiden einen höheren Sinn unterzuschieben. Je älter ich werde, umso mehr höre ich auf, die Welt zu erklären. Auch unser Glaube erklärt nichts. Es gibt die grossen und unüberbrückbaren Widersprüche zwischen den Versprechungen Gottes und dem Zustand dieser Welt. Nur eine ewig gültige Theologie, die absieht vom Zustand dieser Welt, kann alles erklären. Aber sie wäre ein Alptraum. Wenn wir Christenmenschen von Hoffnung sprechen, darf man uns nicht vorwerfen können, wir seien Leute, die nicht so genau hinschauten; Naivlinge, die nur noch nicht gemerkt haben, was alles gegen den Regenbogen spricht. Hoffnung lernen, heisst auch Illusionen verlernen, auch die Illusionen über Gott.
Ich höre im 22. Psalm die alte und nicht zu beantwortende Warum-Frage, die alle Gequälten dieser Erde stellen: Warum, Gott, hast du mich verlassen? Warum hörst du nicht? Warum antwortest du nicht? Warum muss ich wie ein getretener Wurm leben? Ich höre im selben 22. Psalm eine völlig andere Stimme; die Stimme, die Gott lobt, wenn auch aus krächzender Kehle: „Du bist heilig, Gott. Du thronst über den Lobgesängen Israels. Ich will dich preisen in der Gemeinde.“ Eine einsichtige Lösung gibt es nicht. Was sollen wir tun? Gegen alle Erfahrung das herrliche alte Lied singen: Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren. Lobet den Herren, der alles so herrlich regieret. Widersprüche, über die man nicht hinwegkommt. Wiederum Nikolaus von Kues: Die Grösse eines Menschen zeigt sich darin, wie viele Gegensätze er in sich vereinigt. Widerspruchsfreiheit war ein Ideal der alten Theologie. Jetzt ist es Zeit, die Widersprüche zu retten. Was haben wir verloren im Laufe der letzten 90 Jahren?, frage ich. Verloren haben wir die einleuchtende Systematik der theologischen Aussagen. Aber dieser Verlust ist auch unser Reichtum, unser schmerzender Reichtum.
Ich frage weiter: Was haben wir verloren? Was gewonnen? Wir haben die alten Sicherheiten verloren. Als Glaubende, auch als Theologen und Theologinnen tasten wir uns wie Blinde an das grosse Geheimnis Gottes. Wir probieren und verwerfen und sind fähig geworden, uns zu irren und fähig, uns neuen Wahrheiten zu nähern. An theologischen Endgültigkeiten zweifeln wir. Wir glauben nicht mehr als Kirche an unsere Einzigartigkeit und Einmaligkeit. Wir haben gelernt, dass es andere Sprachen gibt, in denen Gott gelobt und gepriesen wird. Und so sind wir geschwisterlicher geworden. Wir sind erwachsener geworden und glauben nicht mehr an die kindliche Auffassung, die verschiedenen Christengruppen dürften nicht an einen Tisch und dürften sich das Brot des Lebens nicht gönnen.
Noch ein Verlust, den wir vergnügt als Gewinn buchen: Einigen gekrönten Häuptern der Schöpfung ist ihre Krone abhandengekommen. Die Männer haben sie verloren den Frauen gegenüber. Die Weissen haben sie verloren den Schwarzen gegenüber. Die Menschen haben sie verloren den Tieren gegenüber. Keiner ist mehr Oberhaupt der Schöpfung. Ich sage: Sie haben sie verloren, als sei alles schon geschehen. Aber wenigstens sind wir auf dem Weg. Unsere Kirche war noch nie so schön, wie sie heute ist. Die Kirche ist kleiner geworden, ärmer, machtloser, und sie ist schöner geworden. Noch nie war ihre Aufmerksamkeit auf den Frieden und die gerechte Verteilung der Güter grösser als heute. Sie hat ihr Ansehen bei den Angesehenen verloren, und sie ist frei geworden. Sie hat nur noch einen Herrn, dem sie dient. Man kann in dem Haus unseres Glaubens nur leben, wenn man sieht, wie schön es schon ist. Leichte Übertreibungen sind beim Lob dieses Hauses gestattet und erwünscht!
Welcher Verlust ist ein Gewinn, welcher Verlust bleibt ein Verlust? Ich nenne einen Verlust, der mich am meisten beunruhigt: Es ist das Verblassen der Frage nach Gott. Ja, das Wort haben wir und hören wir an allen Stellen. Aber wo nähern wir uns ernsthaft, zögernd, verzweifelt, sprachlos, getröstet, seine Schönheit bewundernd, entsetzt, zornig dem grossen Geheimnis, dem Herzen der Welt? Zwei Dinge sind wichtig in unserer Leidenschaft: Gott und das Brot der Armen. Alles andere ist unwichtig.
Es könnte sein, dass wir als Kirche, um der Gesellschaft einzuleuchten, nur noch das erzählen, was ihr sowieso einleuchtet. Aber wir haben die schwere Aufgabe, mit unserer schwachen Stimme das Geheimnis Gottes zu sagen. Die Gefahr ist, dass wir aus eigener Glaubensschwäche bei den Sagbarkeiten bleiben; bei den kleinen Wahrheiten, die jeder und jedem eingängig sind. Was mich in den letzten Jahren zunehmend stört, ist der geringe Mut zur grossen und ins Unsägliche ausgreifenden Sprache; die Bescheidenheit, in der wir uns darauf beschränken, das aus der Bibel herauszulesen, was man mit menschlicher Stimme sagen kann, ein bisschen Moral und ein bisschen Menschlichkeit. Moral und Menschlichkeit sind viel, aber die Bibel ist das Buch der Unsagbarkeiten, es ist das Buch, das Gott und Christus nennt.
Ich stelle mir zwei Fragen, die mich die alte Welt, von der ich gesprochen habe, zu stellen lehrt:
Die erste Frage: Kann es noch einmal eine religiöse Welt geben, die, ohne das Subjekt und seine Freiheit zu verraten, ein Allgemeines kennt, auf das man sich verständigen kann, zumindest halbwegs verständigen kann? Den Zusammenbruch des Allgemeinen sehen wir an vielen Stellen, auch in der Kirche. Wir sehen die Verpäpstlichung der Subjekte, die Verpäpstlichung der Gruppen. Ja, es gibt auch eine Verpäpstlichung von unten, eine beanspruchte Unfehlbarkeit, in der ein Allgemeines nur schwer zu denken ist. In der Schweiz gehe ich in katholische wie in reformierten Gottesdienste. In den reformierten Gottesdiensten wird eher selten ein Glaubensbekenntnis gesprochen, weil man sich nicht auf eines verständigen kann. Schade! Das Glaubensbekenntnis ist ja wie ein Paar Schuhe, das allen gehört und das keinem richtig passt. Ein wundervolles Spiel: Ich muss nicht nur Ich sein mit meinem kümmerlichen Glauben. Ich habe die Sätze meine Geschwister, und es ist mir gleichgültig, ob ich sie ganz verstehe oder nicht. Es ist mir auch nicht wichtig, ob ich die Sätze eines Bekenntnisses für richtig halte oder nicht. Beim Glaubensbekenntnis spiele ich auch den Glaubenden im Sprachspiel meiner toten und lebenden Geschwister. Das ist eine Art Vorspiel des Glaubens, das der Glaube irgendwann vielleicht einholt, vielleicht auch nicht. Man muss ja nicht alles glauben.
Die zweite Frage: Kann es noch einmal eine religiöse Welt geben, die nicht hauptsächlich aus hoher Theologie besteht, sondern die sich mit den einfachen Wünschen an das Leben verbinden kann? Eine Welt, in der das Brot, das Wasser, die Tiere, die Atemluft eine religiöse Bedeutung haben? Eine Welt, die nicht nur Erlösung kennt, sondern auch Schöpfung? Das scheint mir eine besondere Frage an den Protestantismus. Die Reformation hat den Glauben vergeistigt gegen die mittelalterliche Verdinglichung, was notwendig war. Aber er hat auch die Gaben der Gegenwart vernachlässigt, er hat das Christentum entweltlicht und hat damit die Welt vielen Dämonen überlassen.
Kann es noch einmal eine religiöse Welt geben, in der man aus der eigenen Kläglichkeit flüchten kann in die guten Mächte von Gewohnheiten; in die Gewohnheit, Zeiten und Rhythmen zu beachten; in die Gewohnheit, Orte zu ehren; in die Gewohnheit, sich unter Gesten und Rituale zu beugen; in die Fähigkeit; die Sprache der Lebenden und der Toten zu ehren? Ist es dem Subjekt erlaubt, endlich der puren Innerlichkeit müde zu sein und sich in die grossen Begehungen zu flüchten, die die Tradition überliefert? Ich habe vom Protestantismus und mit den Reformatoren gelernt, ein freier Geist zu sein. Ich möchte vom Katholizismus die Demut lernen, mich selbst zu überschreiten und mich zu verbünden mit dem grossen Gottesgespräch unserer Toten, nichts anderes sind unsere Traditionen. Kann man die eigene subjektive Kläglichkeit bergen in die Objektivität von Formen und Gesten, die lange geübt und nicht nur von uns selbst erfunden sind? Formen und Sprache, die speckig sind, weil sie durch so viele Hände gegangen sind. Nein, originell sind sie meistens nicht. Sie glänzen vom Glauben vieler Generationen, das ist ihr Speck. Ich möchte üben, meine eigene Wahrheit zu lernen an der Wahrheit des Allgemeinen, an der Wahrheit der Kirche. Es ist zu anstrengend, sich in der eignen Freiheit zu erschöpfen. Es ist mir zu anstrengend, nur Kirche der Freiheit zu sein. Wir sind Kirche Gottes, das ist noch etwas mehr. Nein, ich möchte nicht mehr zurück in die alte voraufgeklärte katholische Welt. Aber vielleicht können wir einiges lernen von dem, was den Alten schon gelungen ist.
In der reformatorischen wie in der katholischen Theologie hat man gefragt, was die Spuren und die Zeichen sind, an denen man eine christliche Kirche erkennt, die notae ecclesiae. Als Wesensmerkmale einer universalen Kirche hat man ihre Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität genannt. Ich nenne weitere Spuren einer Kirche, in der man atmen kann, Gott suchen und der Gerechtigkeit aufhelfen kann. Ich suche eine offene Kirche. Eine offene Kirche ist nicht einfach eine verdünnte Kirche; eine Kirche, der man nicht anmerkt, dass sie Kirche ist. Es ist ein Ort der verschiedenen Glaubens- und Unglaubensarten. Es ist ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen, die man nicht beieinander erwartet. Es ist ein Ort im Morgengrauen des Glaubens; ein Ort, an dem die Undeutlichkeit des Glaubens grösser ist als seine Klarheit; ein Ort auch neuer Wahrheiten, weil man nicht geblendet ist durch falsche Endgültigkeiten. Aber dieser Ort nennt sich Kirche, offene Kirche. Dort vielleicht in anderer Form: probierender, spielerischer, unabgeschlossener: wahrheitsfähig, weil irrtumsfreudig.
Ich suche eine stolze Kirche. Die Kirche ist mit ihren Traditionen ein Schatzhaus der Erinnerung. Eine Gesellschaft kann nicht leben ohne die Quellen grosser Erzählung von der Würde und vom Gelingen des Lebens. Die Moral, die Hoffnung und Zuversicht einer Gesellschaft leben nicht allein von Argumenten und klugen Überlegungen. Sie leben von der Erinnerung an Geschichten von gelungener Würde und von Erzählungen von der Möglichkeit des Lebens inmitten seiner Bedrohungen. Mein Beispiel: die Bergpredigt. Wo sagt sich eine Gesellschaft, dass die Hungernden einmal satt werden? Wo sagt sie sich, dass die Sanftmütigen das Land besitzen sollen und nicht die Machtbesessenen? Wo verspricht sie, dass die Leidenden nicht trostlos sein werden? Wo sagt sie, dass die Friedensstifter die Söhne und Töchter Gottes sein werden? Wo sagt sie, dass alle, die um der Gerechtigkeit wegen verfolgt werden, Erben der Fülle Gottes sein werden? Diese Geschichten braucht die Gesellschaft.
Ich suche eine demütige Kirche, die weiss: Wir sind nicht die einzigen in unserer Gesellschaft, die von Gott erzählen und ihn verehren. Unsere Häuser sind nicht die einzigen, in denen man etwas vom Charme des Betens weiss. Wir sind nicht die einzigen, die für den Frieden eintreten und auf dem Recht der Armen bestehen. Wir sind nicht die einzigen, die grosse Erzählungen der Rettung des Lebens weitersagen. Mit anderen Menschen und Gruppen leben, heisst sich von der eigenen Dominanz verabschieden. Wir haben uns lange für die Wichtigsten gehalten. Wir sind es nicht. Wir sind Mitspieler im grossen Spiel der Humanität, nicht Schiedsrichter und nicht Linienrichter. Wir sind wichtig, und wir sind nicht alles. Gott ist alles, und das genügt. Unsere Frage kann nicht sein: Von wem grenzen wir uns ab und bestätigen uns selbst mit dem Mittel der Abgrenzung? Die Frage ist vielmehr, mit wem zusammen spielen wir das grosse Spiel der Humanität und der Verehrung Gottes?
Ich suche eine missionarische Kirche. Den Namen Gottes vor anderen und für andere zu nennen, ist Mission. Ich will auf dieses Wort nicht verzichten, aber ich will es interpretieren. Mission heisst zeigen, was einem wichtig ist, worauf man setzt und was man liebt. Mission: sich zeigen und niemanden zwingen. Der Glaube braucht Öffentlichkeit, er muss aus seinem eigenen Schatten treten und Zeugnis werden. Man wird zu dem, als der man sich zeigt. Man gewinnt Gesicht, indem man Gesicht zeigt. Das gilt für alle Überzeugungen, nicht nur für die religiöse. Darum kann ich mir keinen Menschen mit einer wirklichen Lebensoption vorstellen, der nicht für sie wirbt und damit an die Öffentlichkeit geht. Alle wesentlichen und die Existenz des Menschen betreffenden Vorgänge spielen sich nicht nur in seinem Inneren ab. Sie drängen nach aussen, sie wollen inszeniert und gesehen werden, sie brauchen Publikum und Zeugen. Es bestätigt also den Glauben, wenn man sich als Glaubenden zeigt.
Ich will in einer offenen Kirche niemanden belehren und bekehren. Wohl will ich etwas von der Schönheit der eigenen Glaubenstradition zeigen. Die Schönheit, für die ich plädiere, ist nicht nur eine formalästhetische Angelegenheit. Schön nenne ich unsere Traditionen, die die Freiheit und Würde des Menschen und die Würde Gottes zeigen. Schön nenne ich die Begriffe Schuld und Sünde, weil sie die Freiheit und die Subjekthaftigkeit des Menschen betonen. Von aufsässiger Schönheit sind die Geschichten, die von dem Gott erzählen, der die Armen liebt und das Verlorene nicht verloren gibt. Von atemberaubender Schönheit ist die Erzählung von dem Gott, der sich in Christus selbst verliert und einer der Gequälten dieser Erde wird. Unsere eigene Tradition als schön, als des Menschen und Gottes würdig zu beschreiben, das wäre die Rhetorik, die es Menschen einleuchtend macht, dass Christen und Christinnen glauben.
Ich suche eine gastliche Kirche. Die Säkularisierung schreitet fort, zumindest in Europa. Zugleich ist überall eine Art „kapellenloser Glaube“ (Rilke) zu finden; d.h. eine Sehnsucht, die sich nicht mehr an deutliche Traditionen und Institutionen bindet; ein Glaube auf Zeit und in Undeutlichkeit.2002 gab es ein Attentat in der Gutenberg-Schule in Erfurt, das die Kinder tief verstörte. Die Pfarrerin lud für den Tatabend zum Gottesdienst ein. Die Kirchen in dem sehr säkularen Erfurt waren voll. Sie waren die ganze Woche offen für Stille, Gebet und Gespräch. Die Menschen, die kaum noch Gebete kannten, haben sich die christliche Sprache ausgeliehen für diese Zeit der Not. Am Samstag nach dem Attentat gab es einen grossen Gottesdienst auf den Domstufen. Der Domplatz war voller Menschen. Die Kirchen sind eine Art Kostüm- und Sprachverleihanstalt. Sie leihen Kleider, Masken, Sprachen, Lieder, Gesten aus an die, die keine eigenen haben und die doch gelegentlich spüren, dass sie sie brauchen. Wo die Kirchen die Klarheit der Botschaft wahren, da können Menschen Brosamen von diesem Brot mitnehmen in ihren durstigen, sehnsüchtigen und „kapellenlosen“ Alltag. Die säkulare Gesellschaft braucht die Öffentlichkeit der Kirchen. Sie braucht ihre unsäglichen Nachrichten, wo sie selbst keine „Meistererzählungen“ mehr hat. Sie braucht ihre Gesten in den dramatischsten Stunden des Lebens. Der zeitweilige Glaube drängt sich an den ihm fremden Ort. Menschen sind Gast im Glauben auf Zeit, und die Aufgabe der Kirche ist, den Fremden zur Verfügung zu stehen und Gastfreundschaft zu gewähren, den stummen Mündern Sprache zu leihen und dem kapellenlosen Glauben ein Haus. Auch der Glaube auf Zeit ist eine Form des Glaubens. Wer wollte ihn verachten in kargen Zeiten?
Liebe Geschwister, irgendwann muss man mit dem Glauben beginnen, wenn das Leben eine Kontur bekommen soll, einen Sinn. Ich muss mich nicht ständig befragen, ob ich tief innerlich glaube. Wir modernen, aufgeklärten, intellektuell redlichen Christen und Christinnen, besonders die aus der Zunft der Theologie, stolpern oft über ihre eigenen religiösen Beine. Ein solcher moderner Christ geht folgenden holprigen Weg. Erstens: Er überlegt, ob man heutzutage als moderner Zeitgenosse noch beten kann. Zweitens: Er betet. Drittens: Er beobachtet sich beim Beten, Viertens: Er schreibt einen Artikel über seine Beobachtungen und die Schwierigkeit des Betens. Was ich dieser Christin wünsche: zentnerweise Humor. Humor den eigenen Zweifeln gegenüber, Humor sich selbst gegenüber. Auf jeden Fall soll niemand seine Zweifel hofieren. Als ich junger Theologiestudent war, musste ich im Seminar ein Referat über das Gebet halten. Ich war damals schon modern, wälzte das Thema hin und her, betrachtete es von oben nach unten, betrachtete es historisch und psychologisch, marinierte es in reichlich Einerseits – Andererseits. Meinem alten schwäbischen Professor war das zu viel Kluggeschissen und er rief grob: „Beten Sie und halten Sie das Maul.“ Ich bin nicht so unhöflich, Ihnen zum Ende meines Vortrags diesen Satz des Professors zuzumuten. Aber ich kann es mir ja selber sagen: Bete – und halts Maul!
Luzern, 5.7.2023
Fulbert Steffensky, geb. 1933, Studium der katholischen und evangelischen Theologie, 1975-1998 Professor für Religionspädagogik am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Er lebt heute in Luzern.