In einem Beitrag auf feinschwarz.net hat Daniel Saudek sich mit dem wirtschaftsethischen Ansatz von Martin Rhonheimer auseinandergesetzt. Dieser antwortet auf die Thesen.
In seinem Beitrag Martin Rhonheimers relativistische „Sozialethik“ gelangt Daniel Saudek aufgrund zweier Zitate aus meinen Schriften zum Schluss, ich behaupte „der Mensch hat kein Recht darauf, von seiner Arbeit zu leben, und Menschen in Not haben kein Recht auf das Lebensnotwendige“. Damit würde ich „das Recht auf Leben, und mit ihm die Grundlage des Naturrechts“ negieren. Saudek zitiert mich jedoch unvollständig und seine Schlussfolgerungen sind entsprechend unbegründet, ja widersprechen teilweise diametral dem, was ich in Wirklichkeit vertrete.
Die Idee des Familienlohnes
In einem ersten Zitat (aus einem Beitrag von mir in einem vom „Päpstlichen Rat für Gerechtigkeit und Frieden“ herausgegebenen Sammelband zum Jubiläum der Enzyklika „Pacem in terris“) heißt es:
„Wenn sie über gerechte Löhne, besonders den Familienlohn, lehren, ignorieren nicht nur PT [Pacem in Terris] sondern auch ein großer Teil der Katholischen Soziallehre die Tradition der Spätscholastiker, besonders die Schule von Salamanca. So schrieb Luis de Molina … dass der Lohn, den der Arbeitgeber aufgrund der Gerechtigkeit zu zahlen verpflichtet ist, genau der Entgelt für des Arbeiters ‚Dienste unter Berücksichtigung aller dazugehörigen Umstände, nicht was für seinen Lebensunterhalt und noch viel weniger für den Unterhalt seiner Kinder und seiner Familie ausreichend‘ sei. Der Entgelt für jemandes Dienste ist genau der Marktlohn, der durch den Wert der Dienste des Arbeitnehmers, nicht durch seine Bedürfnisse bestimmt ist … Meiner Ansicht nach ist die Idee eines ‚Familienlohns‘ als einer Verpflichtung der Gerechtigkeit gegenüber Arbeitnehmern, wie sie häufig in der modernen Soziallehre der Kirche wiederholt wird, ein dieser Lehre fremdes Element.“
Nun hat jedoch Saudek die Fortsetzung des letzten Satzes weggelassen, in der deutlich wird, worauf ich hinauswill (im Text findet sich kein Schlusspunkt):
“[… ein dieser Lehre fremdes Element], das, obwohl es auf einer richtigen Intuition beruht, in der heutigen Form keine Wurzeln in der katholischen Tradition besitzt, sondern eher aus der modernen Gewerkschaftsbewegung stammt. Als eine an Arbeitnehmer unter dem Stichwort ‚gerechter Lohn‘ anstelle von Marktlöhnen gerichtete Intuition widerspricht diese Forderung jedenfalls gesundem ökonomischem Denken, das man, wenn es um Fragen der Gerechtigkeit geht, nie außer Acht lassen sollte.“
Soziale Marktwirtschaft oder geplante Wirtschaft?
In einer von Saudek ebenfalls nicht erwähnten Anmerkung ergänze ich, ein Arbeitergeber oder eine Arbeitgeberin hätte unter Umständen die Pflicht, etwa aus Solidarität oder Nächstenliebe, bedürftige Arbeitskräfte auf andere Weise zu unterstützen.
Nach der Anerkennung der “richtigen Intuition“, die der Idee eines die Lebenshaltungskosten deckenden Lohns zugrunde liegt – der Mensch soll ja von seiner Arbeit leben können –, kritisiere ich also deren „heutige Form“. Denn Löhne, wie sie von den Gewerkschaften oft gefordert wurden, die Produktivitätsniveau und Marktlage nicht berücksichtigen, sind letztlich kontraproduktiv, weil sie notwendigerweise zu einer Erhöhung der Arbeitslosigkeit und zu Inflation führen. In einer nicht-planwirtschaftlichen, d.h. marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung können die Löhne nicht einfach nach den „Bedürfnissen“ festgesetzt werden – das wäre die marxistische Utopie „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ (Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 21).
Die ökonomisch unrealistische Forderung eines Familienlohns hat die kirchliche Soziallehre inzwischen aufgegeben, sie ist im „Kompendium der Soziallehre der Kirche“ von 2004 (Nr. 250) nur noch in der Form „wichtiger gesellschaftlicher Maßnahmen“ zur Unterstützung der Familie (z.B. Kindergeld) zu finden, aber nicht mehr als Lohnforderung an den Arbeitgeber bzw. als eine Rechtspflicht desselben.
An ihre Stelle ist der Sozialstaat getreten, den ich gemäß Saudek ablehne, was aber nicht stimmt; ich plädiere nur für seine Beschränkung auf das für die Wahrung der menschlichen Würde Notwendige, seine demokratische Legitimierung und die Beachtung des Subsidiaritätsprinzips.
Legitime Umverteilung?
Saudek versucht meine angebliche Botschaft „der Mensch hat kein Recht darauf, von seiner Arbeit zu leben, und Menschen in Not haben kein Recht auf das Lebensnotwendige“ durch folgendes Zitat zu belegen:
„Es scheint mir schwierig zu sein, vernünftigerweise anzunehmen, dass weniger gut situierte Menschen und jene in echter Not im eigentlichen Sinne ein Recht darauf haben, dass Marktprozesse durch Umverteilungsmaßnahmen korrigiert werden … Ich denke vielmehr, dass die Korrektur der Folgen des Marktes durch Umverteilung in einer Verpflichtung – einer moralischen Verpflichtung – der Solidarität von Seiten der Wohlhabenderen zu Gunsten derer in Not begründet werden muss.“
Hier wurde jedoch wiederum unvollständig zitiert (auch hier steht im Original nach dem letzten Satz kein Schlusspunkt), der Satz geht nämlich folgendermaßen weiter:
“… eine Verpflichtung, die Bürgerinnen und Bürger aus gerechten und vernünftigen Gründen an demokratisch kontrollierte öffentliche Regierungsstellen delegieren, damit sie diese an ihrer Stelle durch umverteilende Maßnahmen in die Tat umsetzen (wobei die Höhe und die Grenzen solcher Maßnahmen genau aufgrund der Solidaritätspflicht der Bessergestellten gegenüber den weniger gut Gestellten zu bemessen sind, und nicht aufgrund eines Musters oder Programms einer egalitären ‚gerechten Gesellschaft‘).“
Privateigentum als Chance und Möglichkeit
Genau das ist die Idee des demokratisch legitimierten Sozialstaats, in dessen Rahmen natürlich auch entsprechende Rechte formuliert werden. Würde solche Umverteilung an Bedürftigen jedoch unabhängig davon auf einem Recht beruhen, wäre der Staat auch ohne Zustimmung der Bürger ermächtigt, einfach umzuverteilen, ja jedermann hätte das Recht, sich zu nehmen, was er braucht – denn Bedürftigkeit würde dann ja einen Rechtstitel begründen. Solches hatte schon Leo XIII. 1891 scharf verurteilt, es wäre „Raub“, schrieb er in „Rerum novarum“ (Nr. 30), die vorrangige Aufgabe des Staates sei deshalb, das Privateigentum zu schützen. Denn, so der Papst („Rerum novarum“ Nr. 7), das Privateigentum ist es, das gewährleistet, dass die Güter dieser Erde – letztlich durch Arbeit – allen Menschen zugutekommen.
Wichtig ist die klassische, und von mir an verschiedenen Orten, wie etwa in meinem Paper Wie viel Staat braucht eine gerechte Gesellschaft? festgehaltene traditionelle Unterscheidung zwischen Pflichten der Gerechtigkeit und solchen der Nächstenliebe (heute würden wir auch von „Solidarität“ oder von „Geschwisterlichkeit“ sprechen). Gegenüber Menschen in extremer Not, wenn es also um das nackte Überleben geht, ist, wie Thomas von Aquin schrieb, „alles gemeinsam“ (Thema „Mundraub“). Auf Situationen extremer Not bezieht sich auch das von Saudek angeführten Zitat von Gregor dem Großen. Auf dieser Ebene darf der Staat im Namen der strikten Gerechtigkeit auf gesetzlichem Wege Unterstützung von anderen Bürgern auch gegen deren Willen einfordern. Dazu habe ich mich auch vor kurzem in einem Beitrag über Hayeks Kritik der „sozialen Gerechtigkeit“ geäußert: „… wer dies als illegitimen Eingriff in seine individuelle Freiheit betrachtet, stellt sich außerhalb der Sozialgemeinschaft, der Menschen von Natur aus angehören, und der entsprechenden Solidarität und verstößt damit gegen jene Art von Gerechtigkeit, die auf der Ebene der Menschenwürde angesiedelt ist.“
Andere Punkte kann ich nur kurz erwähnen: Ich lehne Klimaschutz keineswegs ab, sondern eben nur, was ich in diesem Bereich als „hochgradig ideologische Agenda“ und andernorts als Klimapopulismus bezeichne. Dabei stehe ich auf dem Boden der Wissenschaft, wie sie sich auch im letzten Bericht des UNO-Klimarates findet. Weiter habe ich nie behauptet, die kirchliche Soziallehre sei insgesamt antikapitalistisch und dieser Antikapitalismus sei antisemitisch motiviert, sondern nur, dass der antisemitisch motivierte Antikapitalismus „in der katholischen Sozialethik des 20. Jahrhunderts seine Spuren hinterlassen hat“ (bei Saudek 2017b), wofür ich Gustav Gundlach und Johannes Messner als Beispiele anführe. Schließlich habe ich nie gesagt, es sei „nicht Aufgabe der Kirche, eine Soziallehre aufzustellen“, so formulierte der Interviewer (vgl. bei Saudek 2017a), sondern nur, sie solle sich auf „Grundprinzipien“ beschränken, sich aber aus der konkreten Frage „nach der Wirtschaftsordnung und worin soziale Gerechtigkeit besteht“ heraushalten. In solch praktischen und technischen Fragen sollte sich jeder katholische Bürger und jede Bürgerin eine eigene Ansicht bilden, unterschiedliche Meinungen sollten akzeptiert und niemand ausgegrenzt werden.
Für weiteres verweise ich auf meine vielen, teilweise auch online (www.austrian-institute.org) oder auf Anfrage via E-Mail von mir erhältlichen Veröffentlichungen. Jedenfalls: Soll über solche Themen eine echte und faire Debatte entstehen können, darf man Aussagen des jeweiligen Kontrahenten nicht verkürzt wiedergeben.
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Martin Rhonheimer war von 1990 bis 2020 Professor für Ethik und politische Philosophie an der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom. Er ist Gründungspräsident des Austrian Institute of Economics and Social Philosophy in Wien, wo er gegenwärtig lebt.
Bild: S.Hofschlaeger / pixelio.de