Am heutigen 9. April jährt sich die Ermordung Dietrich Bonhoeffers durch die Nationalsozialisten zum 75. Mal. Norbert Reck erinnert an den großen Theologen.
Noch bis in die 1970er-Jahre wurde Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) in Zeitungsartikeln und Leserbriefspalten als „ehrloser Vaterlandsverräter“ und „nichtswürdiger Verbrecher“ beschimpft. Davon ist heute nichts mehr zu hören. Für die evangelischen Kirchen ist Bonhoeffer inzwischen eine wichtige Bezugsfigur; Katholiken loben ihn für seine ökumenische Offenheit, und sein Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ ist mit einer gefälligen Melodie versehen in viele kirchliche Gesangbücher eingewandert. Mehr noch: Im vergangenen Jahr ließ die US-Botschaft im Namen der Trump-Regierung an Bonhoeffers Hinrichtungsstätte in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg eine Gedenktafel zu seinen Ehren anbringen, und sogar die AfD zählt ihn unter die „Helden der Nation in der deutschen Geschichte“.
Bei so viel Ehrerbietung – zum Teil aus durchsichtigen Gründen – sollte man des Theologen und Widerstandskämpfers vielleicht besser gedenken, indem man das Augenmerk auf das richtet, womit Bonhoeffer uns bis heute unbequem ist und uns herausfordert. Dazu gehören ohne Zweifel seine Überlegungen zu einem „religionslosen Christentum“ in den Briefen aus dem Militärgefängnis von Berlin-Tegel, die der Adressat, sein Freund Eberhard Bethge, veröffentlicht hat.
Abschied von der individualistischen Seelenheilreligion
Regelmäßig wurden diese Reflexionen für überholt erklärt, weil Religion inzwischen wieder höher im Kurs stehe, oder sie wurden als „ins Unreine geschriebene Gedanken“ 1 abgetan, wie es der evangelikale Bonhoeffer-Biograf Eric Metaxas tut. Aber Bonhoeffer ist kein Buffet, an dem man sich nach Belieben bedienen könnte; es lässt sich durchaus ein roter Faden in den verschiedenen Phasen seines theologischen Denkens ausmachen, der von seiner Begegnung mit dem Social Gospel in den USA 1930/31 mit großer innerer Konsequenz bis zu den Gedanken der Gefängnisbriefe führt: Immer geht es um den Anspruch Christi auf unser ganzes Leben, auf unsere Welt insgesamt, nicht nur auf unsere Frömmigkeit, sondern auch auf unser gesellschaftliches und politisches Handeln, unsere Solidarität und Mitmenschlichkeit. Nach seinem Abschied von der individualistischen Seelenheilreligion des bürgerlichen deutschen Protestantismus wird Bonhoeffer über die Jahre gerade in dieser Frage immer klarer und radikaler. Aus dem Gefängnis schreibt er an Bethge:
„Was mich unablässig bewegt, ist die Frage, was das Christentum oder auch wer Christus heute für uns eigentlich ist. Die Zeit, in der man das den Menschen durch Worte – seien es theologische oder fromme Worte – sagen könnte, ist vorüber; ebenso die Zeit der Innerlichkeit und des Gewissens, und d. h. eben die Zeit der Religion überhaupt. Wir gehen einer völlig religionslosen Zeit entgegen; die Menschen können einfach, so wie sie nun einmal sind, nicht mehr religiös sein.“ (30. April 1944)2
Um zu verstehen, worum es Bonhoeffer hier geht, hilft es, sich klar zu machen, was er mit Religion überhaupt meint. Sein Begriff von Religion ist anders als der der Religionssoziologie. Und er hat mit seinen Überlegungen nicht etwa bloß eine abgeflaute „Konjunktur“ des Religiösen im Auge, sondern das definitive Ende einer bestimmten Epoche des Christentums.
In der Bibel ist von Religion keine Rede.
Erst mit der Aufklärung wurde „Religion“ zum gängigen Oberbegriff für alle Ausdrucksformen von Gläubigkeit – in der Bibel ist von Religion keine Rede. Nachdem Gott als Lückenbüßer für naturwissenschaftlich bislang Unerklärliches nicht mehr akzeptabel war, wurde Religion als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ (Schleiermacher) im 19. Jahrhundert zum Gegenkonzept alles starr Dogmatischen im Christentum. Gefühl, Selbsterfahrung, Einswerden mit dem Unendlichen schien vielen das, was ihrem Leben Sinn verlieh und sie eines letzten Aufgehobenseins im Universum versicherte.
Für Bonhoeffer war dieses Verständnis von Religion allzu selbstbezogen. Christen und Christinnen sollte es um das Gerechte gehen, das zu tun ist, nicht um das eigene Heil. Durch die Erfahrungen des Widerstands und des Gefängnisses war Bonhoeffer selbst die Frage nach dem persönlichen Seelenheil „fast völlig entschwunden“. Vor allem schien sie ihm nicht mehr mit dem biblischen Glaubensverständnis vereinbar:
„Gibt es im A. T. die Frage nach dem Seelenheil überhaupt? Ist nicht die Gerechtigkeit und das Reich Gottes auf Erden der Mittelpunkt von allem? und ist nicht auch Römer 3,24 ff. das Ziel des Gedankens, daß Gott allein gerecht sei, und nicht eine individualistische Heilslehre?“ (5.5.1944)
Dasein für andere
Durch die metaphysische und individualistische Interpretation des christlichen Glaubens traten Selbstbespiegelung, die Vergewisserung eines Lebens nach dem Tod, die Vorstellung einer in Gott verbürgten Unverletzbarkeit an die Stelle eines „Daseins für andere“. Religion wurde auf diese Weise, so erläutert Eberhard Bethge Bonhoeffers Kritik, „zum verfeinertsten aller Mittel des Menschen, seine Selbstbehauptung mit Frömmigkeit und allen möglichen Göttern zu sichern“3
Diese Art der Religion war mit ihrem Agieren im Abseits aller sozialen und politischen Konflikte, mit ihrer unterentwickelten Fähigkeit zur Solidarität mit den Verfolgten dann nicht nur ins Leere gelaufen, sondern hatte sich in Bonhoeffers Augen in der Nazizeit schließlich auch moralisch kompromittiert. Schon im Sommer 1942 hatte er an Bethge geschrieben:
„Aber ich spüre, wie in mir der Widerstand gegen alles ‚Religiöse‘ wächst. Oft zu einem instinktiven Abscheu – was sicher auch nicht gut ist. Ich bin keine religiöse Natur. Aber an Gott, an Christus muß ich immerfort denken, an Echtheit, an Leben, an Freiheit und Barmherzigkeit liegt mir sehr viel. Nur sind mir die religiösen Einkleidungen so unbehaglich.“4
Mit Christus in Gethsemane
Bonhoeffer empfindet lebhaft, dass eine nur am eigenen Heil interessierte Religiosität, die sich aus der Welt heraushält und sich selbst genießt, die alles Handeln und alle Verantwortung Gott überlässt und sich aufs Jenseits ausrichtet, den wahren Intentionen des Christentums entgegensteht. Das heißt für ihn keineswegs, dass man auf Liturgie, Gebet und „Glaubensleben“ verzichten solle, aber doch, dass all dies niemals das Dasein für andere, das Mitleben und Mitleiden mit den Menschen ersetzen dürfe. In Tegel gelingen ihm dazu zuletzt äußerst berührende Formulierungen:
„Ich habe in den letzten Jahren mehr und mehr die tiefe Diesseitigkeit des Christentums kennen und verstehen gelernt; nicht ein homo religiosus, sondern ein Mensch schlechthin ist der Christ […] Ich erfahre es bis zur Stunde, daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt […], nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, – dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern die Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, […] und so wird man ein Mensch, ein Christ.“ (21.7.1944)
Standhalten in der Welt
Mit Jesus wachen in Gethsemane, mitten in der Nacht dieser Welt, nicht fliehen, nicht schlafen – das allein ist für Bonhoeffer Glaube. In diesem Sinne ist auch sein Gedicht „Von guten Mächten“ zu verstehen: Darin geht es ja nicht um ein kindliches Bewahrtsein vor der Welt, sondern um die Erfahrung der Geborgenheit in Gott beim erwachsenen Standhalten in der Welt, mit allen tödlichen Konsequenzen. Auch das Gedicht meditiert ja die Situation von Gethsemane, in der Jesus betet „Nimm diesen Kelch von mir!“ (Markus 14,36 parr). Bonhoeffer antwortet darauf mit der Einwilligung, im „Beten und Tun des Gerechten“ inmitten dieser Welt standhaft zu bleiben, notfalls bis in den Tod hinein:
„Und reichst Du uns den schweren Kelch, den bittern
des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand,
so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern
aus deiner guten und geliebten Hand.“
Solche Entschiedenheit wäre den Kirchen der Gegenwart sehr zu wünschen. Sie scheinen heute kaum zu wissen, ob sie Sinnanbieter auf dem Religionsmarkt, Dienstleister in der Kontingenzbewältigung oder Anwälte der bedrohten Menschen sein sollen. Bonhoeffers Unterscheidung zwischen Religion und Glaube, die immer noch nicht selbstverständlich ist, könnte ein bedeutender Beitrag zu mehr Klarheit sein.
Norbert Reck, Dr. theol., ist katholischer Theologe, Publizist und Übersetzer. Zuletzt erschien von ihm das Buch Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums. Zum Riss zwischen Dogma und Bibel, Ostfildern 2019. Sein Radiofeature „Wem gehört Dietrich Bonhoeffer?“ ist online zu hören.
Bildquelle: Pixabay
- Eric Metaxas, Bonhoeffer. Eine Biografie in Bildern, Holzgerlingen 2013, S. 277. ↩
- Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Eberhard Bethge, Neuausgabe München 1985. Weitere Zitate aus diesem Band werden mit dem Datum der Briefe zitiert. ↩
- Eberhard Bethge, Christlicher Glaube ohne Religion? Hat sich Dietrich Bonhoeffer geirrt?, in: ders., Am gegebenen Ort. Aufsätze und Reden 1970–1979, S. 32–38, hier S. 32. ↩
- Brief vom 25. 6. 1942, in: Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse. Eine Biographie, Gütersloh 2001, S. 810 f. ↩