Rund um Ostern hat die Inszenierung „Die Passion“ auf RTL in den Feuilletons und sozialen Medien für heftige, hochemotionale Diskussionen gesorgt. Mirella Klomp hat „The Passion“ in den Niederlanden in den letzten Jahren empirisch erforscht. Mit etwas Abstand zu den Debatten spricht sie über die Präsenz von Religion in einer säkularen Gesellschaft und Gottes Spiel mit den Menschen.
In Deutschland war „Die Passion“ schon für 2020 geplant, die Videoaufzeichnungen waren schon gemacht, die Aufführung wurde dann wegen Corona zweimal verschoben. Der Regisseur und Produzent Jacco Doornbos ist ein Niederländer – dort hat die „The Passion“ schon Tradition. Wie haben sich bei euch Aufführung und Resonanz über die Jahre dort entwickelt?
2011 ist The Passion auf dem Marktplatz in der Stadt Gouda zum ersten Mal aufgeführt worden und wurde gleichzeitig live im TV übertragen. Eine christliche Erzählung in eine sogenannte säkulare oder sich säkularisierende Gesellschaft zu senden, war damals ein sehr spannendes Vorhaben für den Produzenten Doornbos und für die beiden öffentlich-rechtlichen Sender. Obwohl es von Anfang an immer auch Kritik gab, war die öffentliche Meinung überwiegend positiv. Deswegen war es möglich, dass The Passion jährlich wiederholt wurde und sich im Laufe der Jahre zu einem ‚etablierten‘ neuen Ritual entwickelt hat. Dabei ist die Aufführung länger, größer und teurer geworden und die Veranstalter haben mehr inhaltliche und künstlerische Freiheit gewonnen.
ein etabliertes neues Ritual
Du kennst die Statistiken, hast mit Menschen aus dem Publikum gesprochen und social media Beiträge ausgewertet. Wer schaut die Passion in den Niederlanden und was denken die Leute darüber?
The Passion erreichte mehr als einmal eine Einschaltquote von etwa 45%, das heißt dass fast jede:r zweite Fernsehschauer:in in den Niederlanden zu dieser Zeit die Passion gewählt hat! Die Leute, die in den Niederlanden die Passion schauen, sind vor allem ältere Menschen, die im Allgemeinen mehr fernsehen als andere Gruppen, sowie Jüngere, die überdurchschnittlich an religiösen Themen interessiert sind (das heißt: die christliche Jungend). Die etwa 20.000 Leute, die in die Stadt und auf den Platz kommen, wo die Passion aufgeführt wird, sind unterschiedlich: von Eltern mit Kindern und Großeltern mit Enkelkindern über enge Freund:innen, die einen Tagesausflug mit The Passion abschließen, oder Katechesegruppen von weit her, bis zu neugierigen Stadtbewohner:innen. Was die Leute über die Passion denken, ist sehr verschieden. Es gibt keine eindeutige Meinung oder Erfahrung: manche erleben die Gemeinschaft eines großen Events oder werden durch die neuen Bedeutungen, die die Songs im Rahmen dieser Passionsgeschichte bekommen, inspiriert, andere erachten es als Unterhaltung oder verstehen die rituelle Veranstaltung als Sakrileg. Dass die Passion nicht eindeutig verkündet, sondern die Bedeutung dieser Geschichte offenlässt, ist meiner Meinung nach der Grund für diese unterschiedliche Rezeption.
unterschiedliche Rezeption: Event, Inspiration, Unterhaltung oder Sakrileg
Etliche Szenen der Passion wurden an verschiedenen bekannten Orten in Essen inszeniert. Welche Rolle spielt die Verortung der Passion in einer konkreten Stadt?
Auch hier ist die Antwort davon abhängig, wen man fragt. Die Bilder im Fernsehen sind für Städte „wie ein Hochglanzmagazin deiner Stadt“, wie die Beigeordnete für Stadtmarketing, Erholung, Tourismus und Kultur von Gouda einmal gesagt hat. Also, es hat sicherlich Aspekte von Citymarketing. Fragt man mich als Theologin, dann sage ich: die Passionsgeschichte in den Kontext einer Stadt oder Region zu verweben, ist ein hermeneutischer Akt, der die Erzählung aktualisiert und nach der Bedeutung dieser Geschichte für uns fragt. In Enschede, im Osten des Landes, wo es viel landwirtschaftliches Gebiet gibt, ritt Jesus 2015 nicht auf einem Esel in die Stadt hinein, sondern fuhr auf einem blauen Traktor ein. Das kann unterstreichen, dass Christus auch heute in unser Leben hineinkommt oder die Frage aufwerfen, wie und wo wir Christus erkennen können.
hermeneutischer Akt, die Erzählung zu aktualisieren
Viele der Kommentatoren der „Passion“ in Essen hatten Schwierigkeiten mit der Musik. So hieß es in der ZEIT: „Die Songs passen laut Gottschalk oft erstaunlich gut zur biblischen Geschichte und sind in Wahrheit einfach nur so belanglos, dass sie zu allem passen, was von Zwischenmenschlichem handelt.“ Ist an dieser Kritik etwas Wahres oder zeigt sich darin eigentlich nur die Ekelschranke zwischen verschiedenen Milieus, wie Bourdieu sie beschreibt?
Wem gehört diese Geschichte?
Diese Kritik nimmt offensichtlich einen normativen Standpunkt ein und zwar im Blick auf die Ästhetik. Normative Standpunkte gibt es viele und verschiedene. Ich denke, die wichtigste und für mich auch die interessanteste Frage ist hier eigentlich die grundlegende Frage: „Wem gehört die Passionsgeschichte?“ Können wir – ob wir Christ:innen sind oder nicht – ertragen, dass andere Leute mit dem christlichen Erbe umgehen in einer Art und Weise, die uns nicht gefällt, oder dem andere Bedeutungen beimessen als wir? Ich bin der Meinung, theologisch gesagt, dass die Geschichte letztlich Gott gehört. Dessen bin ich mir bewusst und das macht mich ein bisschen vorsichtig mit normativen Äußerungen.
Umso mehr, als ich in meiner Forschung darauf gestoßen bin, dass für viele Menschen die Wahrheit, die sie in The Passion entdecken, gar nicht so belanglos ist! Im Gegenteil: die Passionsgeschichte und die Songs, denen The Passion sich bedient, helfen manchen Menschen, die Wahrheit in ihrem eigenen Leben zu entdecken oder Ereignisse in ihrem Leben in einem neuen Licht zu sehen. Ich würde das ‚Evangelium‘ nennen!
was Menschen in der Passion entdecken, oft nicht belanglos
„Zusammenhalt, Frieden und Nächstenliebe – gerade in schwierigen Zeiten.“ So wird „Die Passion“ angekündigt. In den Zwischenmoderationen wird dann immer wieder auch von Freundschaft und Liebe gesprochen. Wird die große Geschichte von Gott und Mensch im Leiden Jesu damit zu einem zwischenmenschlichen Drama reduziert?
Gute Frage! Einerseits ist in The Passion das Leiden Jesu nicht so stark als Teil von Gottes Heilsplan dargestellt, was mit dem (auch im Blick auf die Deutung) offenen und zugänglichen Charakter dieser Veranstaltung zu tun hat. Die göttliche Natur Jesu bleibt deshalb ein bisschen blass. Andererseits würde ich sagen, auch zu deiner vorigen Frage, dass viele biblische Geschichten in der Tat von Zwischenmenschlichem reden, und dass genau die Beziehungen zwischen Menschen Gott wichtig sind, weil Gott darin immer selbst einbezogen ist.
Teil der Inszenierung war auch die Prozession eines Lichtkreuzes durch die Stadt Essen, deren Träger:innen oft sehr enthusiastische Zeugnisse ihres Glaubens ablegten – für mich im säkularen TV durchaus überraschend. Was hast du herausgefunden: Warum tragen Menschen das Kreuz? Aus welchen religiösen und gemeindlichen Hintergründen kommen sie?
Kreuzträger:innen: Feier des christlichen Glaubens in einer säkularen Gesellschaft und Zeugnis persönlichen Glaubens
Wiederum sehr unterschiedlich! Ich habe Menschen gesprochen, die das Kreuz tragen wollten, um Kraft zu gewinnen für ihren Lebensweg, oder um ins Reine zu kommen mit schwierigen Ereignissen ihres Lebens, z.B. Krankheit oder das Sterben eines geliebten Menschen. Aber auch als eine Art Feier des christlichen Glaubens in einer säkularen Gesellschaft und Zeugnis persönlichen Glaubens. Weil das Kreuztragen eine größere Aktion ist, gibt es oft auch Leute, die mit ihren Freund:innen mitlaufen. So gab es einmal zwei Jugendliche mit verschiedenen religiösen Hintergründen, von denen einer sagte: „Im Ramadan versuchte mein Freund mit mir zu fasten, jetzt laufe ich mit ihm hinter dem Kreuz.“
Du schreibst, dass die „Passion“ ein Beispiel für die Neuerfindung von Religion im öffentlichen Raum ist bzw. ein öffentliches Ritual mit einer eigenen theologischen Qualität. Was bedeutet das für dich?
Ich halte The Passion für ein Spiel. Das heißt, dass Menschen im Ritual zwei Wirklichkeiten miteinander verbinden. In The Passion sind das die Wirklichkeit des Hier und Heute und die Wirklichkeit der Passionsgeschichte. Für Menschen, die mit dem Evangelium nicht vertraut sind, gibt es die Möglichkeit sich ‚gefahrlos‘ zu dieser Geschichte zu verhalten: es steht für sie nicht so viel auf dem Spiel. Wenn es etwas bringt, etwa neue Bedeutungen, dann ist das schön. Bringt es nichts, dann hat es sie schlimmstenfalls Zeit gekostet. Wichtig ist, dass es immer die Möglichkeit von Neuerfindung gibt, aber auch die Möglichkeit, dass das nicht passiert.
Es ist Gottes Spiel.
Wie schon gesagt, ich denke, dass die Passionsgeschichte Gott gehört und damit ist es auch Gottes Spiel. Dass öffnet möglicherweise eine neue Perspektive auf Gottes Beziehung zum Menschen: ein spielerischer Umgang, eigentlich wie Gott am Anfang der Schöpfung mit den Menschen gespielt hat. Es ist losgegangen, als Gott dem Menschen Adam neckisch in seine Nase geblasen hat. So, glaube ich, geht es mit Gott und Menschen noch immer weiter.
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Dr. habil. Mirella Klomp ist Associate Professor of Practical Theology an der Protestantse Theologische Universiteit in Amsterdam/Groningen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen u.a. im Bereich der Liturgiewissenschaft und Ritualtheorie.
Interview: Dr. Kerstin Menzel, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Praktische Theologie der Universität Leipzig.
Klomp, M. Playing On: Re-staging the Passion after the Death of God. Theology in Practice 10. Leiden, The Netherlands: Brill 2021 https://doi.org/10.1163/9789004442948 (Open Access)