Johann Baptist Metz feiert am kommenden Sonntag seinen 90. Geburtstag. René Buchholz erinnert an die bleibende Aufgabe einer politischen Theologie.
Wie wird Theologie politisch? Gar nicht, denn sie ist es immer schon, gleichgültig ob sie davon weiß oder nicht, ob sie es will oder nicht. Der Versuch, gegenüber allem Politischen eine Sphäre des reinen Glaubens aufzuweisen, gründet bestenfalls in einer Illusion. Nicht alles ist Politik, aber nichts ist schlechthin ohne sie. Die politischen, gesellschaftlichen und historischen Vermittlungen von Religion und Theologie ins Bewusstsein zu heben und zugleich aus kritischer Distanz zu analysieren, gehört zum Programm der politischen Theologie und nicht zuletzt dies unterscheidet sie von der traditionellen. Es handelt sich also nicht, wie mit Recht Johann Baptist Metz betonte, um eine weitere Disziplin, sondern um ein Korrektiv, genauer, um eine veränderte Stellung zu Formen und Themen der Theologie (vgl. Metz 1997: 15, 27).
Dazu gehört auch die Kritik einer Privatisierung der christlichen Botschaft, wie sie etwa in der existentialen Interpretation des Neuen Testaments ebenso wie aktuell in vielen Formen der Esoterik zu finden ist. Was scheinbar ganz dem Einzelnen sich zuwendet, von Gesellschaft abstrahiert, ist selbst bereits politisch. Inspiriert wurde die politische Theologie methodisch wie inhaltlich von Autoren wie Walter Benjamin, Ernst Bloch, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Max Horkheimer. Vielleicht kann man sagen, dass hier mit der üblichen katholischen Verspätung exilierte (meist jüdische) Autoren von der Theologie rezipiert wurden. Zugleich nimmt sie die Wiederentdeckung der Eschatologie und Apokalyptik seit Beginn des 20. Jahrhunderts auch in die Denkbewegung der systematischen Theologie auf, und zwar, wie Metz schreibt, „auf dem Wege über die neue Ausgangssituation kritischer Vernunft“ (ebd., 28).
Die Geschichte als Schicksalsthema.
Damit verbindet sich ein anderer Blick auf den ‚Hörer des Wortes‘: aus ‚dem‘ Menschen werden die vergesellschafteten Menschen, und zwar als sinnliche, bedürftige, leidende und darum, wie es beim frühen Marx heißt, auch leidenschaftliche Wesen; ‚Geschichtlichkeit‘ wird wieder zur Geschichte mit ihren Antagonismen und Katastrophen, ihren vitalen Interessen und enttäuschten Hoffnungen, ist doch, wie Metz schreibt, „das ‚spezifische‘ Thema, geradezu das Schicksalsthema der jüdisch-christlichen Religion … die Geschichte“ (Metz 1997: 109); ‚das Wort‘ schließlich ist nicht primär die existentiell ‚mich betreffende‘ Anrede; die biblischen Traditionen attestieren ihm vielmehr eine geradezu performative Kraft innerhalb der Geschichte und der sozialen Wirklichkeit, worin primär es sich verifizieren muss.
Geschichte ist nicht das längst Vergangene, das nur noch von Fachleuten aufgearbeitet und später für die niederschwellige Präsentation in Museen präpariert wird, sondern sie rückt uns geradezu ‚auf die Pelle’ und geht oft auch unter die Haut. Die Erinnerung an die Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht dem routinierten Betrieb zu überlassen, bildet ein zentrales Motiv der politischen Theologie: dass, wie Adorno es formulierte, „Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts ähnliches geschehe“. Erinnerung ist das Organon einer Vernunft, die nicht ihren Ursprung allein in ‚Athen‘ hat, sondern auch in ‚Jerusalem‘ (vgl. Metz 2006: 236-244). Was Metz ‚anamnetische Vernunft‘ nennt, ist nicht nur die transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis als Synthesis in der Zeit, sondern besitzt nach ihrer materialen Seite hin eine subversive Kraft als Irritation fixer Identitäten und falscher Gewissheiten.
Sinn in der bestimmten Negation des Sinnlosen.
Soweit das religiöse Bewusstsein sich dem (wieder) öffnet, erkennt es sich als vulnerabel: die Erfahrung des abwesenden Gottes angesichts einer katastrophengesättigten Geschichte stellt eine tiefere Infragestellung der ganzen biblischen und nachbiblischen Tradition dar als die gesamte Religionskritik seit den Anfängen der Aufklärung. Von der politischen Theologie ist darum ein negatives, kritisches, ja agnostisches Moment nicht schlechthin fortzudenken, und zwar nicht, um die Vernunft zu denunzieren zugunsten eines geistfeindlichen Fideismus, der die aufgegebenen Stellungen der Vernunft okkupiert. Wohl aber als Stachel einer vollmundigen Sinnstiftung, die entweder Religion kulturindustriell aufbereitet oder eine Christus-Imago als gesichertes Heilsressort und Substitut des ausstehenden Gottesreiches darbietet.
Metz erinnert hier abermals an die apokalyptische Tradition, damit die Christologie nicht „zur Siegerideologie“ wird (Metz 1992: 171; 2006: 59f, 147). Ohne dieses negative Moment bleibt alle Theologie fromme Vertröstung in gelehrter Sprache. So wird nicht selten der garstige breite Graben zwischen den großen Verheißungen und der ernüchternden Empirie nicht etwa ungeschmälert ins Bewusstsein gehoben, sondern mit konkretistischem und pseudopsychologischem Vokabular gefüllt. Ist es Zufall, dass der ‚Jargon der Eigentlichkeit‘ so tief in die Sprache von Theologie und Verkündigung eingedrungen ist? ‚Sinn‘ erschließt sich nicht in der Versicherung, er sei hier und jetzt positiv vorhanden – als Aushalteparole und Resilienzressource inmitten des spätkapitalistischen bellum omnium contra omnes –, sondern in der bestimmten Negation des Sinnlosen.
Die Leidempfindlichkeit des biblischen Monotheismus.
Zur politischen Theologie gehört zentral auch die Erinnerung an politische und kritische Implikationen der eigenen Tradition, die, wie Walter Benjamin schrieb, in jeder Epoche von neuem dem Konformismus abgewonnen werden muss. Hier ist auf den Monotheismus zurückzukommen, der in Israel erst spät Gestalt gewann und sich gegen Widerstände durchzusetzen hatte. Zugespitzt formuliert sind theologische Diskurse – biblische wie nachbiblische – Kommentare zum ersten (jüdisch: dem zweiten) Gebot, durch welche es erst Konkretion gewinnt. Es bildet das Zentrum politischer Theologie, und nicht zufällig beteiligt sie sich an den Monotheismus-Debatten seit den 90er Jahren. Mit dem biblischen Monotheismus steht nämlich die Entfatalisierung der Geschichte auf dem Spiel, die sich im Kontext biblischer Narrative so erst als Raum menschlicher Handlung öffnet; „Gott“ konstatierte Hermann Cohen knapp, „ist kein Schicksalsbegriff“. Insofern lässt sich durchaus von einer monotheistischen Aufklärung sprechen (Metz 1997: 185).
Und seine Polemik.
Der biblische Monotheismus steht nicht nur für Universalismus, sondern auch für Leidempfindlichkeit, Metz spricht hier von einem pathischen Monotheismus (Metz 1997: 185; 2006: 160-163). Letzteres ist bedeutsam angesichts der oft pauschal unterstellten Affinität des Monotheismus zu Gewalt und Intoleranz; ersteres ist nicht die totalitäre Subsumtion der Vielfalt unter das Eine, sondern in der Gestalt der Gerechtigkeit die Möglichkeitsbedingung für die Entfaltung von Differenz. Es ist gerade die Erfahrung von Leid und Unrecht, die am biblischen Monotheismus eine von Metz wohl zu wenig beachtete Seite hervortreibt: die Polemik. Spielen wir sie nicht herunter! Sie stellt keineswegs eine zu vernachlässigende kulturell bedingte orientalische Übertreibung dar, sondern, unter bestimmten sozialen und historischen Umständen, eine Stellung des Gedankens zur Objektivität.
Die imperiale Politik der polytheistischen altorientalischen Supermächte, Assyrien/Babylon und Ägypten, lässt wenig von Friedfertigkeit und Toleranz erkennen. Der Aufstieg JHWHs zum universalen Gott verbindet sich mit der Kritik vergotteter Herrscher, die dem Verdauungssystem ihres Imperiums immer neue Völker und Gottheiten zuführten. Israel und sein Gott erweisen sich als unverdaulich (das zieht bis heute den Hass der Konformisten auf sich). Das Pathische schlug um ins Polemische, und es ist Aufgabe einer Rélecture biblischer Texte, unter Rekurs auf die historischen Bedingungen das kritische Potential nicht nur der ‚Leidempfindlichkeit‘, sondern auch der Polemik herauszuarbeiten. Der biblische Monotheismus ist Aufstand gegen die Herrenmoral, aber nicht im Interesse der Sklavenmoral, wie Nietzsche argwöhnte, sondern er zielt auf den Adel von Geburt für alle.
Die Unterbrechung der ‚Alternativlosigkeit‘
In einem geschichtlichen Augenblick, da die Rede vom Ende der Geschichte durch deren Fortgang widerlegt ist, die Menschen sich aber als bloße Objekte des gesellschaftlichen Prozesses sehen, ihre eigenen Hervorbringungen ihnen fremd und bedrohlich gegenüberstehen, gewinnt der antifatalistisch pointierte Monotheismus Aktualität trotz seiner Verächter. Er konkretisiert sich als Unterbrechung (vgl. Metz 1992: 166) dessen, was scheinbar immer schon war, das nicht weiter hinterfragt wird und das Leben der Menschen bestimmt wie das mythische Schicksal, dessen moderne Variante ‚Alternativlosigkeit‘ heißt. Theologie verfehlt ihren Kairos, wenn sie einfach zur Tagesordnung übergeht und sich im ewigen Kreislauf ihrer Traktate bewegt.
Ohne den political turn vermag sie Geschichte nicht zu erhellen, versiegt das deutende und performative Potential des Gedankens. Autistisch spräche sie nur noch mit sich selbst; da hat man ja stets jemanden, der zuhört und nicht widerspricht. Niemand würde sie vermissen und die theologischen Fakultäten blieben erhalten allein deshalb, weil man sie vergessen hat.
Zitierte Werke von Metz:
Johann Baptist Metz: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 51992.
– Zum Begriff der neuen politischen Theologie 1967-1997, Mainz 1997.
– Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg-Basel-Wien 2006.
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René Buchholz ist Mitarbeiter in der kirchlichen Erwachsenenbildung der Erzdiözese Köln und Apl. Professor für Fundamentaltheologie an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn.
Von ihm unter anderem auf feinschwarz erschienen:
Von der Aktualität eines Totgesagten. Karl Marx zum 200. Geburtstag
Politik für die Infantilgesellschaft. Zur neopaganen Faszination des Autoritären
Bild: Buchcover Herder-Verlag