Überall sind jetzt Sommerferien. Die Urlaubszeit macht deutlich, dass Religion und Tourismus zahlreiche Schnittstellen haben. Christian Cebulj gibt Einblick in das Forschungsprojekt „Religion – Kultur – Tourismus“.
Das Pilgern boomt, Citykirchen und Bergkapellen laden zum Verweilen ein, Kathedralen und Klöster gehören zu den Hauptattraktionen des Kulturtourismus. In Urlaub und Freizeit nehmen sich viele Menschen aber nicht nur Zeit für Bildung, sondern auch für Sinnfragen und Spiritualität. Offenbar sind das Bereiche, in denen sie den Kirchen nach wie vor eine hohe Kompetenz zuschreiben.
Zwischen Megatrend und Musealisierung
Wie schon früher steht auch in den aktuellen Jahresberichten der Europäischen Tourismusverbände der Besuch von kulturellen Sehenswürdigkeiten auf Platz 1 der Reiseaktivitäten. [1] Dabei fällt auf, dass unter den zehn beliebtesten Sehenswürdigkeiten Europas fünf Kathedralen bzw. Kirchen vertreten sind:
1. Sagrada Familia Barcelona
2. Petersdom Rom
3. Dom zu Mailand
4. Eiffelturm Paris
5. Notre Dame Paris
6. Kölner Dom Deutschland
7. Alhambra Granada
8. Hagia Sophia Istanbul
9. Karlsbrücke Prag
10. Tower of London.
In der Schweiz besuchten im vergangenen Jahr ca. 140.000 Gäste den St. Galler Stiftsbezirk mit Kathedrale und Stiftsbibliothek, der zu den Schweizer UNESCO-Welterbestätten zählt. In dieser Zahl sind allerdings nur die digital erfassten Museumseintritte berechnet, die effektive Besucherzahl der Kathedrale St. Gallen dürfte bei 200.000 liegen. Auch das Kloster Einsiedeln zählt pro Jahr etwa 200.000 Besucherinnen und Besucher. In Österreich verzeichnete das Benediktiner-Stift Melk im Jahr 2023 die stolze Zahl von 440.000 Besuchern und wurde nur überholt von der Basilika in Mariazell mit über 700.000 Besuchern.
Wichtig: soziologische Trends und Megatrends
In der Tourismusforschung spielen soziologische Trends und Megatrends eine wesentliche Rolle bei der Bewertung aktueller Entwicklungen. Wer in der jährlich neu erscheinenden Megatrend-Map des Wiener Zukunftstinstituts recherchiert und nach der Motivation von Menschen fragt, die Kirchen und Klöster besuchen, stößt zuerst auf den Megatrend Wissenskultur. [2] Befördert durch die Digitalisierung hat Wissen im 21. Jh. seinen elitären Charakter verloren und ist zum allgemein zugänglichen Gut geworden. Bildung zählt zu den zentralen Ressourcen von Persönlichkeitsentwicklung und beruflicher Karriere, daher gehören Erholung und Bildung für viele Menschen auch in den Ferien zusammen. Umfragen zeigen, dass 77% der Europäerinnen und Europäer im Urlaub nicht nur gerne am Strand liegen, sondern auch kulturelle Sehenswürdigkeiten besuchen, um mehr über die Kultur, Geschichte und Politik des Gastlands zu erfahren. Der hohe Stellenwert, den der Megatrend Wissenskultur in unserer Gesellschaft einnimmt, hat erhebliche Auswirkungen auf den Kulturtourismus.
Trend zur Musealisierung der Religion
Wer Kirchen und Klöster als Objekte des Kulturtourismus in den Blick nimmt, muss sich neben dem Megatrend Wissenskultur aber auch mit dem unübersehbaren Trend zur Musealisierung der Religion auseinandersetzen. Schon vor Jahren haben die Tourismusforscher Wolfgang Isenberg und Albrecht Steinecke darauf hingewiesen, dass es sich bei Kirchenräumen, die von Touristinnen und Touristen besucht werden, zwar um religiöse Stätten handelt, dass Kirchen aber vor allem in ihrer historischen und kulturellen Dimension wahrgenommen werden. [3] Touristische Besucherströme konzentrieren sich besonders auf Orte, die bestimmte Alleinstellungsmerkmale aufweisen: Entweder imponiert ihre eindrucksvolle Größe, wie etwa beim Dom zu Speyer, der größten erhaltenen romanischen Kirche Europas. Oder es beeindruckt die imposante Lage wie beim Mont St. Michel hoch über der Küste der Normandie oder der Kathedrale Notre-Dame im Herzen von Paris (die Karten für die Wiedereinweihung am 08.12.2024 sind übrigens bereits vergriffen). Oft sind Kirchen Touristenmagneten, weil sie in der Mitte der Städte liegen oder einen wertvollen Kunstschatz zu bieten haben, wie das ehemalige Antoniterkloster in Colmar mit dem berühmten Isenheimer Altar von Matthias Grünewald. [4]
Chancen und Grenzen kirchlicher Präsenz im Tourismus
Wie reagieren Theologie und Kirchen auf die Herausforderungen des Kulturtourismus? An vielen Urlaubsorten gibt es Initiativen wie die Aktion „Verlässlich geöffnete Türen“. Im deutschsprachigen Raum erfreuen sich dabei die Radwegekirchen besonderer Beliebtheit. [5] Sie bieten die Chance, Menschen durch geöffnete Kirchenräume mit Fragen der Religion und des Glaubens in Berührung zu bringen. Andererseits zeigt sich bei Kirchenbegehungen mit Touristinnen und Touristen häufig, dass pastorale Aktivitäten schnell ihre Grenzen haben.
Für ihre persönliche Sinnsuche erwarten sie von den Kirchen allerdings keine Orientierung.
Oft wollen Gäste die Kirchen zwar als Sehenswürdigkeiten kennenlernen und sich bilden. Für ihre persönliche Sinnsuche erwarten sie von den Kirchen allerdings keine Orientierung. Es ist bezeichnend, dass die religionspädagogischen Methoden im Rahmen der seit vielen Jahren etablierten ‚Kirchenraumpädagogik‘ auf museumspädagogische Ansätze zurückgreifen. [6] In diesem Rahmen haben viele Ehrenamtliche aus Pfarreien und Kirchengemeinden eine Kirchenführer-Ausbildung absolviert, um den Gästen ihre Kirchenräume zeigen und erschließen zu können. Wenn diese nach dem Besuch einer Kathedrale, Basilika oder Klosterkirche dann nach ihren Erfahrungen befragt werden, vergleichen sie die Kirchenbesichtigung häufig mit einem Museumsbesuch. Religion und Glaube werden in diesem musealen Setting als Phänomene der Vergangenheit betrachtet. Damit steht zunächst ein historisierender und ästhetisierender Blick im Vordergrund, der das Religiöse in gewisser Weise auf Abstand bringt, obwohl die Kirchen als Anbieter im Feld des Tourismus genau das Gegenteil intendieren, nämlich Nähe zu Religion und Glaube statt Distanz.
Spiritualisierung des Tourismus und Touristifizierung der Religion
Die Soziologinnen Kornelia Sammet und Uta Karstein haben am Beispiel von Wanderwegen im Schwarzwald ein interessantes Phänomen beschrieben: Einerseits sei eine ‚Spiritualisierung des Tourismus‘ feststellbar, wenn Tourismus-Büros Wanderwege anbieten, die auf Religiöses in Form von Artefakten, Orten oder Erzählungen Bezug nehmen. Das ist etwa beim ‚Klosterpfad Bad Herrenalb – Frauenalb‘ oder beim ‚Kapellenwanderweg rund um den Feldberggipfel‘ der Fall. Letzterer wird explizit mit spirituellen Impulsen verknüpft, der auf den Gottesglauben der Schwarzwaldbauern in früheren Zeiten Bezug nimmt. Religion wird dabei sowohl als kulturelles Erbe beschrieben wie als verkaufsfördernde Kulisse genutzt. Umgekehrt ist so etwas wie eine ‚Touristifizierung der Religion‘ feststellbar, wenn eine berühmte Citykirche wie das Fraumünster in Zürich am Sonntag gerade einmal 50 Gottesdienstbesucher/innen zählt, während am Montagmorgen Hunderte von Touristinnen und Touristen in Reisegruppen das Gotteshaus mit den berühmten biblischen Glasfenstern von Marc Chagall besichtigen wollen. [7]
Interessante religionsbezogene Lernsituationen
Für die Erforschung religiöser Phänomene in der Gegenwart geschieht in Kirchenräumen an Tourismusdestinationen ein wichtiger hermeneutischer Perspektivenwechsel. Der Religionspädagoge Bernhard Dressler hat immer wieder auf den Wechsel zwischen der Thematisierung von Religion aus der Innenperspektive (religiöse Sprache, z.B. in Gottesdiensten) und aus der Außenperspektive (Sprache über Religion, z.B. in Kirchenführungen) hingewiesen. [8] Feriengäste lernen in einer Kathedrale Neues über Architektur, Baustil und historische Eckdaten. Wenn dann Religion als Bildungsgegenstand dazukommt, der im Zusammenspiel von sinnlichen, kognitiven, ästhetischen und soziokulturellen Aspekten in Erscheinung tritt, ergeben sich interessante religionsbezogene Lernsituationen. Die Deutung und Identifizierung von Objekten der materiellen Kultur von Bauwerken, die zum religiösen Kulturerbes Europas zählen, halten eine komplexe, aber höchst chancenreiche religionsbezogene Bildungsaufgabe bereit: [9] Durch die Beschäftigung mit Kunst und Architektur nehmen Menschen zunächst eine Außensicht auf Religion ein.
Chance zu einem Perspektivenwechsel
Wenn sie sich entscheiden, auch die Innensicht auf Religion kennenlernen zu wollen, ergibt sich die Chance zu einem Perspektivenwechsel, der mitten in den Sommerferien spannende religiöse Lernchancen bereithält. Wer etwa nach der Besichtigung der frühmittelalterlichen Fresken in der zum UNESCO-Welterbe zählenden Klosterkirche Müstair im Schweizer Engadin auch noch einen Zettel mit einem Wunsch, einer Bitte oder einem Gebet an die Pinwand in der Kapelle hängt, vollzieht diesen religiösen Perspektivenwechsel. Denn Reisen ist immer auch Reisen zu sich selbst.
[1] Vgl. dazu den Jahresbericht des Europäischen Netzwerks „Future for Religious Heritage“ (FRH): https://www.frh-europe.org/cms/wp-content/uploads/2024/04/FRH-Annual-Report-2023.pdf
[2] Vgl. Zukunftsinstitut (Hg.): Die Megatrend-Map, Frankfurt/Wien 2023.
[3] Vgl. Wolfgang Isenberg/Albrecht Steinecke: Kirchen und Klöster – touristische Dimensionen und Perspektiven. In: Zeitschrift für Tourismuswissenschaft, 5 (2013/2) 141-159, 145.
[4] Vgl. Christian Cebulj/Anna-Lena Jahn: Zwischen Kultur und Spiritualität. Chancen und Grenzen kirchlicher Präsenz im Tourismus, in: Anzeiger für die Seelsorge Nr. 7/8 (2024) 5-8, hier 7.
[5] Vgl. Kathrin Sauer, Unterwegs mit Gott. Radwegekirchen, Gottesdienste im Grünen und christliche Reisen als Gelegenheiten für „Gemeinde auf Zeit“, Stuttgart 2018.
[6] Vgl. Christian Cebulj: Kirchenpädagogik als touristische Chance, in: Ders./Thomas Schlag (Hg.): Zwischen Kreuzfahrt und Klosterküche. Formen kirchlicher Präsenz im Tourismus, Zürich 2021, 59-73.
[7] Kornelia Sammet/Uta Karstein, Touristifizierung von Religion und Spiritualisierung von Tourismus. Erkundungen am Beispiel von religiösen Wanderwegen im Schwarzwald, in: Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik, Bd. 5 (2021), 81–109.
[8]Vgl. Vgl. Bernhard Dressler: Religion verstehen. Beiträge zur Religionshermeneutik und zu religiöser Bildung, Stuttgart 2020.
[9] Vgl. Sonja Keller/Antje Roggenkamp: Die materielle Kultur der Religion. Interdisziplinäre Perspektiven auf Objekte religiöser Bildung und Praxis, Bielefeld 2023.
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Christian Cebulj ist Professor für Religionspädagogik und Katechetik an der Theologischen Hochschule Chur (Schweiz) und Leiter des Forschungsprojekts „Religion-Kultur-Tourismus“.
Beitragsbild: Christian Cebulj