Die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zum Verhältnis von Religionslehrer:innen zur katholischen Kirche präsentieren und diskutieren Lina Böhle und Judith Könemann.
„91 Prozent der Religionslehrer sehen bei sich Differenzen zum Lehramt, Umfrage zeigt wachsende Entfremdung und Unzufriedenheit“.[1] So titelte katholisch.de am 02.02.2022 über eine fragebogengestützte Untersuchung der katholischen Religionslehrer*innenverbände an Gymnasien (BKRG) und an berufsbildenden Schulen (VKR) zum Verhältnis von Religionslehrkräften zur Amtskirche. Erste Ergebnisse wurden im Februar 2022 auf katholisch.de veröffentlicht.
Die Studie mit dem Titel „Glaubhaft Zeugnis geben?! Wie Religionslehrkräfte ihren Dienst im Auftrag der Kirche erleben“ basiert auf einer Kooperation des Bundesverbandes Katholischer Religionslehrerinnen und -lehrer an Gymnasien e.V. (BKRG) mit dem Verband katholischer Religionslehrerinnen und Religionslehrer an berufsbildenden Schulen e.V. (VKR). Der Fragebogen wurde innerhalb der Verbände entwickelt und die Befragung im Januar/Februar 2022 durchgeführt. Die nicht repräsentative Untersuchung, bei der auch Freitextantworten möglich waren, verzeichnete einen Rücklauf von 2700 Antworten. 1018 Befragte, d.h. 37,7% aller Befragten äußerte sich zudem in den Freitextantworten.
Zunehmende Distanzierung von der Amtskirche
Ein wesentliches Ergebnis der Studie ist, dass der Religionsunterricht – wie bereits bekannt – nicht nur durch die Schüler*innen, sondern inzwischen auch durch eine zunehmende Distanzierung der Lehrkräfte von der Amtskirche unter Druck gerät.
80,2% der Lehrkräfte geben im quantitativen Teil der Umfrage an, dass ihre Identifikation mit der Kirche in den letzten Jahren deutlich abgenommen habe, nur bei 18.2% hat sie sich nicht verändert. Ferner überlegen 41,7% der Befragten ernsthaft oder gelegentlich aus der Kirche auszutreten. Fast 90% (89,8%) geben eine große Differenz zwischen ihren persönlichen Überzeugungen und den lehramtlichen Positionen der Kirche in Bezug auf Themen wie Sexualität, Vielfalt der Lebensformen, Gendergerechtigkeit, Amtsverständnis und Machtstrukturen an. Keine Differenz erleben 6,4% der Befragten, 3,7% erleben die Differenz zwischen ihren eigenen Meinungen und derjenigen der Amtskirche als existent aber unbedeutend.
Diese Themen werden in den Freitextantworten nochmals aufgegriffen. Fast die Hälfte (47,7%) der dort getätigten Äußerungen kreisen um diese Themen. Die Lehrer*innen schildern z.B., in einen Gewissenskonflikt zu geraten, da die eigenen christlichen Moralvorstellungen mit den Äußerungen und den Positionen der Amtskirche kollidierten: „Aber wie soll man ihnen erläutern, dass sich z.B. in der Frage der Ämter für Frauen nichts bewegt und dass Strukturen wichtiger zu sein scheinen als Menschen etc.? Das kann niemand mehr verstehen und ich kann die gesamtkirchliche Haltung hier auch nicht mehr vor meinem Gewissen vertreten und verteidigen. Und das, obwohl ich mein Leben lang in der Kirche beheimatet war“.
An Aussagen wie diesen wird zudem deutlich, dass sich die Lehrkräfte vielfach sehr in der Kirche beheimatet sehen, so äußern 21 Personen in den Freitextantworten explizit, dass sie gerne das Fach Religion unterrichten. Dennoch sehen sie sich angesichts der kirchenpolitischen Entwicklungen in einer Zangenlage zwischen den Einstellungen und Forderungen ihrer Schüler*innen, ihrem eigenen Gewissen und der Institution, die sie vertreten und als deren Vertreter*innen sie wahrgenommen werden.
Beheimatet – und doch fremd
Ein spezifischer Kritikpunkt ist die Aufarbeitung des Kindesmissbrauchs durch Priester, welche die Lehrkräfte im quantitativen Teil der Umfrage als unglaubwürdig und zu langsam voranschreitend bezeichnen. Für 67% erfolgt die Aufarbeitung des Missbrauchs deutlich zu schleppend, 63,3% der Befragten erwarten klarere und persönliche Schuldbekenntnisse, für 77,3% macht die Art und Weise der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals die Kirche unglaubwürdig. Dieser Schwerpunkt wird auch in den Freitextantworten aufgegriffen, indem der Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche mit insgesamt 90 Äußerungen explizit angesprochen und wie im Folgenden erörtert wird:
„Schüler*innen fordern gerade mit Blick auf die aktuellen Enthüllungen zu den Missbrauchsskandalen eine Positionierung als Religionslehrerin. Und die Antwort kann nur sein, dass es beschämend ist und man sich auch als Religionslehrerin fragt, wie man angesichts der Enthüllungen noch eine vertrauensvolle Kirchenbeziehung pflegen und gestalten kann. Soll man nicht Brücken bauen zwischen Kirche und Schuldienst? Es gab schon oft Themen, bei denen ich persönlich an Grenzen gekommen bin. Aber hier Brücken zu bauen ist unheimlich schwer.“
Ebenfalls haben immerhin 27,3% aller Befragten in den vergangenen beiden Jahren zumindest manchmal überlegt, die ihnen erteilte Lehrerlaubnis zurückzugeben, 14% haben öfter darüber nachgedacht, 58,6% haben jedoch auch noch nie darüber nachgedacht. Aus den eben genannten Gründen geben auch 47 Personen von denjenigen, die die Freitextantworten ausgefüllt haben, an, ihre Missio in naher Zukunft zurückzugeben oder sie zurückgeben zu wollen. Dafür geben sie unterschiedliche Gründe an, wie z.B. die zu großen Differenzen zu lehramtlichen Äußerungen der Amtskirche, dem Umgang mit dem sexuellen Missbrauch in der Kirche, Empörung über die Diskriminierung von LGBTQI+- Personen in der Kirche oder auch Trennung/Scheidung mit der Hoffnung auf Wiederverheiratung.
Nicht gesehen
Viele Lehrkräfte äußern zudem, dass sie von der Amtskirche in ihrer Arbeit und ihrem Engagement für die Kirche nicht gesehen, geschweige denn wertgeschätzt werden. Der Fokus der Amtskirche liege auf den Gemeinden, Priestern und Pastoralen Mitarbeiter*innen, nicht aber auf den Lehrer*innen für den Religionsunterricht. Diesen Aspekt greifen in den Freitextantworten insgesamt 35 Personen auf. Eine Lehrkraft schildert dazu beispielhaft: „Ich finde, dass die Amtskirche anerkennen müsste, das (sic) Religionslehrer an vielen Orten für Schüler/innen die einzige und ggf. auch letzte Kontaktperson zur Kirche sind und guter, motivierender RU eine Reihe von SchülerInnen näher an Glaubensfragen führt, manchmal auch zur Kirche.“
Unter Druck gerät der Religionsunterricht nicht nur von Seiten der Lehrkräfte, sondern vor allem auch durch die Schüler*innen, wie die Lehrkräfte in der Umfrage schildern. Die Lehrkräfte finden es zunehmend unmöglich, die Positionen der Amtskirche gegenüber den Schüler*innen zu vertreten:
Der quantitative Teil der Umfrage macht deutlich, dass die Schüler*innen den Positionen der Amtskirche distanziert-kritisch bis vollkommen gleichgültig gegenüberstehen. Gerade einmal 4,7% der Lehrkräfte geben in der Umfrage an, dass sie die Haltung ihrer Schüler*innen gegenüber den Positionen der Kirche als aufgeschlossen beschreiben würden. Eben diese Position spiegelt sich auch in den Freitextantworten wider. Die Lehrkräfte bemängeln dort, dass die katholische Kirche mit ihrer Lehre marginalisierte und diskriminierte Gruppen ausschließe. Diese Haltung stelle im Religionsunterricht wiederum unüberbrückbare Differenzen zu den Schüler*innen her. Zwei Lehrkräfte äußern sich dazu folgendermaßen: „Manche (offiziellen) Haltungen der Kirche (vgl. gleichgeschlechtliche Paare/Eltern;…) machen Religionsunterricht fast unmöglich, weil sie eine unüberwindbare Distanz der SuS zur Kirche schaffen. Der Protest der SuS ist recht groß.“ „Transgender Personen und Homosexuelle SuS, die noch kirchlich sozialisiert sind!!! Fühlen sich verletzt und herabgewürdigt“.
Viele Abmeldungen
Viele Lehrkräfte schildern außerdem, dass sich zurzeit besonders viele Schüler*innen vom Religionsunterricht abmelden und in das Fach Ethik wechseln. Mehr als 70 Lehrkräfte attestieren der Institution Kirche in den Freitextantworten völlige Irrelevanz für die Lebenswelt der Schüler*innen. Das liege laut den Lehrkräften auch an Unterrichtsmaterialien und Lehrplänen, die religiöses Wissen voraussetzen, welches die Schüler*innen aber in der heutigen Zeit nicht mehr mitbrächten. 34 Lehrpersonen kritisieren zudem in den Freitextantworten sehr deutlich die langsame Herausgabe neuer Schulbücher, die „in keinem anderen Fach so lange [dauert]“, da diese erst in langwierigen Prozessen kirchlich genehmigt werden müssen. Ebenfalls weisen 55 Lehrkräfte in den Freitextantworten darauf hin, dass vonseiten der Amtskirche die Schüler*innen und ihre Bedürfnisse außer Acht gelassen würden, sowie auch die Lehrkräfte in ihrer Arbeit an den Schulen weder adäquat unterstützt, noch wertgeschätzt würden. Sie schreiben beispielsweise: „Besonders verstörend finde ich die Tatsache, dass es in meinem Bistum seitens der Bistumsleitung absolut *keine* Handreichung oder eine andere Hilfestellung für bzw. nicht einmal den Versuch einer Kommunikation mit uns Religionspädagog/-innen zum Thema des Missbrauchs gibt. Wir werden völlig ignoriert. Offensichtlich sind wir nicht wichtig genug.“
Letzte Brücke zwischen Glauben der Kirche und jungen Menschen
Positiv nehmen demgegenüber 47 Lehrkräfte ihr Fach als letzte Brücke zwischen dem Glauben der Kirche und jungen Menschen wahr, die in der Erfahrung der Lehrkräfte häufig großes Interesse an existentiellen Fragen des Lebens zeigten, aber keinerlei religiöse Sozialisation erfahren würden.
Zum einen scheint der Unterricht laut den Religionslehrkräften mit seinen Inhalten nicht mehr anschlussfähig für die Lebenswelt der Schüler*innen, die immer weniger religiös sozialisiert sind und sich zunehmend vom Religionsunterricht abmelden oder von ihren Erziehungsberechtigten abgemeldet werden, da sie die Positionen der Kirche als diskriminierend und mit christlichen Überzeugungen als nicht vereinbar ansehen. Zum anderen gerät der Religionsunterricht unter Druck, da die Lehrkräfte sich selbst ebenfalls nicht mehr mit den Positionen der Kirche identifizieren können und den Umgang insbesondere mit den Missbrauchsskandalen als „beschämend“ wahrnehmen. Den Unterricht empfinden sie aber auch als wichtig für die Schüler*innen, da dieser einen Raum schaffe, um existentielle Fragen des Lebens im Rahmen des Unterrichts zu thematisieren.
Gravierendere Probleme als angenommen
Das Ergebnis dieser Umfrage zeichnet somit ein Bild vom Religionsunterricht, der vor gravierenderen Problemen steht als bislang angenommen: Während die Abnahme der Religiosität Jugendlicher sowie die zurückgehende Teilnahme am Religionsunterricht bereits hinreichend bekannt waren, distanzieren sich, wie in dieser Umfrage sichtbar wird, inzwischen auch zunehmend Religionslehrer*innen, die bislang als Menschen mit hoher kirchlicher Identifikation galten. Damit geraten auch die eigenen theologisch begründeten normativen Ansprüche in Konflikt mit den zu vertretenden Normativitätsansprüchen der Amtskirche. Die Lehrkräfte befinden sich so in einem Spagat zwischen ihren eigenen theologischen Überzeugungen, die sie gerne unterrichten, und den Normativitätsansprüchen der Amtskirche, die zu unterrichten sie nicht bereit sind.
Diese Umfrage macht somit deutlich, dass über die Zukunft des Religionsunterrichts angesichts dieser Umfrageergebnisse neu nachgedacht werden muss, wenn sich sowohl die Schüler*innen aus dem Religionsunterricht abmelden als auch die Lehrkräfte sich mit der Vermittlung der kirchlichen Normativitätsansprüche nicht mehr einverstanden zeigen.
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Autorinnen:
Lina Böhle, Mag. Theol. und Studium der Politikwissenschaft, ist seit 2023 Wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Drittmittelprojekt zur Aufarbeitung der neueren Missionsgeschichte im Bistum Münster unter Leitung von Prof.in Könemann
Prof.in Dr. Judith Könemann ist seit 2009 Professorin für Religionspädagogik und Bildungsforschung an der Universität Münster, seit 2018 Erweiterung der Denomination der Professur zu „Religionspädagogik, Bildungs- und Genderforschung“ und Leiterin der Arbeitsstelle Theologische Genderforschung der WWU Münster (gemeinsam mit Prof.’in Dr. M. Heimbach-Steins).
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Bild Böhle: Picture People Münster
Bild Könemann: Lukas Billermann
[1] Pressemeldung auf katholisch.de, online unter: https://www.katholisch.de/artikel/32988-91-prozent-der-religionslehrer-sehen-bei-sich-differenzen-zum-lehramt (abgerufen am 15.12.2022).