Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgard ist einer der wohl am meisten gefeierten Autor:innen der Gegenwart. Matthis Glatzel betrachtet sein Gesamtwerk.
Sein Erstlingswerk „Aus der Welt“ aus dem Jahr 1998 wurde mit dem norwegischen Kritikerpreis ausgezeichnet. Bereits der erste Roman polarisierte stark: Es geht um die Geschichte des 26-Jährigen Hauslehrers Henrik Vankel, der sich in seine 13-Jährige Schülerin verliebt. Knausgards Texte sind provokant und doch schonungslos ehrlich. Schamlos ungestüm und gleichzeitig peinlich intim. Neben zahlreichen weiteren Romanen – „Morgenstern“ wurde erst vergangenes Jahr ins Deutsche übersetzt – hat Knausgard eine Art Autobiographie verfasst, die auf den nicht weniger provokanten Titel „Mein Kampf“ hört. Das aus insgesamt sechs Wälzern bestehende Werk beinhaltet detailreiche sowie persönlich-intime Schilderungen aus Knausgards Leben. In „Sterben“ beschreibt er den dramatischen Alkoholtod seines Vaters, dessen Ausmaß er gewahr wird als er gemeinsam mit seinem Bruder Yngve das Haus der Großmutter, in dem sein Vater noch bis zuletzt gewohnt hatte, ausräumt und von den Hinterlassenschaften seines Vaters befreit.
Ungeniert schildert Knausgard in „Lieben“ die Ehe zu seiner zweiten Frau, nachdem er bereits in „Träumen“ das Ende seiner ersten Ehe beschrieben hatte. Ähnlich wie die weiteren Romane „Spielen“, „Leben“ und „Kämpfen“ sind Knausgards Schilderungen von einer durchlaufend prägenden Spannung bestimmt: die brutal ehrliche und offene Darlegung der Erfahrungen eigener Fehler und Unzulänglichkeiten. In „Träumen“ schildert er ausführlich das erste anfängliche Scheitern an der Schreibakademie in Bergen und die Liebe zu einer Frau, die schließlich mit seinem Bruder Vorliebe nimmt. Oft sind gerade die Erzählungen über die Jugendzeit geprägt durch Schilderungen von Alkoholexzessen. Auf der anderen Seite findet immer wieder das Bedürfnis Ausdruck, ein irgendwie geartetes moralisches und ethisches Handeln zu führen.
Ein Gespür für die Bedingungen der eigenen Ehrlichkeit.
Es ist unerheblich, ob „Mein Kampf“ der Autofiktion zuzurechnen ist oder nicht: Knausgard schildert hier eine anthropologische Grundspannung, für die bereits der Apostel Paulus in seinem Römerbrief und der Kirchenvater Augustinus in seinen Bekenntnissen ein Gespür bewiesen haben: die Bedingungen der eigenen Endlichkeit. Während Paulus und Augustinus das Phänomen als Sünde beschreiben und ihr die Erlösung in Christus entgegenhalten, könnte Knausgards Auffassung dazu auf den ersten Blick gegenteiliger kaum sein. Der Protagonist versteht sich selbst als Materialist und Atheist. In „Spielen“ schildert er, wie er sich als Kind gerne selbst als Christ bezeichnet hatte, was seinen
Eltern regelmäßig unangenehm war.1 Spätestens ab der Pubertät versteht er sich überzeugter Atheist.2
Die Ambivalenz zwischen dem Bewusstsein über die eigene Endlichkeit als Mensch und dem überzeugten Atheismus verdichtet sich in einer Szene des Romans „Lieben“. Der Ich-Erzähler schildert die Taufe seiner Tochter, an der er als Vater mitwirkt. Wider der Erwartung nimmt er am Abendmahl teil. Es erscheint ihm als erklärungsbedürftig, warum ausgerechnet er am Abendmahl teilnimmt, vor dem Alter kniet und die Oblate in Empfang nimmt. Erklärungsbedürftig deshalb, weil der Protagonist doch gerade „gegen das Christentum“ ist, ein „Materialist“.3 Welches Interesse kann jemand, der den Glaubensinhalten des Christentums in ihrer kirchlichen Verkündigung ablehnend gegenübersteht, am Abendmahl haben? Gerade um eine solche Erklärung ringt Knausgard in Folge selbst. Er ringt um sie, denn er empfindet Scham gegenüber den Anderen, deren Blicke ihm begegnen. Wie kann es jemand wagen, am Abendmahl teilzunehmen, der nicht „gläubig“ ist? Jemand, dem die klassisch-kirchlichen Medien nichts bedeuten.
Resonanzerfahrung: eigene Endlichkeit und Unzulänglichkeit.
Auf rationaler Ebene ist der Protagonist Materialist und die Worte „ja, ich bin Christ, ich glaube, dass Jesus Gottes Sohn war […]“4 kommen ihm nicht über die Lippen. Auf leiblich, emotionaler Ebene sieht es jedoch anders um: Hier verschränken sich zwei verschiedene Dimensionen im Abendmahl, die auf eigentümliche Art und Weise zu einer Resonanzerfahrung führen. Zum einen ist dies die Erfahrung der eigenen Endlichkeit und Unzulänglichkeit, die Knausgards Romane prägt. Die Passage schließt mit den Worten: „Ich wollte so gerne heil sein. Ich wollte so gerne gut sein.“5 Ganz unmittelbar drückt sich hier die Sehnsucht nach Erlösung aus. Sie erscheint jedoch nicht in Form genormter dogmatischer Sprache. So etwas käme dem Protagonisten „niemals in den Sinn“6 Die Sehnsucht nach Erlösung wird gerade von solcher Sprache entkleidet formuliert. Doch gleichzeitig ist sie in dem Zitat dominant präsent. Der Wunsch nach einem anderen Zustand („heil“ und „gut“) drückt gerade die Diskrepanz zwischen Existenz und Essenz aus. Sünde wird hier zum Befund der eigenen Endlichkeit, die im Wissen um ein Streben nach mehr bewusst wird. Dieser Endlichkeit wurde der Protagonist bereits durch den Tod seines Vaters gewahr, die ebenfalls in dieser Szene erwähnt wird.7
Er wird sich nicht nur seiner selbst als ein „Dasein zum Tode“ bewusst, sondern er hatte bereits hier den Trost des Rituals erfahren. Es muss also doch etwas sein, dass sich der Protagonist hier vom Ritual verspricht. Er sieht den Freund knien. Dieser sei „ein heiler Mensch, ein guter Mensch“. Erscheint ihm hier das Abendmahl als Mittel für die Erfüllung seiner Sehnsucht nach Erlösung? Doch wie wird das möglich? Diese Frage verweist auf den zentralen Inhalt dieser Szene: „das Heilige“8
Es ist gerade das Heilige, dass für den Protagonisten unabhängig von seiner Vermittlung existiert. Es übt, auch unabhängig von seiner Vermittlung, eine Strahlkraft aus. Es ist das hinter dem Medium stehende Phänomen. Noch in seinem letzten Roman („Aus der Welt“) wird es „travestiert“ und doch „angerufen“9
Das Heilige als Ursache.
Was Knausgard hier in Bezug auf das „Heilige“ ausführt, lässt sich vor dem Hintergrund der Religionsphänomenologie Rudolf Ottos deuten. In seinem Hauptwerk „Das Heilige“ aus dem Jahr 1917 bestimmt Otto das Heilige als das „Numinöse“10, als das gestaltlose Göttliche, als das ganz „Eigene[…] des religiösen Erlebens“11 Nach Otto zeichnet sich das Heilige zum einen dadurch aus, dass es nicht vollkommen rationalisierbar ist.12
Darüber hinaus ist es durch gleichzeitige Anziehung (mysterium fascinans13 ) und Abstoßung (mysterium tremendum14) gekennzeichnet. Es flößt Furcht und Respekt ein, gleichzeitig wird es zum Objekt der Sehnsucht. Gerade diese vermischte Struktur ist es, die sich bei Knausgard finden lässt. Zum einen steht das Heilige in Verbindung mit einer „unbezähmbare[n] Kraft“, es ist ein die Welt durchwehender „Sturm.“15 Gleichzeitig bleibt es nicht fassbar und muss sich immer dem Zugriff entziehen: „wo ich niemals gewesen war oder hingelangen würde, obwohl ich es erahnte […]“16 Und doch ist der Protagonist vom Heiligen fasziniert und er fühlt sich von ihm angezogen. Er verspricht sich etwas von eben dieser Sphäre, denn gerade diejenigen, die sich dieser Sphäre öffnen, wie sein Freund Jan Olav, erscheinen ihm als „heil“ und „gut“17
Es ist das Heilige, das Knausgard als Ursache markiert, nicht nur anders über die biblischen Schriften nachzudenken, sondern auch am Abendmahl teilzunehmen. Hier sieht Knausgard die eigentliche Funktion der biblischen Schriften. Sie sind der Ort der Gestaltung des Heiligen. Und darin haben sie ihre Bedeutung und Relevanz: Sie verweisen „auf das immer Gleiche“18 Damit stellen die biblischen Schriften jedoch nicht mehr das alleinige Medium für das Heilige dar. Auch andere Texte kommen für Knausgard hier in Betracht: „Und die der Dichter und Künstler, die sich in seiner Nähe bewegten. Trakl, Hölderlin, Rilke.“19 Man könnte erweitern: Karl Ove Knausgard.
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Matthis Glatzel, Studium der Philosophie und Theologie in Mainz, Frankfurt und Leipzig, seit Oktober 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Graduiertenkolleg Modell Romantik an der Friedrich-Schiller Universität in Jena.
Bild: Buchcover von Karl Ove Knausgard, Spielen.
- Vgl. Karl O. Knausgård, Spielen. Roman. München (Luchterhand) 2013, S. 361ff. ↩
- Vgl. ebd., S. 540. ↩
- Vgl. Karl O. Knausgård, Lieben. Roman. München (btb) 112013, S. 582. ↩
- Ebd., S. 584. ↩
- Ebd. ↩
- Ebd. ↩
- Vgl. Knausgård, Lieben, S. 582. ↩
- Ebd., S. 583. ↩
- Ebd. ↩
- Rudolf Otto/Jörg Lauster/Peter Schüz, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München (C.H. Beck) 52022, S. 6. ↩
- Ebd., S. 4. ↩
- „Aber wenn die rationalen Prädikate auch gewöhnlich im Vordergrunde stehen so erschöpfen sie die Idee der Gottheit so wenig, daß sie geradezu nur von und an einem Irrationalen gelten und sind.“ ( ebd., S. 2.) ↩
- Vgl. ebd., S. 42ff. ↩
- Vgl. ebd., S. 13ff. ↩
- Knausgård, Lieben, S. 583. ↩
- Ebd. ↩
- Knausgård, Lieben, S. 584. ↩
- Ebd., S. 583. ↩
- Ebd. ↩