Beim Thema «Kirchenreform» richtet sich der Blick oft primär auf die Kirche(n) selbst und ihr gesamtgesellschaftliches Wirken. Daniel Kosch macht auf eine Publikation aufmerksam, die das für die Zukunft der Kirche ebenfalls wichtige Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften auf den Prüfstand stellt.
Sammelbände zu Kirchenreformthemen gibt es zuhauf. Aber der vorliegende Band hat es in sich. Er umfasst knapp 25 Beiträge von je rund 10 bis maximal 20 Seiten, von denen die allermeisten von hoher Qualität sind. Sie sind prägnant formuliert, argumentieren differenziert und befassen sich mit vier Themenkreisen: Mit dem Verhältnis von Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften und dem Prinzip staatlicher Neutralität, mit der Rolle des Staates im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch in den Kirchen, mit den Sonderrechten für die Kirchen, insbesondere im Bereich des Arbeitsrechts, sowie mit Krise und Reform der katholischen Kirche.
Das Spannungsfeld von Innensicht und Aussensicht
Schon die Zusammenstellung der Themen macht deutlich, dass die römisch-katholische Kirche im Fokus steht, es aber gleichzeitig um grundsätzliche religionspolitische Fragen geht. Hinzu prägt ein weiteres Spannungsfeld das Buch: das Verhältnis von Innensicht und Aussensicht. Blicken manche Beiträge primär vom Aussen des staatlichen Rechts auf das, was sich im Innen der Kirche(n) abspielt, richten andere den Blick vom Innen der Kirche(n) auf das staatliche und gesellschaftliche Aussen. Diese Perspektivenvielfalt macht das Buch spannend – und macht es zusammen mit dem Themenreichtum unmöglich, auf knappem Raum eine Rezension zu verfassen, die ihm gerecht wird. Immerhin ist schon die Erkenntnis, wie komplex das Verhältnis von Aussensicht und Innensicht ist, und wie unterschiedlich es ausgestaltet werden kann, eine wichtige «Lesefrucht».
Ausgeprägtes Selbstbestimmungsrecht
Aus meiner vom schweizerischen Religionsrecht geprägten Sicht fällt insbesondere auf, dass ein erheblicher Teil des Klärungsbedarfs bezüglich des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften mit dem in Deutschland sehr ausgeprägten Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften zusammenhängt. Kann es angesichts einer Entwicklung des staatlichen Rechts, das Rechtsgleichheit, Diskriminierungsschutz sowie das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung deutlich höher gewichtet als früher, noch angehen, dass der Staat einer Kirche den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zuerkennt, deren Recht und Sexualmoral weit hinter diesen Standards zurückbleibt? Und geht es angesichts diese Rechtsentwicklung noch an, dass konfessionelle Anbieter für einen Teil der staatlich mitfinanzierten sozialen Infrastruktur verantwortlich sind? Oder gehört der «Vertrauensvorschuss des Staates den Kirchen gegenüber auf den Prüfstand» (Gräwe, S. 291) und ist es an der Zeit «neue Kriterien für die Bedingungen der Verleihung und Aufrechterhaltung des Körperschaftsstatus nach dem Massstab der Menschenrechte (zu) erarbeiten» (Stein, S. 143)?
Anders konstelliert sich das Verhältnis von Innensicht und Aussensicht im Kontext der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs. Einerseits erfordert die Aufarbeitung «die Auseinandersetzung der Institution mit sich selbst» (Mertes, S. 198), anderseits zeigt sich, «dass die Kirche mit der Aufgabe der Aufarbeitung alleine überfordert ist: ‘Die Kirche schafft es nicht alleine.’» (ders., S. 193) und benötigt den «Staat als Garant für die Unabhängigkeit der Aufarbeitung» (ders., S. 201).
Von der Win-win-Situation auf das Krankenbett
Allein diese beiden Beispiele zeigen, dass neben der Säkularisierung, dem Rückgang des Anteils der Kirchenmitglieder an der Gesamtbevölkerung und der Erosion der Volkskirche(n) weitere Gründe dafür sprechen, das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften und spezifisch jenes von Staat und katholischer Kirche auf den Prüfstand zu stellen: Koexistierten Staat und Kirche(n) «lange Zeit in einer Win-win-Situation, in der die Kirchen einen ideell-religiösen Überbau für die Gesellschaft bereitstellten und dafür mit einer starken organisatorischen Einbindung in Staat und Gesellschaft belohnt wurden» (ders., S. 195), liegt die katholische Kirche jetzt «auf dem Krankenbett» (Grosse Kracht, S. 307), und erscheint als «nicht unproblematische Grösse» (Gräwe, S. 290), ja als «Täterorganisation», was zur Frage führt, ob der Staat sie noch «mit Sonderrechten und Finanztransfers unterstützen sollte» (Ley/Stein/Essen, S. 11). Denn damit trägt er dazu bei, «jene Kräfte in der katholischen Kirche zu stabilisieren, die die undemokratische und menschenrechtsferne Verfasstheit repräsentieren» (Stein, S. 141f.). Damit wird weder dem Grundsatz des «No Taxation Without Representation» entsprochen noch «dem universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte (gedient), für die doch der Verfassungsstaat eine … Garantenstellung hat» (dies., S. 142).
Fokus auf der Krise der katholischen Kirche
So betrachtet, ist es schlüssig, dass der Band nicht mit Reformpostulaten für das staatliche Religionsrecht endet, sondern mit einer Reihe von Beiträgen zur «Krise und Reform in der katholischen Kirche». Bleiben Reformen aus, besteht das Risiko, dass die «Abweichung von gesellschaftlichen Erwartungen (z.B. hinsichtlich einer demokratischen Binnenstruktur) … zu einem ‘garstig breiten Graben’» führt (Hense, S. 89). Zwar vertritt Peter Seewald diesbezüglich im Schlussbeitrag die Auffassung, «eine stärkere Berücksichtigung demokratischer Prinzipien» würde die Kirche weder «verfassungsmässig auf den Kopf stellen» noch «ihren Glauben deformieren» und plädiert dafür, sich mit der Frage zu befassen, «wie das Evangelium in verantworteter Weise zu stets neuer Zeitgenossenschaft geführt werden kann» (Seewald, S. 377f.).
Trotzdem stimmt dieser Schlussteil des Buches nicht gerade optimistisch. Denn er stellt fest, dass «eigentlich keine Zukunftsaussichten für den konziliaren Katholizismus in Deutschland bestehen» (Grosse Kracht, S. 307), bezeichnet «das rechtsautoritäre katholische Lager» als «machtbewusst, kampagnenfähig und hemmungslos» und warnt daher vor der «Hoffnungshypnose» (Florin, S. 331). Der Grund dafür liege «gewiss nicht allein, aber unter anderem auch darin, dass die bestehende Verfassungs- und Rechtsordnung der Kirche wie auch ihr doktrinales Lehrgebäude von einer normativen Hermetik geprägt sind, die grundlegende Veränderung, wirkliche Innovation, zukunftsoffenen Ausbruch aus dem Festgezurrten und Fixierten unmöglich macht» (Essen, S. 348). Als Ausweg aus einer Situation, die Georg Essen anderswo als «Sackgasse ohne Wendemöglichkeit» charakterisiert hat, bleibe nur «das Austragen von Legitimitätskonflikten in der Form einkalkulierter und bewusst herbeigeführter Rechtsbrüche». Das sei «gewiss ein Grenzfall. Dahinter steht die Hoffnung, dass in der Erschütterung des Legitimitätsglaubens selbst Reformpotentiale enthalten sind» (ders., S.349).
Körperschaftsstatus: Beibehaltung, Verzicht oder Entzug?
Angesichts der Tatsache, dass «die beiden grossen Kirchen in Deutschland nach dem Staat die grössten Arbeitgeberinnen» sind (Gräwe, S. 281) und die «Kirche auf dem Weg zur Minderheit bei gleichzeitigem Wachstum von kirchlich-sozialen Einrichtungen» (Kostka, S. 262) weiterhin eine hohe gesamtgesellschaftliche Bedeutung hat, muss diese Innensicht auf die «existenzielle Krise der katholischen Kirche» (Ley/Stein/Essen, S. 12) auch jene beunruhigen, welche sich aus einer staatsrechtlichen oder gesellschaftspolitischen Aussensicht mit der Thematik befassen. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Thomas Schüller «aus dezidiert katholisch-kirchenrechtlicher Perspektive» (S. 117) und damit aus der Innensicht die Frage aufwirft, ob es den Körperschaftsstatus noch braucht (S. 123), während Isabelle Ley mit ihrer juristischen Aussensicht den «Entzug des Körperschaftsstatus» aufgrund der zu erwartenden Folgen kritisch beurteilt, könnte er doch zur «Radikalisierung», zur «Spaltung der religiösen Landschaft» und zur «Politisierung von Religion» führen (S. 56f.).
Anregungen für die weitere Diskussion
Für diese sowohl aus kirchlicher Innensicht als auch aus religionspolitischer Aussensicht weiterzuführende Diskussion bietet der vorliegende Band eine zwar anspruchsvolle, vor allem aber anregende Grundlage. Es ist zu hoffen, dass die Diskussion weitergeführt, vertieft und um weitere Fragestellungen ergänzt wird. Denn neben der Krise der katholischen Kirche als grösster Religionsgemeinschaft in Deutschland werden auch die zunehmende Verbuntung des Religiösen, die steigende Zahl von Menschen ohne institutionelle religiöse Bindung, das ganz anders geprägte Religionsverständnis mancher Zugewanderter und damit die tiefgreifende Veränderung der Religionslandschaft die weitere Entwicklung beeinflussen.
Stärker in die Überlegungen einzubeziehen sind ferner die mit dem Religionsrecht eng verknüpften finanziellen und ökonomischen Themen, zumal kaum eine andere Form der Kirchenfinanzierung vorstellbar ist, die ähnlich leistungsfähig ist wie das mit dem Körperschaftsstatus verknüpfte Recht, Steuern zu erheben.
Aus Sicht eines Lesers aus der benachbarten Schweiz sei schliesslich angemerkt, dass auch der Blick auf Verhältnisse in anderen Staaten mit ähnlicher Ausgangslage die Diskussion bereichern würde. Zu denken ist etwa daran, dass in der Schweiz die Anerkennung der Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts zur Folge hat, dass verbindlich geregelte Partizipation und Gleichstellung der Geschlechter als Errungenschaften des freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates immerhin in jenen Bereichen des kirchlichen Lebens zur Geltung kommen, die vom staatlichen Religionsrecht mitgeprägt und dem Geltungsanspruch des staatlichen Rechts daher nicht entzogen sind.
Isabelle Ley | Tine Stein | Georg Essen (Hg.), Semper Reformanda. Das Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften auf dem Prüfstand, Herder: Freiburg i. Br. 2023, 384 Seiten.
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Daniel Kosch, Dr. theol., leitete von 1992-2001 die Bibelpastorale Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks und war von 2001-2022 Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) . Von 2020 bis 2023 nahm er als Beobachter aus der Schweiz am Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland teil. 2023 publizierte er ein Buch zum Thema «Synodal und demokratisch. Katholische Kirchenreform in schweizerischen Kirchenstrukturen» (Edition Exodus).