Religionsunterricht „auf Distanz“? Anika Thanscheidt, Anna Hans und Lena Tacke reflektieren über einen Religionsunterricht, der neue Lernchancen eröffnet und Perspektivenwechsel ermöglicht.
Nach den vergangenen Wochen und Monaten des „Lernens auf Distanz“ ist es an der Zeit, innezuhalten und zu resümieren, wie die Reaktion auf die Coronakrise den Religionsunterricht verändert hat und wie wir den Herausforderungen des kommenden Schuljahres begegnen wollen, das weiterhin vom Verlauf des Infektionsgeschehens geprägt sein wird. Am 5. Mai stellt Eva-Maria Spiegelhalter in ihrem Artikel zum Religionsunterricht auf feinschwarz.net fest, was unumstritten ist: Lernen auf Distanz ist für das System Schule, die Schüler*innen und die Lehrer*innen eine Aufgabe, die alle an ihre Grenzen bringen kann. Gerade für den Religionsunterricht, der so sehr von Diskussion und Gespräch, Gemeinschaft und Erfahrungsräumen, Engagement und Persönlichkeit lebt, kann das eine Zerreißprobe sein. Die Grundlagen und Rahmenbedingungen des alltäglichen Unterrichts und des Schullebens sind plötzlich ausgehebelt. Ein Lernen, das auf Präsenzunterricht in der Schule ausgerichtet ist, lässt sich nicht einfach übertragen in ein Distanzlernen.
Ein Lernen, das auf Präsenzunterricht in der Schule ausgerichtet ist, lässt sich nicht
einfach übertragen in ein Distanzlernen.
Nun kann für die Lehrkräfte eine Lösung sein, „alles zu vergessen, was sie jemals über Lernen und Schule gelernt haben“, da sich vieles „aufgrund der eventuell schon angespannten Lebenssituationen der Schüler*innen […] verbiete[t]“, in der Hoffnung, „keinen Stress“ (Spiegelhalter) zu machen. Das ist eine Möglichkeit, pragmatisch mit dieser Krise umzugehen, die Lehrer*innen ja nicht nur beruflich, sondern oft in vielfacher Weise auch privat fordert. Auf der Suche nach methodisch passenden Zugängen stoßen viele Lehrkräfte auf Schwierigkeiten und Hindernisse, die sich vor allem durch die nicht stattgefundene Vorbereitung auf ein Distanzlernen ergeben. Dies sind insbesondere fachübergreifende Problematiken mit dem digitalen Lehren und Lernen, wie datenschutzrechtliche Herausforderungen sowie die technische Ausstattung von Schüler*innen und Lehrer*innen. Es ist eine Gelingensbedingung für den Religionsunterricht im Distanzlernen, wie für alle anderen Unterrichtsfächer auch, dass das entsprechende technische Equipment vorhanden ist und Lehrer*innen wie Schüler*innen dieses nutzen können und wollen.
Ist das gegeben, lassen sich auf Grundlage religionspädagogischer und -didaktischer Kompetenzen und Erfahrungen neue, innovative oder experimentierfreudige Wege gehen, die den Religionsunterricht möglicherweise sogar langfristig bereichern können. Diese Chancen des Distanzlernens werden im Folgenden beispielhaft aufgezeigt.
Der Religionsunterricht „auf Distanz“ ermöglicht Perspektivenwechsel.
1. Eröffnen neuer Lernräume
Der Religionsunterricht sucht die Auseinandersetzung mit Fragen, deren Antworten häufig nicht in das Schema von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ passen. Anhand von offenen Aufgabenformaten, griffigen Impulsen und einer vielfältigen Materialauswahl ist es möglich, auch im Distanzlernen die Schüler*innen bei der Auseinandersetzung mit diesen ‚unabschließbaren‘ Fragen zu begleiten. Es ist dabei gewiss von Vorteil, dass den Schüler*innen aus ihrem bisherigen Schulalltag bereits fachspezifische Zugänge und Ansätze bekannt sind, auf die sie nun zurückgreifen können.
Für die Erarbeitung und Erschließung dieser komplexen Aufgaben ist auch der Einsatz von abwechslungsreichen Medien und Arbeitsformen zentral. Es ist immer eine Herausforderung, ansprechendes sowie aktuelles Material für den Religionsunterricht zu finden. Diese stellt sich im Distanzlernen gleichermaßen, wobei sich auch neue Möglichkeiten eröffnen: Schüler*innen können unmittelbar mit digitalen Medien, Interaktionsräumen, etc. arbeiten, ohne auf die (häufig nicht vorhandene) digitale Infrastruktur der Schule angewiesen zu sein. So ergeben sich neue Materialquellen, neue Möglichkeiten der Bearbeitung, der Recherche und der Reflexion. Es ist die Gelegenheit, die Medienkompetenz der Schüler*innen zu schulen, indem diese Chance ernst genommen wird.
2. Entdecken neuer Kommunikationsformen
Unterricht ohne Kommunikation ist eine Einbahnstraße, die wenig gewinnbringend erscheint. Aber lässt sich daraus schließen, dass Unterricht auf Distanz nicht funktionieren kann? Vielmehr zeigt sich hier eine zweite Chance: Religionsunterricht auf Distanz muss neue Wege der Kommunikation entdecken und fruchtbar machen. Das kann die Möglichkeit bieten, kreativ zu denken und neue Wege zu wagen. Selbst wenn Kommunikation nicht synchron wie im Klassenraum funktionieren kann, kann es sie doch in vielfältiger Weise geben. Schüler*innen erhalten Aufgaben und Anregungen von ihren Lehrer*innen, sie kommunizieren die bearbeiteten Aufgaben zurück und erhalten dazu wiederum ein Feedback. Einige Ergebnisse können dann wieder an alle Schüler*innen gegeben und bewertet oder mit Meinungen versehen werden. Dazu reicht eine einfache Plattform wie Padlet o.Ä. völlig aus, es genügt oft sogar eine E-Mail. Schon können viele unterschiedliche Meinungen mit vielen Schüler*innen geteilt werden. Einzige Voraussetzung ist, dass die Lernaufgaben nicht nach dem einfachen Schema geschlossener Aufgaben funktionieren, die gelöst und abgegeben werden und dann folgen- und feedbacklos bleiben. Sie sollten vielmehr der Startpunkt für die gemeinsame Arbeit an einem Thema sein. Dabei kann Kommunikation auch schon in den Aufgaben selbst angelegt sein. Warum können Rechercheaufträge nicht zu telefonischen Kontakten zur Kirchengemeinde, zum Altenheim oder zur muslimischen Jugendgruppe anregen, um beispielsweise das unterschiedliche Erleben der Coronazeit einzufangen?
3. Erkennen und Bestärken von Lebensweltrelevanz
Lebensweltliche Relevanz gilt für alle Fächer – und im Sinne des Korrelationsprinzips ganz besonders für den Religionsunterricht – als Qualitätskriterium guten Unterrichts. Besonders im Rahmen des Lernens auf Distanz, in dem Nebenfächer möglicherweise zu freiwilligen Zusatzangeboten werden, ist sie ein kaum zu überschätzender Faktor. Und während zwar um die Realisierbarkeit von Korrelation immer wieder gerungen wird, so zeigt sich besonders jetzt die Chance, die unbedingte Lebensweltrelevanz des Religionsunterrichts neu zu erkennen und zu bestärken.
Die Auseinandersetzung mit sensiblen Themen kann auch digital gelingen.
Die Thesen über den Ursprung eines Virus, der die Welt in Atem hält, werfen auch schöpfungstheologische Fragen auf: Wie stark darf der Mensch in Systeme eingreifen? Die Frage nach dem Wert des Menschen drängt sich quasi auf, wenn in europäischen Krankenhäusern während dieser Pandemie zu triagieren begonnen wird. Beides vereint sich mit dem Blick auf Ausbrüche in Schlachtbetrieben. Themen wie Krankheit, Leid und Sterben sind schlagartig für viele junge Menschen greifbarer als sie es vor Covid-19 gewesen sein mögen. In Zeiten von alltäglich erfahrenen Beschränkungen wird die Frage nach Freiheit plötzlich auf drängende Art und Weise virulent. In schwierigen sozialen Situationen erhalten etwa Klagepsalmen einen für viele Schüler*innen neuen Resonanzraum. Das alles heißt nicht, dass Aufgaben für die Auseinandersetzung mit sensiblen Themen wie diesen sich ganz einfach auf digitalem Wege übermitteln lassen – aber mit Fingerspitzengefühl können doch individuelle Auseinandersetzungen mit solchen, nun viel relevanter wirkenden Lebensfragen angeregt werden. Persönliche Sorgen und Ängste können in digitalen (und anonymen) Formaten evtl. leichter artikuliert und dann religionsunterrichtlich aufgefangen werden. Der Religionsunterricht auf Distanz birgt so das Potenzial, nicht zusätzlicher Stress beim Lernen zu Hause zu sein, sondern Stütze und Wegbegleiter durch turbulente Zeiten.
Was bleibt?
Nach diesen Überlegungen wird klar: Religionsunterricht im Lernen auf Distanz birgt Fallstricke und Herausforderungen. In den letzten Monaten sind die einzelnen Schulen hier unterschiedliche Wege gegangen, um pragmatische Lösungen zu finden. Diese reichten vom fast vollständigen Abbilden der Stundentafel in das Distanzlernen bis hin zur Fokussierung auf die Hauptfächer. Der Versuch, in dieser Situation den Religionsunterricht ansprechend und sinnstiftend zu gestalten, kann durchaus scheitern.
Gerade der Religionsunterricht hat in Ausnahmesituationen wie Corona viel zu sagen.
Dennoch haben die angeführten Überlegungen gezeigt, dass Resignation in Anbetracht der Herausforderungen und ein damit zusammenhängendes Aussetzen religiöser Bildung in Phasen des Distanzlernens aus religionspädagogischer Perspektive keine Option sind. Vielmehr gilt es ganz besonders jetzt, den Religionsunterricht formal und inhaltlich neu zu gestalten und seine Relevanz zu verdeutlichen. Gerade der Religionsunterricht hat in Ausnahmesituationen wie jetzt viel zu sagen.
Was dann bleibt: Religiöse Bildung auf Distanz ist offen für neue, reizvolle Wege. Vielleicht können so die Schüler*innen oder sogar die Lehrkraft selbst eine ganz neue Seite des Religionsunterrichts entdecken.
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Autorinnen: Anika Thanscheidt, Anna Hans und Dr. Lena Tacke arbeiten als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Lehrstuhl für Praktische Theologie der TU Dortmund. Lena Tacke ist außerdem Lehrerin an einem Gymnasium in Hagen.
Bild: Annie Spratt auf Unsplash.