Als Religionslehrerin reflektiert Eva-Maria Spiegelhalter über die Erfahrung mit dem Tragen der Maske im Unterricht. Und sie verbindet es mit theologischen Überlegungen zur Körperlichkeit im Christentum und zur Frage von Identität.
Die Maskenpflicht prägt gegenwärtig den Schulalltag – auch im Fach Religion. Doch Masken verhüllen nicht nur, sie zeigen auch: Die Bedeutung der Körperlichkeit, die Unverfügbarkeit jedes Menschen und eine neue Perspektive auf etwas, das zeitweise verborgen war.
Die Maskenpflicht lässt die Gesichter verschwinden und reduziert den Kontakt auf zwanzig Augenpaare.
Im Herbst 2020 ändert sich die Situation im Religionsunterricht erneut – innerhalb eines Jahres ist der Unterricht von so vielen Veränderungen geprägt wie nie zuvor. Zwar bleiben mit den neuen Corona-Verordnungen die Schulen offen und der Religionsunterricht findet in gewohnter Präsenz statt. Mittlerweile hat die Distanz jedoch auf anderem Wege Einzug ins Klassenzimmer gehalten. Während Schüler*innen und Lehrer*innen im selben Raum sind, befinden sich zwischen den Gesichtern mehrere Lagen Stoff oder anderes Material. Die Maskenpflicht lässt die Gesichter verschwinden und reduziert den Kontakt auf zwanzig Augenpaare. Mir fällt es bei Klassen, die ich erst einige Wochen kenne, schwer, die Namen nur aufgrund eines Gesichtsausschnittes zuordnen. Ein Großteil des Gesichts, für den persönlichen Kontakt ein zentrales Identifikationszeichen, ist verhüllt.
Masken normieren Körperlichkeit
Masken sind in der momentanen Situation sinnvoll, davon bin ich überzeugt. Die Zahlen zeigen, dass sie Leben retten und (auch junge) Menschen vor eventuellen Spätfolgen der Erkrankungen durch Covid-19 bewahren. Doch hinter der Maske verschwinden die Gesichter: die von Schüler*innen und die von Lehrer*innen. Die Kommunikation in der Schule reduziert sich damit auf Augenkontakt und Sprache. Diese für den Gesundheitsschutz notwendige Einschränkung trifft auf ein Schulsystem, in dem Emotionen und non-verbale Kommunikation ohnehin schon stark normiert sind.
Schüler*innen erleben dies als Eingriff in ihre Körperlichkeit: Die Maske stört.
Schule blendet Körperlichkeit aus: Ob und wann Schüler*innen essen und trinken dürfen, ob sie zur Toilette gehen dürfen, sich bewegen oder die Lernhaltung ändern dürfen, entscheiden sie in vielen Fällen nicht frei. Natürlich gibt es Schulen mit Bewegungskonzepten und einer ganzheitlichen Gestaltung der Lernumgebung, aber noch sind sie die Ausnahme. Die Regel ist noch immer: das Körperliche findet in den Pausen statt. Die Maskenpflicht normiert weiter: Außer beim Essen und mit entsprechendem Abstand in den Pausen muss die Maske getragen werden, über viele Stunden am Tag. Schüler*innen erleben dies als Eingriff in ihre Körperlichkeit: Die Maske stört.
Gegenwärtig ist es die verletzliche Seite der Körperlichkeit, die unsere Wahrnehmung dominiert
Christentum als Religion der Körperlichkeit
Das Christentum gilt von seinem Entstehungskontext her als Religion, die den Menschen in seiner ganzen Körperlichkeit bedenkt. Die Botschaft Gottes erreicht den Menschen nicht als Wort, sondern in einem Menschen. Im Wanderprediger von Nazareth trat den Menschen vor 2000 Jahren Gott selbst gegenüber. Diese Botschaft hatte von Beginn an eine körperliche Dimension. Begegnungen mit Jesus führen zu tiefgreifenden Änderungen in den Lebensentwürfen – Heilungserfahrungen zeugen von einer körperlich ausgedrückten Wirkung des Glaubens an Gott. Der Tod am Kreuz bringt schließlich die Körperlichkeit an ihr Ende und spricht damit noch einmal Gottes Wort aus.
Gegenwärtig ist es die verletzliche Seite der Körperlichkeit, die unsere Wahrnehmung dominiert: In einer Welt, in der alles möglich schien, zwingt die Vulnerabilität menschlicher Körper die Systeme zum Stillstand. Der Körper ist zur Bedrohung geworden. Infolgedessen erfolgt Kommunikation am besten digital, normiert durch die Größe des Bildausschnittes beim jeweiligen Konferenztool. Lassen sich direkter Kontakt und reale Kommunikation nicht vermeiden, wird auch hier die Körperlichkeit normiert: die Alltagsmaske beschränkt nicht nur das das Gesichtsfeld, sondern erschwert auch das Sprechen und Hören.
Relevanz des Gesichtsausdrucks für den RU
Was ergibt sich daraus für den Religionsunterricht? Alltagsphänomenologisch deuten wir das Gesicht als einen Ausdruck der Identität; bereits Säuglinge lesen aus Gesichtern wichtige Informationen über ihre Umgebung. Gesichter können zeigen: Wer bin ich? Wie fühle ich mich? Was halte ich von meiner Umgebung? Wie geht es mir? Unsere Mimik vermag viele dieser Aspekte menschlicher Identität zu spiegeln. Auch wenn Gesicht und Mimik selbstverständlich nicht die einzigen Wege sind, sich zu zeigen, es sind die schnellsten und die kulturell gewohnten. Der Zusammenhang von Gesicht und Identität ist im westlichen Kontext eng verknüpft und schlägt sich in verschiedenen Redewendungen nieder. Eine Person zeigt ihr „wahres Gesicht“, wenn sie sich authentisch gibt; dagegen „verliert“ sie ihr Gesicht, wenn sie soziale Normen enttäuscht. Wir sagen, ein Vorhaben „bekommt Gesicht“, wenn sich z.B. die Konturen eines Projekts klarer zeigen.
Gesicht als ein Spiegel unserer Seele, unserer Persönlichkeit.
Zustimmung oder Ablehnung, Fragen oder Kritik zeigen sich im Gesichtsausdruck. Mehr noch: Wenn wir in einem geschützten Raum sind und uns öffnen, kann das Gesicht ein Spiegel unserer Seele, unserer Persönlichkeit sein. Religion zielt auf die existentiellen Fragen des Menschen und damit auf ihr Person-Sein. Fachdidaktische Konzepte, wie die Korrelationsdidaktik, zielen auf die Verknüpfung von Lebenswelt und Glaubensüberlieferung und berücksichtigen die persönlichen Konzepte und Erfahrungen.[1] Andere Ansätze stellen über den Begriff der Relevanz auf individueller Ebene den Bezug zu persönlichen Interessen und Fragen her.[2] Persönlichkeit, die auch über Mimik erkennbar wird – und die sich über das Sprachliche hinaus vermittelt. Momentan verschlucken Masken diesen Ausdruck. Und mir stellt sich die Frage, ob mein Unterricht bei den Schüler*innen ankommt.
Gesichtsausdrücke als Feedback
Beim Unterrichten kann ich normalerweise an den Gesichtsausdrücken eine Rückmeldung zum Unterrichtsverlauf ablesen – schwer zu verstehen, langweilig, interessant, belanglos sagen mir die Gesichtsausdrücke. Ob etwas Spaß macht oder ob Schüler*innen kritisch Glaubensinhalte überprüfen, kann ich an den Gesichtern ablesen. Expert*innen aus der Schulforschung werden mir jetzt den Hinweis geben, dass regelmäßiges Feedback strukturierte Hinweise zur Passung von Lernstoff ermöglicht. Im konkreten Unterricht ist der Blick in die Gesichter der Schüler*innen aber ein Feedback, auf das ich schwer verzichten kann. Die Maske verändert und behindert diesen Teil der non-verbalen Kommunikation und lässt mich nur erahnen, was meine Schüler*innen denken oder empfinden. Die Schüler*innen, die sprachlich kompetent sind, bestimmen noch stärker als sonst den Gang des Unterrichts. Wer sich nicht gerne verbal äußert, ist noch stärker ausgeschlossen als zuvor.
Auch meine Mitteilungsfähigkeit ist eingeschränkt. Ob ich lache oder ungeduldig bin – allein meine Augen, meine Stimmlage und meine Aussagen geben davon Auskunft. Kommunikation und Interaktion wird ohne Mimik schwieriger. In manchen Situationen fühle ich eine ungewohnte Distanz zu den Schüler*innen obwohl wir im selben Raum sind.
Masken – der Mensch hinter Schichten
Besonders fällt mir das Phänomen der verschwundenen Gesichter auf, wenn ich an einer Videokonferenz teilnehme. Wenn ich zwanzig Gesichter sehe – von der Stirn bis zum Kinn inklusive Frisuren –, bin ich im Moment immer wieder überrascht über deren Vielfältigkeit –, selbst wenn im Hintergrund überall dieselben tristen Büros zu sehen sind. Ich achte plötzlich auf Kleinigkeiten in den Gesichtern und vor allem auf die Mimik, die mir im Unterricht so fehlt.
Enthüllung durch Verhüllung
Seit der Verhüllung des Berliner Reichstages 1995 durch Christo ist die Einschränkung der Sicht eine Möglichkeit der Kunst, neue Perspektiven auf etwas vermeintlich Bekanntes zu ermöglichen. Der Reichstag verschwindet und ist zeitweise nicht zu sehen und gibt so den Impuls, Tendenzen zur Vereinnahmung und zur uniformen Interpretation des Gebäudes zu überdenken. Der Zusammenhang von Verborgenheit und Unverfügbarkeit findet sich auch im Christentum. Die negative Theologie akzentuiert die Unbegreifbarkeit Gottes und führt die Freiheit Gottes gegen dessen Vereinnahmung ins Feld. Wenn theologisches Denken im Schulkontext stattfindet, ändert sich die Sprache, jedoch nicht der Inhalt. Im Religionsunterricht in Klasse 6 beschreiben Schüler*innen die Unverfügbarkeit, das Entzogensein und die Unerkennbarkeit Gottes mit folgendem Satz: „Es ist ein Gott hinter Schichten“. Diese Formulierung macht mich hellhörig. Hinter Schichten – da sind momentan auch die Gesichter der Schüler*innen verborgen. Verhüllt, als Mahnung vor Vereinnahmungstendenzen. Verhüllt, um auf das Unbedingte in jedem Menschen hinzuweisen. Jeder Mensch ist mehr als seine visuelle Wahrnehmbarkeit. Vielleicht gibt jede Maske einen Hinweis auf die Unverfügbarkeit jedes Menschen. Spannend auch – welche neuen Perspektiven in einigen Monaten in den Gesichtern ohne Maske zu entdecken sind.
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Autorin: Eva-Maria Spiegelhalter arbeitet als Religionslehrerin am allgemeinbildenden Gymnasium und als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Religionspädagogik der Theologischen Fakultät Freiburg.
Beitragsbild: Foto von Janko Ferlic von Pexels
[1] Vgl. Schambeck, Mirjam: Vom Containerbegriff „Korrelation“ zum Planungsinstrument für Unterricht. Zu einer Operationalisierung von Korrelationsprozessen, in: Pemsel-Maier, Sabine / Schambeck, Mirjam (Hg.): Keine Angst vor Inhalten! Systematisch-theologische Themen religionsdidaktisch erschließen, Freiburg / Basel / Wien: Herder 2015, 67–89, 85.
[2] Vgl. Claudia Gärtner: Auf der Suche nach Fachlichkeit und Relevanz. Religionsdidaktik zwischen Theologizität und lebensweltlicher Kontextorientierung, in: Theo-Web, 17(2), 215–229, 221f.
Von der Autorin bereits auf Feinschwarz.net erschienen:
Hometeaching – Was ist eigentlich für meine Schüler*innen jetzt wichtig?