Der Pavillon der Betroffenen blieb geschlossen. Die Erbsünde hat ausgedient. Die Theologie beunruhigt. Fünf Tage Katholikentag in Stuttgart – eine Rückschau von Norbert Bauer.
„Du bist halt Generation Senfkorn“ spöttelte eine Freundin, als ich erwähnte, dass ich mir mal wieder ein Katholikentagsticket gekauft habe. 1978 hat Ludger Edelkötter das Hoffnungslied komponiert. Zwei Jahre später habe ich in Berlin meinen ersten Katholikentag besucht. In Erinnerung geblieben ist mir ein Mitsingkonzert in der Waldbühne und der Besuch in der Diskothek S.O.U.N.D. Ich wollte auch da tanzen, wo Christiane F. und die „Kinder vom Bahnhof Zoo“ getanzt haben. Nach Berlin bin ich noch mit einem Sonderzug angereist. In diesem Jahr kenne ich mehr katholische Freund*innen, die nach Oberammergau als Stuttgart fahren. Laienschauspiel ist offensichtlich attraktiver als Laienkatholizismus. 500.000 Menschen pilgern in diesem Jahr zu den Passionsspielen, nur 27.000 zum Katholikentag. Ob Stuttgart das Ende des Senfkornkatholizismus ist, ist noch offen. In Saarbrücken wurden 2006 nur 30.000 Teilnehmer*innen gezählt, 2018 in Münster 90.000.
Die feinschwarz-Redaktion offline erleben
Dicke Programmhefte waren lange vor den bunten Schals die Erkennungszeichen für die Teilnahme. Heute reicht ein Smartphone für Programm, Ticket und Stadtplan. Auch in Stuttgart gilt: digital ist besser. Den umgekehrten Weg beschritt die Redaktion von Feinschwarz. Das theologische Online-Feuilleton konnte zum zweiten Mal nach dem Katholikentag in Münster offline erlebt werden. „Was fehlt?“ lautete die Überschrift über der Veranstaltung. Was nicht fehlte, war das Interesse an der Premiere. Im großen Saal im Haus der Wirtschaft waren nur noch wenige Stühle frei. Auch Wolfgang Thierse war neugierig, was heute in der globalen Welt in der katholischen Kirche und im theologischen Denken fehlt. Drei große Fragen für 90 Minuten ohne Verlängerung. Gleich in der ersten Runde erzeugte Christian Bauer einen Senfkornmoment. „Hoffnung macht handlungsfähig, Zynismus lähmt.“ Endgültige Antworten konnten und wollten nicht angeboten werden, denn Theolog*innen sollen, so Julia Enxing, „die Frage selbst lieben.“ Die etwas ruhige Tonalität der in drei unterschiedlichen Konstellationen mit erfreulicher Zeitdisziplin geführten Diskussion veränderte sich bei den Fragen des Publikums. Ein Physiker vermisste in der aktuellen Theologie die Auseinandersetzung mit so großen Themen wie Ewigkeit und Allmacht. Julia Enxing antwortete „Bei mir gibt es keinen allmächtigen Gott. Ich weiß nicht, ob sie das eher beruhigt oder schockiert.“
Leere Ränge und großes Interesse an Erbsünde?
Zahlreiche Debatten und Diskussionen wurden vor beinahe leeren Rängen geführt. Für das Podium „Wovon sollen wir erlöst werden? Hoffnungsperspektiven für eine Menschheit ohne Erbsünde“ war der Raum zu klein. Interessierte mussten abgewiesen werden und konnten so nicht mitbekommen, wie Christoph Böttigheimer das Konstrukt der Erbsündenlehre verabschiedete. Johanna Rahner reichte der stille Abschied nicht, denn mit der Erbsündenlehre ist eine Schuldgeschichte verbunden. „Die Schuld Adams musste Eva ausbaden.“ Der Philosoph Frederek Musall konnte sich gelassen zurücklehnen: „Manche Probleme habe ich als Jude nicht.“ Im Judentum wurde die Schöpfungsgeschichte nicht als Sündengeschichte rezipiert, sondern als Moment der Entscheidungsfreiheit, die den Menschen zum Menschen macht. Einig waren sich die Teilnehmer*innen des jüdisch-christlichen Dialogs am Ende, dass die Ausgangsfrage eine andere sein muss. Statt „Wovon sollen wir erlöst werden?“ soll besser gefragt werden „Worin besteht unser Heil?“ Das Gespräch hätte nicht nur einen größeren Raum, sondern auch mehr Zeit gebraucht, auch um die anthropologische Perspektive in den aktuellen Kontext von Unheilerfahrungen stellen zu können.
Ein Zelt blieb verschlossen.
Die ganze Vielfalt des Katholischen lässt sich auch in Stuttgart wieder an den weißen Zelten der Kirchenmeile bewundern. Von der „Arbeitsgemeinschaft Tanz in Liturgie und Spiritualität“ bis zum „Zentralkomitee der Deutschen Katholiken.“ Ein Zelt blieb verschlossen. An der Zeltplane war der Grund zu lesen: „Die am Bauprojekt mitwirkenden Opfer/Betroffene/Überlebende des Missbrauchs brauchen nach den schweren und leider noch nicht abgeschlossenen Arbeiten am Fundament einer funktionierenden Betroffenenarbeit in der katholischen Kirche in Deutschland – zumindest in Stuttgart erst einmal eine Pause.“ Bundespräsident Steinmeier besuchte unmittelbar nach dem Eröffnungsgottesdienst an Christi Himmelfahrt diesen Stand und sprach mit Vertreter*innen des Beirats. Kein Wort zu den Betroffenen fand Bischof Fürst zuvor in seiner Predigt. Dabei hätte sein Thema „Leben teilen“ und der Hl. Martin eine gute Vorlage geboten. Er hätte z.B. darüber nachdenken können, was das Narrativ des geteilten Mantels für die Anerkennungsleistungen bedeuten könnte.
Was Frauen schon so oft haben hören müssen.
Johanna Beck, Mitglied des Betroffenenbeirats der DBK, traf bei dem ZDF-Podium „Wer braucht noch Kirche?“ auf Bischof Bätzing. Der versuchte sich zu rechtfertigen, warum er einen Priester trotz Belästigungsvorwürfen befördert hat. Die betroffene Frau, so Bätzing, habe er über die Beförderung informiert. Er habe zunächst keine vollständige Ablehnung wahrgenommen. „Sie hat nicht signalisiert, das geht gar nicht.“ Der Vorsitzende der DBK wiederholte mit diesem Rechtfertigungsversuch genau das, was Frauen schon so oft nach traumatisierenden Situationen haben hören müssen: „Sie hätten doch deutlicher Nein sagen können.“ Trotz des erneuten Schlags ins Gesicht der Betroffenen ließ sich ZdK Präsidentin Irme Stetter-Karp ihre Zuversicht auf Veränderung nicht nehmen und erinnerte an einen weiteren Hoffnungsklassiker: „Wenn viele kleine Leute an vielen kleinen Orten…“.
„Wollen wir eine komplette Offenlegung
oder nicht?“
Eine gelungene Vorlage für Philipp Gessler. Er eröffnete das von Joachim Frank moderierte GKP Podium „Von der Sprachlosigkeit zu neuer Sprachfähigkeit. Wie kann die Kirche ihre Botschaft (mit-)teilen?“ Mit einem spannenden, kostbaren und wertvollen Impuls nahm Gessler den Kirchenjargon ein Stück weit auseinander. Ein positives Gegenbeispiel benannte Beatrice von Weizsäcker. „Den schönsten Segen habe ich bei einen WhatsApp Gottesdienst der Netzgemeinde Da_zwischen erhalten.“ Es dauerte aber 70 Minuten, bis der weiße Elefant die Bühne betreten durfte. Die Kirche könne ihre Sprachfähigkeit nur zurückgewinnen, wenn sie ihre Haltung zur Aufarbeitung geklärt habe, so Gniffke, SWR Intendant. „Wollen wir eine komplette Offenlegung oder nicht?“ Das wäre die Frage, die die Bischöfe zu beantworten haben, statt weiterhin mit ihren Reden den Eindruck zu erwecken, sie wollen noch etwas retten. Die Frage einer Theologie-Studentin aus dem Publikum offenbarte ein weiteres Sprachproblem der Kirche. Sie hätte schon mehrfach von ihren Professoren gesagt bekommen, wenn sie eine kirchliche Laufbahn einschlagen wolle, solle sie auf ihre Worte achten. Als Medienbischof Marx dieses Problem kleinreden wollte, platzte Gniffke der Kragen: „Eine Institution muss strukturell sicherstellen, dass Redefreiheit garantiert ist.“ Da war sie wieder: die Strukturdebatte. Wenn Strukturen nicht einladend sind, kann es auch die Sprache nicht sein.
Zwei Tage vorher hatte am selben Ort Elazar Benyoëtz gezeigt, wie klar Sprache sein kann. Er brauchte dafür nur einen Stuhl, einen Tisch, ein Glas Wasser und seine Texte. Keine Anmoderation, kein Anwalt des Publikums, nur noch die Musik von Kolja Lessing mit seiner Geige. Leider waren nur 20 Menschen dabei, als der 1939 mit seiner Familie nach Israel immigrierte Dichter seine Aphorismen vortrug. Kurze, prägnante, trotzdem spielerische Sätze. „Fern sei mir das naheliegende.“ Ein Motto für den nächsten Katholikentag?
„Wenn zu viele Menschen keine Hoffnung haben…“
Oft wurde beklagt, dass die Politiker*innen einen großen Bogen um den Katholikentag gemacht haben. Robert Habeck und Annalena Baerbock waren nicht da. CDU-Chef Merz auch nicht. Mit Cem Özdemir war immerhin der aktuell drittbeliebteste Minister da. Bundeskanzler Olaf Scholz machte sich zusammen mit Nora Bossong Gedanken zu „Zusammenhalt und Zeitenwende“ und legte einen schönen Remix des Hoffnungssongs auf: „Wenn zu viele Menschen keine Hoffnung haben, geht es schief.“ SPD und Katholikentag Arm in Arm. In Erfurt bin ich wieder dabei.
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Autor: Norbert Bauer, Leiter der Karl Rahner Akademie in Köln.
(Leichte Veränderung des Textes am 31.05.2022)
Foto: Norbert Bauer, Pavillon Betroffenenbeirat der DBK, Katholikentag Stuttgart 2022.