Michael Lohausen zeigt anhand der Ausstellung „Un_endlich. Leben mit dem Tod“ des Humboldt-Forum in Berlin wie es gelingt, Tod und Sterben so zu inszenieren, dass Menschen darauf neugierig werden.
Personen, die Krimis, Thriller, Horrorfilme bzw. -literatur und ähnliche auf den Aufbau von Spannung ausgelegte Kulturerzeugnisse mögen, wissen selbstverständlich sehr gut: Der Tod ist in diesen Genres praktisch das Gravitationszentrum. Darum dreht sich alles und wenn qualitativ und quantitativ nicht hinlänglich gestorben wird, zappt man sich in der Hoffnung auf Besseres durch den Streamingdienst oder versucht es mit einem anderen Buch. Es ist oft beschrieben worden, dass ein derart inszenierter Tod trotz des inflationären Gebrauchs nicht in Gefahr ist, das Publikum zu langweilen. Wenigstens solange unser voyeuristisches Bedürfnis, Zeug*innen des Extremen zu sein, in den (mehr oder weniger kunstvoll) angelegten Erzählschleifen gleichermaßen befriedigt und neu aufgerufen wird. Ein solcher Tod hält die Medienkonsumierenden gewissermaßen in Atem.
Der Tod als Gravitationszentrum
Aber wie muss eine Inszenierung von Tod aussehen, durch die aus Menschen, die mit der Rolle von Zuschauenden in aller Regel viele Vorteile verbinden, Teilnehmende an einem gemeinsamen Gesprächsprozess werden können? An einem Gespräch, bei dem es nicht um das Geschick von Figuren aus Romanen oder Filmen geht, sondern um das Sterben und das Ende, auf die ich mich selber (unter den aktuellen medizintechnischen Voraussetzungen) unaufhaltsam zubewege. Und die auch für diejenigen, die mir nahestehen, ausnahmslos eintreffen werden oder eingetroffen sind.
eingebettet in ein planetar und kosmisch ablaufendes Sterbeprogramm
Und wie gehe ich mit dem Sachverhalt um, dass alle derartigen Zusammenhänge, die an meiner Lebensgeschichte Entscheidendes mitschreiben, ihrerseits eingebettet sind in ein planetar und in letzter Konsequenz kosmisch ablaufendes Sterbeprogramm, das ständig mehr Leben von der Zukunft (ausstehendes Leben) abzieht und in die Vergangenheit (gelebtes Leben) umschichtet? Was löst es beispielsweise in mir aus, wenn der Philosoph Stephen Cave bemerkt: „Es gibt acht Milliarden Menschen auf der Erde, und jeder von ihnen wird sterben, so wie die Milliarden, die vor ihnen kamen und so wie die unzähligen Abermilliarden anderer Lebewesen, welche die Erde bevölkert haben, seit das Leben begann. Ihre Tode, also die Tode anderer, sind so gewöhnlich wie die Blätter, die im Herbst von den Bäumen fallen.“[1]
Das Humboldt Forum in Berlin hat solche Fragen für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht und mit der Ausstellung Un_endlich. Leben mit dem Tod (1. April – 26. November 2023) einen Erfahrungs- und Diskussionsraum angeboten. Lead Curator Detlef Vögeli rechnete damit, dass eine alltags- bzw. realitätsbezogene Inszenierung von Tod und Sterben, die beispielsweise medizinisch-pflegerische, kulturvergleichende, demographische und ökologische Aspekte hervorhebt, bei den Besuchenden gedanklich verfangen und die Auseinandersetzung mit den ganz bestimmt vorhandenen und möglicherweise nur nicht bewusst gemachten Erfahrungsthemen rund um den Tod aktivieren würde.
Angst vor dem Tod und die Sehnsucht nach Unsterblichkeit
Er folgt damit der Kulturanthropologie von Ernest Becker, „dass die Furcht vor dem Tod alles menschliche Verhalten bestimmt. Diese Angst und die Sehnsucht nach Unsterblichkeit sind die Haupttriebkräfte menschlichen Handelns.“[2] Jedes Element von Kulturproduktion – sowohl für die Einzelperson (die eigene Lebensgestaltung, was ich erreichen will, wodurch meine begrenzte Zeit Sinn bzw. Qualität bekommen soll usw.) als auch zivilisatorisch (Mythen- und Ritualbildung, Wissenschaftsentwicklung, Etablierung von Weltanschauungen usw.) – entsteht nach dieser Auffassung aus einer im schieren Menschsein verankerten Grundspannung, die sich dem Wunsch verdankt, dass wir nicht nur „ein kosmischer Rechenfehler“[3] sein wollen.
mehr als ein kosmischer Rechenfehler
Der Unterstrich im Titelwort un_endlich reduziert das Vakuum zwischen Leben und Tod auf eine winzige Lücke zwischen Buchstaben und gibt gleichzeitig zu erkennen, dass die Leerstelle, wenn sie einmal bewusst wahrgenommen ist, zu rumoren anfängt: „Wir müssen leben mit dem Tod“[4]. Die Ausstellung zielte von diesem Ausgangspunkt her darauf ab, dass „[d]ie Besucher*innen […] als Sterbliche zu unmittelbar Beteiligten und […] damit zugleich daran [erinnert werden], dass die Gewissheit des Todes alle Menschen verbindet. Sie begegnen unterschiedlichen Todes- und Jenseitsvorstellungen … Sie können Fragen stellen, innehalten, Position beziehen, sich austauschen, in Erfahrungsräume eintauchen … Der facettenreiche Blick auf den Tod mag Impulse dafür geben, sich diesem häufig tabuisierten Thema zu nähern und es als Teil des Lebens anzuerkennen“[5].
Individualität und Beziehung als Leitkategorien
Beteiligung ist das entscheidende Stichwort. Soweit die Ausstellung damit Erfolg hatte, den Tod – und sei es auf exemplarische Art und Weise – zum Gegenstand zwischenmenschlichen Handelns zu machen (durch bewusst eingesetzte Interaktionsanreize für die Besuchenden, durch Impulse zur persönlichen Meinungsbildung, durch Diskussionsanstöße usw.), spiegelte sie damit einen interessanten sozialen Trend wider. Neuere Fachliteratur beispielsweise aus dem Bereich Palliative Care legt nämlich nah, dass es für Menschen, die professionell mit Sterbenden zu tun haben (Pflege- und medizinisches Personal, Seelsorgende, Therapeut*innen usw.), immer wichtiger wird, das Aktionsfeld um Sterben und Tod zu enttabuisieren und dadurch die Betroffenen, d. h. Personen, die sterben, ihre Angehörigen und die beruflich Involvierten in ihrer Kommunikations- und Handlungsfähigkeit zu stärken. Individualität und Beziehung als zentrale Elemente von Beistand am Lebensende entwickeln sich damit zunehmend zu Leitkategorien im medizinisch-pflegerischen Handeln.
offenes Sprechen über den Tod fördert Zwischenmenschlichkeit
Es spricht Einiges dafür, dass sich diese Enttabuisierungsgewinne allmählich aus den engeren Berufs- bzw. Akutkontexten lösen und in der Öffentlichkeit größeren Raum einnehmen. Stabilisiert sich dieser Trend, dann kann das Hoffnungsvolles bedeuten: Wo über den Tod als Wirkmacht in der gemeinsamen Lebenswelt offener gesprochen und im respektvollen Miteinander über den Umgang mit ihm dazugelernt wird, da werden damit Akzente für mehr Zwischenmenschlichkeit und Solidarität über soziale und kulturelle Grenzen hinweg gesetzt.
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[1] Cave, Stephen (2023): Vier Möglichkeiten, ewig zu leben, in: Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss (Hrsg.), Un_endlich. Leben mit dem Tod, Leipzig: E. A. Seemann, S. 24-28, 24.
[2] Vögeli, Detlef (2023): Einführung: Leben mit dem Tod. Ein menschliches Drama, in: Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss (Hrsg.), Un_endlich. Leben mit dem Tod, Leipzig: E. A. Seemann, S. 16-19, 16.
[3] Cave 2023, 24.
[4] Vögeli 2023: 16.
[5] Dorgerloh, Hartmut (2023): Vorwort, in: Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss (Hrsg.), Un_endlich. Leben mit dem Tod, Leipzig: E. A. Seemann, S. 13f.
Bildnachweise: Beitragsbild von Aron Visuals via Unsplash; Foto von Michael Lohausen wurde von Walter Wetzler fotografiert
Dr. Michael Lohausen hat in Pastoraltheologie promoviert und arbeitet in der Begleitung des pastoralen Personals im Erzbistums Berlin. Er ist darüber hinaus als Lehrbeauftragter an der Universität Regensburg im Masterstudiengang „Perimortale Wissenschaften“ tätig.