Axel Bohmeyer und Andreas Leinhäupl ziehen ein Fazit der wissenschaftlichen Begleitung des Praxisprojekts „Soziale Arbeit in den Pastoralen Räumen“ im Erzbistum Berlin durch das Institut für Religionspädagogik und Pastoral der Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin.
In seinem Adventshirtenbrief aus dem Jahre 2012 versuchte der damalige Erzbischof von Berlin – Rainer Maria Kardinal Woelki –, die pastorale Situation des Erzbistums Berlin vor dem Hintergrund der sich verändernden kirchlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit in den Blick zu nehmen und einen Prozess der gemeindlichen und kirchlichen Erneuerung zu initiieren. Unter dem Motto „Wo Glauben Raum gewinnt“ wurde mit einer pastoralen Neugestaltung des Erzbistums begonnen und es kam zur Bildung neuer „Pastoraler Räume“.
Orte gelebter Nächstenliebe in den Blick nehmen.
Mit der Entwicklung dieser Pastoralen Räume sollte das kirchliche Leben gestärkt und zugleich ein Perspektivwechsel vorgenommen werden: „Nicht zuletzt werden wir die Orte gelebter Nächstenliebe auch aus gemeindlicher Sicht wieder stärker in den Blick zu nehmen haben, um in ihnen einen Ort missionarischer Pastoral zu entdecken. Caritas ist ein Wesenselement der Kirche und damit auch einer jeden Gemeinde. Sie ist Dienst am Herrn, denn ‚was ihr für einen meiner geringsten (Schwestern und) Brüder getan habt, das habt ihr mir getan‘ (Mt 25, 40). In der caritativen Dimension unserer Gemeinden und der ganzen Kirche sehe ich eine Chance, noch stärker Kirche mitten unter den Menschen zu sein und Zeugnis von der Gottes- und Nächstenliebe abzulegen.“1
Der pastorale Prozess „Wo Glauben Raum gewinnt“ wird seit 2015 von Erzbischof Heiner Koch verantwortet und findet vor allem dezentral in den Pastoralen Räumen – also den Pfarreien, Gemeinden und Orten kirchlichen Lebens – statt. Daneben gibt es aber auch Projekte, die in Fragen der Kirchenentwicklung von zentraler Bedeutung sind. Dazu gehört das höchst ambitionierte und gleichermaßen spannende Praxisprojekt „Soziale Arbeit in den Pastoralen Räumen“. In der Projektbeschreibung findet sich der Anspruch des Pilotprojekts: „Zu den in der Pastoral tätigen Priestern, Diakonen, Gemeinde- und Pastoralreferenten eines Pastoralen Raumes beziehungsweise einer neuen Pfarrei sollen künftig Sozialpädagogen oder Sozialarbeiter einerseits das Pastoralteam ergänzen und andererseits als Experten das Bindeglied zu karitativen und diakonischen Trägern sowie zu nichtkirchlichen Einrichtungen sein.“2
In einer dreijährigen Projektphase (2020–2022) wurden drei Sozialarbeiterinnen in drei sehr verschiedene Pastorale Räume des Erzbistums Berlin entsandt. Der Einsatz wurde durch die Servicestelle „Projekte und Prozesse“ des Erzbistums Berlin organisatorisch und inhaltlich vorbereitet, die Grundlagen und notwendigen Rahmenbedingungen wurden erarbeitet, die Praxisrelevanz getestet und im Nachgang dieses Pilotprojektes auch eine entsprechend neue Berufsgruppe eingeführt. Außerdem wurde das Berliner Institut für Religionspädagogik und Pastoral (BIRP) mit der wissenschaftlichen Begleitung des Projekts beauftragt.
Nahe bei den Menschen sein.
Die Profession der Sozialen Arbeit sollte dazu beitragen, die unterschiedlichen Orte kirchlichen Lebens in den Pastoralen Räumen bzw. die „sozialen Strukturen außerhalb der Pfarreien noch stärker mit der Gemeinde/dem Stadtteil ringsum zu verbinden“.3 Das Pilotprojekt ging also davon aus, dass die Kirche, will sie denn weiterhin nahe bei den Menschen sein, den Sozialraum als das entscheidende Handlungsfeld ernstnehmen muss: hier spielt sich das Leben der Menschen ab, hier kann und muss pastorale Arbeit ansetzen, aktuelle Themen und Fragen aufnehmen und im Sinne der „Zeichen der Zeit“ das Evangelium ins Spiel bringen.
Bereits im Vorfeld warf das Pilotprojekt – und wirft auch weiterhin – eine Menge Fragen auf. Wie sind die Rollen, Aufgaben und Profile der verschiedenen hauptberuflich in der Pastoral Tätigen definiert und wie unterscheiden sie sich genau voneinander? Was passiert, wenn eine neue Berufsgruppe (Sozialarbeiter:innen) bzw. eine neue Profession (Soziale Arbeit) in ein bestehendes Pastoralteam eingeführt wird? Welche Rahmenbedingungen müssen dafür in kirchlichen Strukturen geschaffen werden? Welche Voraussetzungen müssen Sozialarbeiter:innen mitbringen, um „im kirchlichen Kontext“ gewinnbringend arbeiten zu können? Sind für Sozialarbeiter:innen zusätzlich zu ihrem grundständigen Studium und ihrer umfänglichen Hochschulausbildung weitere Fortbildungsmaßahmen sinnvoll oder notwendig? Entstehen durch eine Synthese von Pastoraler und Sozialer Arbeit am Ende sogar innovative Transformationsperspektiven? Diese Fragen wurden im Verlauf des Projektes in verschiedenen Zusammensetzungen immer wieder diskutiert. Es lässt sich in diesem Zusammenhang folgende Auswertung des Projekts vornehmen bzw. folgende Erkenntnisse benennen:
1. Rollen und Aufgaben klären und zur Teamarbeit motivieren
Der spezifische Auftrag der drei Sozialarbeiterinnen wurde im Rahmen des Pilotprojekt recht schnell bestimmt: Sie sollen in den Pastoralteams vor allem den diakonischen Auftrag von Kirche professionell umsetzen. Das bedeutet, dass sie Gemeinschaft mit benachteiligten und ausgegrenzten Menschen suchen und so in den Mittelpunkt kirchlichen Engagements stellen sollen. Darüber hinaus sollen innerhalb der sich immer weiter verändernden Strukturen von Kirche die sogenannten Orte kirchlichen Lebens – Krankenhäuser, Kindertagesstätten, Schulen, Beratungsstellen, Altenheime sowie weitere Einrichtungen der Caritas – gerade durch die professionelle Kompetenz der Sozialarbeiter:innen stärker als bisher Teil des pastoralen Handelns werden.
Doch multiprofessionelle Teams lassen sich nicht so einfach ohne „Knirschen“ auf den Weg bringen. Alle hauptberuflich Tätigen sind im Rahmen der pastoralen Neuorientierung in besonderer Weise herausgefordert, ihre jeweiligen Berufs- und Aufgabenprofile weiter zu entwickeln und bisweilen auch neu zu füllen. Sie arbeiten in einem äußerst diffusen Verhältnis miteinander bzw. nebeneinander her. Sehr langsam und mit viel Geduld wuchsen die Sozialarbeiterinnen in ihre Rolle hinein: sie waren mehr und mehr bereit, mit Rollenzuweisungen umzugehen, sie zu korrigieren, sich in ihrer professionellen Funktion in Netzwerke einzubringen oder solche zu initiieren. Nach und nach entstand gegenseitige Anerkennung der neuen und alten Mitglieder im Pastoralteam, und zwar im Wesentlichen aufgrund der völlig neuen Akzente und nicht zuletzt auch der sichtbaren „Erfolge“, die die Sozialarbeiterinnen durch ihr Engagement im Sozial- und Pastoralraum erzielten.
Das Stichwort „Teamarbeit“ ist ein entscheidender Faktor bei der Vernetzung von pastoraler und Sozialer Arbeit. Im Berliner Pilotprojekt verlief der Einstieg der Sozialarbeiterinnen in die jeweiligen Pastoralteams zunächst sehr schwergängig oder anders formuliert: für die hinzukommenden Sozialarbeiterinnen unerwartet. Viel intensiver als die pastoralen Kolleg:innen – so jedenfalls die Rückmeldungen – setzt der sozialarbeiterische Habitus bzw. das sozialarbeiterische Professionsverständnis auf Teamarbeit. Sehr langsam wuchsen die Sozialarbeiterinnen in die Pastoralteams hinein und wurden insbesondere durch ihre neuen Impulse ernstgenommen. Die Mitglieder der Pastoralteams lernten durch das „Andere“ ihre eigene Rolle und ihre Aufgaben besser einzuschätzen, wenn nicht sogar innerhalb der Pfarrei inhaltlich und strukturell „einzuklagen“. Auf diese Weise wurden auch für die gemeinsame Arbeit erste Anzeichen für Weiterentwicklung und Transformation sichtbar.
2. „Nah bei den Menschen sein“ – inhaltliche Konkretisierungen umsetzen
Allen in der Pastoral Tätigen ist die Nähe zu den Menschen wichtig, sie alle wollen für die Bedürfnisse der Menschen da sein, den Menschen in der Gemeinde auf Augenhöhe begegnen, möglichst vielen Menschen beistehen. Damit verbunden ist das Gefühl von Verantwortung dafür, die Sorgen und Nöte der Menschen wahr- und ernst zu nehmen und dies in den verschiedenen Arbeitsbereichen der Pastoral zu berücksichtigen.
Der spezifische Ansatz der Sozialarbeiter:innen zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Nähe bei den Menschen professionstheoretisch sowie arbeitstechnisch sehr viel stärker über die klassischen Handlungsfelder der Gemeinde hinaus zu verwirklichen suchen. Sie setzen das konkret um, indem sie als Mitglied des Pastoralteams im Sozialraum Wohnungslose auf der Straße und in Notübernachtungsunterkünften besuchen, indem sie Menschen mit Behinderung in ihre Arbeit einbeziehen, indem sie Menschen beraten, die von Schulden betroffen sind, oder die Gewalt in der Familie erleiden. Sie tun das aus einem Professionsverständnis Sozialer Arbeit heraus, aber sie tun es jetzt eben auch als Mitarbeiterinnen der Kirchengemeinde.
3. Reichlich Kritikpunkte – und dennoch: Veränderungsstrategien gezielt angehen
Die Sozialarbeiterinnen haben während des Projektes immer wieder auf verschiedene Punkte hingewiesen: fehlende Struktursicherheit, mangelnde Gleichberechtigung und fehlende Mitbestimmungsmöglichkeiten, mangelnde Kompetenzberücksichtigung und Unterstützung durch Vorgesetzte, das immer schlechter werdende Image der Kirche, das Ungleichgewicht in der Teamarbeit und in den Leitungsstrukturen, die geringe Veränderungsbereitschaft, die ausbleibende Modernisierung, den fehlenden Mut, sich mit alternativen Projekten zu beschäftigen. Aber sie haben bei all diesen Kritikpunkten auch Reaktionsmöglichkeiten angeboten, indem sie auf aktive Bearbeitung und Umdeutung dieser Unzufriedenheitsfaktoren setzen. Damit lösen sie nicht die bekannten Strategie- und Hierarchiefragen in den Pfarreien und auch all die anderen oben genannten Aspekte. Aber der sozialarbeiterische Handlungs- bzw. das Professionsverständnis ermöglicht einen produktiven Umgang mit den Unzufriedenheitsfaktoren im Pastoral- und Sozialraum.
4. Retten Sozialarbeiter:innen die Pastoral?
Das wäre ein gut gemeinter Allgemeinplatz und würde nicht nicht alle dunklen Wolken vertreiben. Es wird in Zukunft darum gehen, im Blick auf ein Zusammenspiel von Sozialer Arbeit in der Pastoral präzise die professionstheoretischen Grundlagen für die Implementierung von Sozailarbeiter:innen in den pastoralen Dienst zu analysieren und zu definieren. Das Berliner Pilotprojekt beschreibt die momentane Situation, die Erwartungen, Hoffnungen und Ängste sowie auch die Visionen und bietet einige vertiefte Blickwinkel, Ansätze und Deutungsmuster sowie auch ein großes Potenzial an, um der notwendigerweise vernetzten Arbeit im Pastoral- und Sozialraum ein zukünftiges Gesicht zu geben.
In diesem Sinne hat das Erzbistum Berlin die drei Projektstellen im Anschluss an das Pilotprojekt verstetigt und eine ganze Reihe weiterer Stellen für Sozialarbeiter:innen in der Pastoral geschaffen. Man setzt also langfristig auf innovative Wege in der Pastoral.
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Prof. Dr. Axel Bohmeyer, Professor für Erziehungswissenschaft mit den Schwerpunkten Geschichte und Theorien von Bildung und Erziehung, Grundfragen der pädagogischen Anthropologie, Pädagogik der Lebensalter und Bildung und Partizipation an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB).
Prof. Dr. Andreas Leinhäupl, Professor für Biblische Theologie und Leiter des Berliner Instituts für Religionspädagogik und Pastoral (BIRP) an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin (KHSB).
Bild: https://www.erzbistumberlin.de/medien/pressestelle/aktuelle-pressemeldungen/pressemeldung/news-title/brueckenbauerinnen-das-pilotprojekt-soziale-arbeit-in-der-pastoral-hat-fahrt-aufgenommen-5528/
- Rainer Maria Kardinal Woelki: Wo glauben Raum gewinnt. Adventshirtenbrief 2012, Berlin 2012, S. 5. ↩
- https://www.erzbistumberlin.de/medien/pressestelle/aktuelle-pressemeldungen/pressemeldung/news-title/brueckenbauerinnen-das-pilotprojekt-soziale-arbeit-in-der-pastoral-hat-fahrt-aufgenommen-5528/ ↩
- Jahresbericht Erzbistum Berlin 2020, S.35 https://www.erzbistumberlin.de/fileadmin/user_mount/PDF-Dateien/Erzbistum/JB_2020_web.pdf. ↩