Der Zölibat hat keinen guten Stand derzeit. Was ändert sich mit der Kirche, wenn man ihn abschafft? Worin bestand einst sein großer Wert? Für einen tieferen Blick in die Geschichte plädiert Helmut Zander.
Wenn Revolutionen alltäglich werden, verlieren sie ihre Sprengkraft. Das ist dem Zölibat passiert. Aus Charisma wurde Institution. Den ersten Schlag erhielt das ehelose Leben in der lateinischen Kirche, als es zur Bedingung der Existenz als Priester wurde (nicht zuletzt, um die Freiheit der Kirche von weltlicher Herrschaft zu sichern). Der jüngste Schlag offenbarte, dass der Zölibat einen Weg in den Missbrauch von Kindern und die Vergewaltigung von Frauen geöffnet hatte. Seitdem darf man ja mit der Rückendeckung einer Richterin des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten die katholische Kirche eine „Kinderficker-Sekte“ schimpfen.
Der Zölibat war kein Lifestyle-Produkt, sondern Revolution.
Und jetzt soll man den Zölibat retten? Ja. Denn der Zölibat war die radikale Infragestellung von Volk, Stamm oder Clan, er war eine einzige Absage an die Abhängigkeit von Gesellschaft und Biologie. Das frühe Christentum hat diese Freiheit vom Reproduktionsgehorsam zu einer Option für alle gemacht. Im Kern heißt das: Verzicht auf den Zwang zur Zeugung von Nachkommen. Das war kein neues Lifestyle-Produkt in der Pluralisierung von Lebensformen, wie wir heute wohlwollend denken könnten, nein, das war Revolution.
Und das aus zwei Gründen: Erstens sicherten Kinder das Bestehen einer Gruppe, einer Ethnie. Fünf bis sechs Kinder, so vermuten Anthropologen, musste jede Frau angesichts vorneuzeitlicher Sterberaten zur Welt bringen, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Der Zölibat von Frauen war angesichts dieser Zwänge ein Luxus an Freiheit, Frauenklöster waren eine anarchische Institution. Der zweite Grund: das persönliche Überleben. Ohne Nachkommen waren die Versorgung bei Krankheit, im Alter und – für uns in seiner Bedeutung kaum noch begreifbar – ein gutes Begräbnis ein Vabanque-Spiel. Der Zölibat war mithin ein Hochrisikounternehmen. In der vorchristlichen Antike ein Ausnahmeprojekt, wurde der Zölibat in der frühen Kirche ein Ideal, das in den ersten drei Jahrhunderten eine atemberaubende Verbreitung fand.
Eine solches Lob auf die Verweigerung von Reproduktionspflichten wie im Christentum findet sich in keiner anderen Religion.
Christen waren damit religionsgeschichtlich krasse Außenseiter. Jüdin oder Jude wurde man bis ins zweite nachchristliche Jahrhundert in der Regel, weil man einen jüdischen Vater hatte, seitdem ist es in der Regel eine jüdische Mutter. Muslima oder Muslim wird man automatisch, wenn man einen muslimischen Vater, in Ausnahmefällen auch eine muslimische Mutter, besitzt. Konsequenterweisehaben weder Judentum noch Islam in so massivem Ausmaß wie das Christentum zölibatäre Lebensformen entwickelt. Die Zeugung von Nachkommen galt als Selbstverständlichkeit, als Reichtum und oft als Pflicht. Konsequenterweise finden sich in der Torah oder im Koran eine Vielzahl von Regelungen für dieses Feld, die im Neuen Testament fast komplett fehlen: Vaterschaft, Geschlechtsverkehr, Menstruation … Und ebenso konsequent hat sich in Judentum und Islam nirgendwo ein derartig großes Lob auf die Verweigerung von Reproduktionspflichten entwickelt wie im Christentum. Die Patriarchen des alten Israel und Mohammed waren ordentliche Väter mit vielen Kindern.
Eine der großen Freiheitserfindungen der Menschheitsgeschichte.
Im Christentum hingegen wurde der Zölibat hoch geschätzt und institutionell gestützt, sozial als Freiheit vom Zwang zur Reproduktion, spirituell als Möglichkeit, ganz für Gott und/oder für Menschen zu leben. Hier liegen die Motive, den Zölibat zu retten. Er ist eine der großen Freiheitserfindungen der Menschheitsgeschichte. Aber natürlich kann man solche Sätze nicht schreiben, ohne die Realität im Hinterkopf zu behalten, in denen man unter dem Mantel des Zölibats das genaue Gegenteil praktizierte: Äbte, die von der Familie das Amt als Klostervorsteher geerbt hatten, homosexuelle Beziehungen in Konventen, erzwungene Sexualität mit Frauen bis in höchste Kirchenkreise hinein (wie wir es seit einigen Jahren von einem der konzeptionellen Väter des Unfehlbarkeitsdogmas, Joseph Kleutgen, wissen). Und, nicht zuvergessen: Der Zölibat als Agent einer Körperfeindschaft, bei der die Verdammung von Sexualität und Frauenfeindschaft nur die Spitze eines Eisbergs bildeten. Viele Zölibatäre haben den Zölibat verraten, die Opfer darunter unsäglich gelitten.
Der Anfang vom Ende: die flächendeckende Einrichtung von Priesterseminaren!
Bittererweise, wie man sagen muss, sind das strukturell Erfahrungen, die wir seit Menschengedenken im Umgang mit Idealen machen. Aber diese Spannung dürfte sich im 19. Jahrhundert verschärft haben, insbesondere beim Priesterzölibat. Ein Grund war wohl die flächendeckende Einrichtung von Seminarien für die Priesterausbildung. Schon das Konzil von Trient hatte im 16. Jahrhundert angesichts mangelnder Bildung und im Interesse der Formierung eines sozialen Habitus diese Einrichtungen gefordert und dabei auch den Zölibat im Blick gehabt (ein Indiz für Probleme …).
Doch erst, als man nach der Französischen Revolution die lokalen Kirchenstrukturen vielerorts zertrümmerte, schlug die Stunde des Priesterseminars. Erst jetzt eröffneten sich die Möglichkeiten einer effektiven Kontrolle des Zölibats. Es spricht viel dafür, dass zuvor – aber die Quellenlage ist schwierig – Lebensgemeinschaften von Klerikern und Frauen bei Weltpriestern weit verbreitet waren. Man kann jedenfalls überlegen, ob das endemische Ausmaß des heutigen Missbrauchsskandals nicht auch eine Folge der hohen Verkirchlichung des 19. Jahrhunderts ist: mit seinen enormen Möglichkeiten der Kontrolle des Zölibats, zumindest im Blick auf Beziehungen zu Frauen.
Und dennoch: Die Praxis lief nur mühsam…
Dass der institutionalisierte Verzicht auf Sexualität oft nur mühsam funktionierte, war klar. Wie viele Priester sind ausgeschieden, weil sie realisierten, dass die Liebe zu einer Frau das größere Glück für sie bedeutete? Wie viele Bistümer hatten und haben eigene Kassen, um Alimente von Priesterkindern zu bezahlen? Wieviele Priester und Ordensleute haben ihr Glück in gleichgeschlechtlichen Beziehungen gesucht? Wann ist einigen Verantwortlichen klar geworden, dass der Missbrauch von Schutzbefohlenen die Folge des Missbrauchs sakralisierter Macht war? Und das bitte ich nicht als erhobenen Zeigefinger zu sehen, sondern als meine irritierte Frage, denn ich habe als Mitglied der katholischen Kirche mit Zölibatären – auch das gibt es – wirklich nur gute Erfahrungen gemacht und lange die irrwitzige Verbreitung des Missbrauchs nicht glauben können.
Den Zölibat retten – aber wie?
Und jetzt? Der Zölibat ist in der katholischen Kirche beschädigt, weil der Zwang seine Fundamente untergraben hat. Weil sakralisierte, institutionelle Macht und Zölibat eine toxische Verbindung eingegangen sind.[1] Aber es droht noch größeres Ungemach. Die zölibatäre Lebensform als solche droht in den Abgrund gezogen zu werden. Wer sich vom Reproduktionszwang befreit, kommt in den Geruch, ein Kinderschänder und Vergewaltiger zu sein, ein Feind seines Körpers, der oder die mit verdrängter Sexualität tendenziell pathologisch lebt. Dazu kommt eine Infragestellung der Legitimität zölibatären Lebens. Der Pflichtzölibat (wie es beschönigend oft heißt) ist nämlich alles andere als die einzige Normalität in der katholischen Kirche.
Lassen wir einmal beiseite, dass der erste „Papst“, Petrus, als Jude selbstverständlich ein verheirateter Mann war. Aber wenn protestantische Pfarrer Priester in der katholischen Kirche werden, bleiben ihre Ehen selbstverständlich bestehen. Wenn jemand zum Priester in einer der mit Rom unierten Kirchen geweiht wird, darf er selbstverständlich vorher heiraten, zumindest wenn er nicht Bischof werden möchte. Andere Kirchen, die protestantischen, orthodoxen oder orientalischen, leben mit verheirateten Pfarrern oder Priestern ganz gut – und die protestantischen sind selbst mit Pfarrerinnen nicht untergegangen. Allerdings dürfte ein Ende des allgemeinen Priesterzölibats die katholische Kirche in schwindelerregende Veränderungen stürzen, deren Folgen wohl niemand abzusehen vermag.
An der Freiheit führt kein Weg vorbei.
Wenn man den Zölibat retten will, muss Freiheit das alles entscheidende Kriterium werden. In der Umsetzung helfen soziale, soziologisch gesprochen: institutionelle Stützen. Beispielsweise Gemeinden, die ehelos (und nicht beziehungslos) lebende Priester – eines Tages Priesterinnen – emotional und lebensweltlich wertschätzen, weil sie im Zölibat die Freiheit einer Lebensform sehen, für die nicht jeder (etwa Menschen wie ich …) „gemacht“ ist. Auch Beziehungen helfen, für Zölibatäre ein wenig die Familie ersetzen.
Die katholische Kirche ist in unseren Breiten eine der wenigen Institutionen, die eine solche soziale Abstützung eines Lebensentwurfs bieten will. Unsere protestantischen Schwesterkirchen haben diese soziale Anerkennung weitgehend aufgegeben: Der Pfarrer im evangelischen Pfarrhaus ist seit der Hochzeit des Mönchs Martin und der Nonne Katharina das große Vorbild der Verbindung von Ehe und kirchlichem Amt; eine hohe soziale Wertschätzung der zölibatären Lebensform ist dort selten geworden. Aber auch der von Beziehungsnetzen abgefangene Zölibat kann nur funktionieren, wenn innere und äußere Freiheit zum absoluten Maßstab werden – und das kirchliche (also menschliche) Recht eine „Berufung“ nicht menschengemachten Grenzziehungen unterwirft.
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Helmut Zander ist Professor für Vergleichende Religionsgeschichte und Interreligiösen Dialog an der Universität Fribourg/Schweiz.
Bild: Markus Bäcker / pixelio.de
[1] Daniel Bogner, Ihr macht uns die Kirche kaputt!, in: Feinschwarz.net vom 16.10.2018, sowie: Gregor Maria Hoff: Kirche zu, Problem tot!, in: Kursbuch 196, März 2019, S. 26-41.