Andreas Heek, Leiter* der Arbeitsstelle Männerseelsorge der deutschen Bischofskonferenz und Koordinator* der Bundesarbeitsgemeinschaft für Queerpastoral in Deutschland bespricht das Buch „Die anderen Geschlechter. Nicht-Binarität und ganz trans* normale Sachen“ der Psychiaterin Dagmar Pauli.
Nicht-Binarität und trans* Identitäten werden seit einiger Zeit als gesellschaftliche Megatrends bezeichnet. Der soziologische Begriff Megatrend bezeichnet „langanhaltende und systemverändernde Entwicklungen mit globaler Ausprägung und einer Dauer von mehreren Jahrzehnten.“[1] Sie werden auch als „Tiefenströmungen des Wandels“[2] bezeichnet. Zwar können diese auch wieder vergehen, doch ist es wahrscheinlich, dass, je länger ein solcher Megatrend anhält und in seiner Globalität wirksam bleibt, dieser die Kultur dauerhaft prägen wird. Neben Erscheinungen wie Neo-Ökologie, Mobilität, Urbanisierung oder Konnektivität wird Non-Binarität in ihrer Bedeutung auf dieselbe Stufe gestellt. Der Megatrend, der die geschlechtliche Identität betrifft, heißt in soziologischer Terminologie treffend auch „Gender-Shift“, also das Verschieben der Geschlechterzuordnungen zwischen den Polen „männlich“ und „weiblich“.
Gender-Shift als Megatrend
Dagmar Pauli, Chefärztin und medizinisch-therapeutische Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universitätsklinik in Zürich bezeichnet in ihrem herausragenden Buch[3] die Phänomene von trans* Geschlechtlichkeit und Nicht-Binarität zwar nicht expressis verbis als Megatrend, doch eindeutig von der Sache her. Sie stellt aus ihrer fachlichen Perspektive als Kinder- und Jugendpsychiaterin die These auf, dass die intensive, selbstreflexive Beschäftigung mit der Identität in Bezug auf die eigene Geschlechtlichkeit eine neue Jugendbewegung sei, vergleichbar mit anderen Jugendbewegungen, z. B. in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Wie damals, könnte eine konservative Haltung eine solche Bewegung bekämpfen, was ja auch geschieht. Nach der Lektüre dieses Buches kann dies aber nicht die angemessene Haltung sein, um dem Phänomen zu begegnen, zumindest dann nicht, wenn die Lesenden* unvoreingenommen sind und sich mit der Neuheit tiefgreifender gesellschaftlicher Entwicklungen auseinandersetzen wollen. Denn hier geht es, wie schon damals, um Menschen, die erkennen, dass sie in die gängigen Strukturen nicht hineinpassen und nach neuen Freiräumen suchen – müssen. Denn diese sind nicht, folgt man dem Gedankengang des Buches, eine Frage der Wahl, sondern einer existenziellen Unbedingtheit.
nicht (be)lehrend, sondern lernend
Hier schreibt eine Ärztin mit langjähriger Erfahrung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie nicht als (Be)Lehrende und voraussetzungsreich Denkende, sondern eine zugewandte, zuhörende und – besonders bemerkenswert in der Selbstbeschreibung – als lernende Ärztin und Therapeutin. Trans* Geschlechtlichkeit , Non-Binarität, Homo- und Pansexualität, um nur einige Phänomene von Geschlechterdiversität zu nennen, unterliegen bei ihr nicht einer medizinischen („Da ist jemand krank“) oder biologistisch-verkürzten Betrachtungsweise („Es gibt nur Frauen und Männer“). Das, was die Klient*innen beschreiben, entsteht in ihnen selbst und entzieht sich somit einer objektiven Beurteilung von außen. Pauli kategorisiert nicht in „normal“, „krankhaft“, „therapierbar“ und „-notwendig“. Die psycho-somatischen Schwierigkeiten ihrer Klient*innen betrachtet sie nicht ursächlich aus der trans* Geschlechtlichkeit selbst. Vielmehr verstärken die gesellschaftlichen Exklusionen das Unwohlsein der Non-Konformität mit gängigen Geschlechtervorstellungen im Inneren im erheblichen Maße. Alles therapeutische Handeln zielt auf die Linderung bzw. Auflösung der Diskrepanzen – im Äußeren wie im Inneren der Person.
Auflösen der Diskrepanzen statt Kategorisierung
Bei allem reflektiert Pauli ihre eigenen Voreinstellungen, Meinungen, ihre gesellschaftlichen Prägungen und Ängste. Sie tut dies, indem sie sich auf die Klient*innen, vor allem Kinder und Jugendliche, einlässt. Sie will teilhaben an dem, was diese fühlen, wie sie etwas wahrnehmen, was ihr größter Schmerz ist. Danach versucht sie, Wege zu finden, wie die Inkongruenz im Inneren des*der Klient*in gelindert oder beseitigt werden kann. „Affirmatives Zuhören“ heißt diese besonders anspruchsvolle therapeutische Haltung. Sie bedeutet aber keinesfalls, dass alles „gemacht“ wird, was die Jugendlichen im Augenblick wünschen. Die Zeit darf und soll mitarbeiten. Das heißt, es finden viele Gespräche mit Betreffenden* statt, aber auch mit Eltern und Zugehörigen. Alles findet Beachtung. Aber im Mittelpunkt steht immer die betreffende Person selbst. Lösungen werden gesucht, unmittelbare wie z.B. eine soziale Transition, indem die Person eine Zeitlang performativ als ein anderes, als das bei der Geburt zugeordnete Geschlecht lebt. So wird ausprobiert, ob sich damit Depressivität und Körperdysphorie lindern lassen. Es wird reflektiert, abgewogen und beraten. Affirmativ heißt für Pauli: möglichst nah bei der betreffenden Person zu bleiben.
affirmatives Zuhörens als seelsorgliche Haltung
Nichts wird in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) – dem Arbeitskontext von Pauli – kategorisch ausgeschlossen: weder Pubertätsblockade-Medikamente, damit kurz vor der Pubertät etwas Zeit vor einer möglichen körperlichen Transition gewonnen wird, noch geschlechtsangleichende hormonelle Gaben oder operative Maßnahmen. Es gibt keine Tabus, aber auch keine Zwangsläufigkeit für einen einmal eingeschlagenen Weg. Sogar Rückwege, sogenannte De-Transitionen, werden nicht als Scheitern oder gar als „Beweis“ für die Falschheit der ursprünglichen Entscheidung betrachtet, sondern als Station auf einem Weg. Deshalb wird im Vorfeld intensiv darüber gesprochen, welche zum Teil massiven Auswirkungen eine Transition auf den Körper und das sexuelle Empfinden haben (können). Wie gesagt: Nichts wird tabuisiert, ausgeblendet oder schöngeredet.
Nichts tabuisieren, ausblenden oder schönreden
Dagmar Pauli legt in ihrem Buch besonderen Wert auf eine präzise Sprache. Nicht nur beim achtsamen Respekt vor der geschlechtlichen Selbstbeschreibung und -bezeichnung der Kinder und Jugendlichen, sondern auch bei Fachbegriffen. Das Glossar am Ende des Buches ist hervorragend! Nie würde sie z.B. von Geschlechtsumwandlung sprechen, denn dieser Begriff geht davon aus, dass es einen Wunsch gäbe, ein anderes Geschlecht zu werden. Das Gefühl, in einem nicht-kohärenten Körper zu sein als eine Tatsache zu betrachten, eine unbedingte Vorfindlichkeit, ist Ausgangspunkt aller Gespräche und Maßnahmen. Pauli versucht, sozusagen mit den Augen der Betreffenden zu schauen, um dabei zu helfen, dass diese mehr sie selbst werden können.
trans*identität als Tatsache
Mich stimmt das Buch als katholischer Theologe* und Beauftragter* für LSBTIQ*-Pastoral in der Kirche von Deutschland nachdenklich. Denn die bisherigen Einlassungen der offiziellen Kirche zu dieser Thematik sind erheblich unterkomplex. Die bisherigen Ansätze der Pastoral haben noch einen weiten Weg der Sensibilisierung vor sich. Denn eigentlich beschreibt Dagmar Pauli das Ideal einer seelsorglichen Haltung, die den Menschen annimmt, wie er* erscheint, ja, einer seelsorglichen Haltung, die „das Herz der Kirche“ ausmachen sollte, wie ein offizielles Wort der Deutschen Bischöfe betitelt ist.[4]
Aber leider wird lehramtlich grundsätzlich, wenn es um die Bewahrung des binären Geschlechterverständnisses geht, ideologiegeleitet gesprochen und manchmal manipulative Handlungsanweisungen empfohlen (Konversionsbehandlungen). Nicht der gender-theoretische Diskurs in den Geisteswissenschaften ist eine Ideologie, wie das kirchliche Lehramt behauptet. Vielmehr ist der Kampf gegen die Erweiterung des Spektrums zwischen „schwarz“ und „weiß“ in Sachen Geschlecht, wie das kirchliche Lehramt in Teilen ihn befeuert, eine Ideologie. Es scheint mitunter so, dass die Vertreter*innen dieses Kurses bereit sind, man muss es leider so drastisch sagen, über Leichen zu gehen. Denn eines wird durch jede Zeile dieses sorgsam geschriebenen, empathischen Buches deutlich: Wird nicht auf die Notwendigkeit zur Veränderung bei der geschlechtlichen Identitätssuche von Kindern und Jugendlichen eingegangen, riskiert man, dass diese, sofern sie Opfer einer solchen Anti-Gender-Ideologie werden, sich tatsächlich das Leben nehmen oder zumindest in eine dauerhafte Situation der Agonie geraten.
Bedeutung offener Genderdiskurse
Als ich vor einiger Zeit das Buch von Lydia Meyer „Die Zukunft ist nicht binär“ gelesen und besprochen habe, bekam ich schon eine Ahnung davon, wohin die Entwicklung der Selbstreflexion der zwei jüngeren Generationen „Millennials“ und „Z“ in Teilen gehen wird, und zwar als schlichte Tatsache und das heißt, als vollkommen unideologische Betrachtung der Frage nach Geschlechtlichkeit. Wer bereit ist, „die Jungen“ ernst zu nehmen und sie nicht für ihre „ungehörigen“ Phantasien, ihren Vorstellungen eines freieren Lebens, hier: frei von den gängigen Geschlechterkategorien, zu verurteilen, der kann darin das Potential christlicher Anthropologie entdecken, die vor allem eines will: das Heil, die Unversehrtheit und das Glück eines jeden Menschen.
Dagmar Pauli sei Dank für ihre allerwichtigsten Beschreibungen und Analysen – und für ihre menschliche Zugewandtheit, die für die katholische Kirche nicht anders als instruktiv bezeichnet werden kann. Bitte lesen Sie dieses Buch!
Dr. Andreas Heek, Arbeitsstelle für Männerseelsorge und Männerarbeit in den Deutschen Diözesen. Koordinator der Bundesarbeitsgemeinschaft für Queerpastoral in den Deutschen Diözesen.
Photo: ZdK/ Peter Bongard
Beitragsbild: Buchcover
[1] Vgl. https://www.baks.bund.de/de/aktuelles/methoden-zur-strategischen-vorausschau-megatrends.
[2] Vgl. https://www.zukunftsinstitut.de/zukunftsthemen/megatrends.
[3] Dagmar Pauli, Die anderen Geschlechter. Nicht-Binarität und ganz trans* normale Sachen, München: C.H. Beck 22024.
[4] Vgl. https://www.dbk-shop.de/media/files_public/b2ef0c90154a7ca99c98aa57df720f88/DBK_11110.pdf.