Das Buch „Ganz familiär. Die Bischofssynode 2014/2015 in der Debatte“ präsentiert Rückblicke aus unterschiedlichen theologischen Disziplinen auf die abgelaufene Familiensynode und das Schlussdokument „Amoris Laetitia“. Jochen Sautermeister gibt einen Einblick in das breite Spektrum der Perspektiven.
Ganz familiär – so ist es gewiss nicht immer während des synodalen Prozesses zu Fragen einer evangeliumsgemäßen und wirklichkeitsgerechten Ehe- und Familienpastoral zugegangen, der mit dem nachsynodalen Apostolischen Schreiben Amoris Laetitia von Papst Franziskus einen vorläufigen Abschluss gefunden hat; familiär zumindest dann nicht, wenn man unter „familiär“ jene harmonische und übersichtliche Vertrautheit und Behaglichkeit verbindet, die gleichsam harmlos oder scheu nichts von innerfamiliären Konflikten weiß oder sich darauf versteht, ungute Familiengeheimnisse, destruktive Beziehungsdynamiken oder nicht aufgearbeitete Konflikte, Kränkungen und Schuldverstrickungen unter den Teppich zu kehren. Steht „familiär“ jedoch für jene Qualität von gelebten Familienverhältnissen, die als Kraftquelle, als Refugium, als Entwicklungs- und Inspirationsraum für erlebte Sinnhaftigkeit in Gemeinschaft wie auch im Angewiesensein auf Andere vermittelt, dann lässt sich davon doch einiges im synodalen Prozess und vor allem im nachsynodalen Schreiben Amoris Laetitia wiederfinden.
Auf der Bischofssynode ging es in einem sehr realistischen Sinn „ganz familiär“ hin und her.
Der „Ganz familiär“ überschriebene Band, der von Julia Knop und Jan Loffeld herausgegeben wurde, widmet sich zentralen Debatten und Fragestellungen der Familiensynode. Bezogen auf den synodalen Prozess von seinen Anfängen im Jahre 2013 bis hin zum nachsynodalen Apostolischen Schreiben Amoris Laetitia (8. April 2016) werden zentrale Themen, Konfliktlinien, Deliberations- und Kommunikationsformen, Ergebnisse und Perspektiven rekonstruiert, analysiert und reflektiert, so dass die Publikation damit einen aktuellen Beitrag zur theologischen und kirchlichen Debatte liefert. Der Band ist aus einem Studientag im Sommer 2015 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster erwachsen, wobei die schriftlichen Beiträge zudem Amoris Laetitia berücksichtigen konnten, und bildet hinsichtlich der Autorinnen und Autoren ausnahmslos das Münsteraner Spektrum ab.
Rückblicke auf Bischofssynode und Amoris Laetitia
Nach einer sehr differenzierten und ausgewogenen dogmatisch-theologischen Kommentierung des nachsynodalen Apostolischen Schreibens Amoris Laetitia im Beitrag von Julia Knop folgen vier Beiträge, die dem ersten Teil des Bandes „Ort und Ereignis, Prozess und Diskurs“ zugeordnet sind. Jan Loffeld unternimmt eine Analyse des Prozessverlaufs und identifiziert verschiedene theologische Erkenntnisorte; mit der wiedergewonnenen theologalen Bedeutung des Gewissens für die Familienpastoral verbinden sich Loffeld zufolge „Aggiornamento und Ressourcement“ (S. 62), die beiden Prinzipien, die bereits für das II. Vatikanum maßgeblich waren. Norbert Köster arbeitet anschaulich und überzeugend heraus, wie sich das synodale Vorgehen und Verhalten von Papst Franziskus mithilfe der ignatianischen Weise der Entscheidungsfindung verständlich machen lässt. Im Sinne einer nüchternen kirchenrechtlichen Realistik zeigt Thomas Schüller auf, welche kanonischen Perspektiven sich im Anschluss an Amoris Laetitia ergeben könnten und was sich dem Anliegen der Synode zufolge zumindest in kleinen Schritten auf neuen Wegen ändern müsste. Schließlich analysiert Klaus Müller pointiert zum Teil sehr heterogene mediale Strategien im Kontext der Familiensynode (von defensiv bis aggressiv, S. 97); zugleich zeigt er den Einfluss der deutschsprachigen Gruppe bis in das nachsynodale Schreiben und wirft das Problem überdehnter Autoritätsansprüche auf.
Eine Vielzahl an Perspektiven
Im zweiten mit „Themen und Perspektiven“ überschriebenen Teil werden zuerst von Marie-Therese Wacker ausgewählte Passagen des Instrumentum Laboris, der Relatio Finalis und von Amoris Laetitia hinsichtlich biblischer Bezüge zur Ehe- und Familienthematik diskutiert, wobei vor allem Bruchstellen, die scheinbar selbstverständliche Sinnaussagen irritieren, thematisiert werden; der Beitrag endet mit der gender-sensibilisierten Frage, „ob sich überhaupt katholische Männer“ auf den von Papst Franziskus empfohlenen „im Rahmen der traditionellen katholischen Geschlechterontologie sofort unter Feminisierungsverdacht geratenden“ Weg der neuen Zärtlichkeit „einlassen werden“ (S. 126). Dorothea Sattler behandelt hingegen die Thematik Ehe und Familie aus ökumenisch-theologischer Perspektive und legt bei allen lehrmäßigen Differenzen schließlich den Fokus auf gemeinsame christliche Handlungsoptionen in der Pastoral, nämlich „für ein diakonales Dasein in der Nachfolge Christi einzutreten“ (S. 133). Überlegungen von Eva Polednitschek-Kowallick zu einer Pastoral der Ehevorbereitung als Sakramentenkatechese im Anschluss an Amoris Laetitia schließen die Publikation ab.
Fragen zur Rezeption von Amoris Laetitia durch die katholischen Gläubigen
Die versammelten Beiträge bilden ein lesens- und bedenkenswertes Spektrum an Reflexionen und Perspektiven, Einwänden und Angeboten zum vertieften und differenzierten Verstehen dessen, was im synodalen Prozess geschehen ist, welche theologischen Herausforderungen und Anstöße daraus folgen können und was als Basis für das weitere pastoral-theologische (Auf-)Arbeiten im Feld von Ehe und Familie ansteht. Wie in normalen Familien gibt es neben lauteren auch eher leisere, neben diplomatisch-behutsamen auch positioniert-pointierte bzw. dekuvrierende Stimmen, ohne dass deshalb die Sorge bestehen müsste, die familiäre Zusammenkunft würde dadurch gesprengt werden – zumindest dann nicht, wenn man bereit ist, sich auf die unterschiedlichen Beobachtungen, Argumente und Begründungen einzulassen.
Noch fehlende Stimmen am Familientisch
Beeindruckend ist, in welch kurzer Zeit der Band nach dem Erscheinen von Amoris Laetitia erscheinen konnte. Das ist ein großes Verdienst der beiden Herausgeber wie auch der Autorinnen und Autoren. Und wie es bei manch rasch einberufenen Familienversammlungen auch der Fall sein kann, sind leider nicht immer alle Mitglieder der Familie dabei, die eigentlich auch etwas beizutragen hätten. So wünscht man sich, dass bei dieser Thematik auch inhaltlich vertiefende Beiträge aus dezidiert pastoraltheologischer und moraltheologischer Perspektive aufgenommen wären. Letztere hätten etwa darauf insistiert, dass ein realistischer Blick auf die Lebenswirklichkeit von Paarbeziehungen (S. 29f.) ein konstitutives Element des theologisch-ethischen Zugangs ist. Praktisch-theologisch müssten beispielsweise die pastoralen Lebenswirklichkeiten von familialen Lebensformen als theologische Erkenntnisorte für dogmatische Neuentdeckungen thematisiert werden. So wird man mit Spannung auch Publikationen aus den Bereichen der Pastoraltheologie und der Moraltheologie warten. Mit dem vorliegenden Band wurde ein starker Aufschlag gemacht; wenn andere Veröffentlichungen dieses Niveau halten, lässt sich auf eine weiterführende theologische Debatte nach der Debatte hoffen.
Das Buch:
Julia Knop / Jan Loffeld (Hg.), Ganz familiär. Die Bischofssynode 2014/2015 in der Debatte. Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2016, 152 S.
Jochen Sautermeister, Inhaber des Lehrstuhls für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn und Inhaber der Stiftungsprofessur für Moraltheologie unter besonderer Berücksichtigung der Moralpsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München