Dorothea Wojtczak, Referentin für Wissenschaft & Glaube an der KSHG in Münster, rezensiert Adrian Loretans neu erschienene Monografie „Wahrheitsansprüche im Kontext der Freiheitsrechte. Religionsrechtliche Studien 3“, 2017 im Theologischer Verlag Zürich erschienen.
Ein Plädoyer für die theologischen Wahrheitsansprüche der Kirche im Kontext der modernen Rechtswissenschaften hält Adrian Loretan in seiner Monographie „Wahrheitsansprüche im Kontext der Freiheitsrechte“. Hierbei hinterfragt der Autor neben tradierten Rollenmustern eine rein fideistische, d.h. den Glauben als Erkenntnisgrundlage nehmende, Sichtweise der Kirchenrechtswissenschaft. Sein Ziel ist, den interdisziplinären Dialog der heutigen Kanonistik mit den Rechtswissenschaften fortzusetzen und neue Denkmodelle entstehen zu lassen, die zur Lösung der aktuellen Probleme wie beispielsweise die Geschlechtergerechtigkeit und die öffentlich-rechtliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften beitragen können.
Mit den Worten „[e]ine unumkehrbare Entwicklung ist in Gang gesetzt, die das gesellschaftliche Wertebewusstsein und das Rechtsempfinden prägt“ (251), beginnt Loretan den Ausblick seiner Monographie.
„Wie ist der Wahrheitsanspruch im Kontext der modernen Freiheitsrechte zu denken?“
Zuvor stellt er in einem Grundlagenteil eine Einführung in die Thematik der Freiheitsrechte als Kriterium vor. Hierin buchstabiert er die Freiheitsrechte als Kriterium des Sozialismus, des Christentums und des schiitischen Islams aus. Anschließend geht er auf die Problematik des Fundamentalismus als Antwort auf die Freiheitsrechte unter der Ausdifferenzierung von religiösen sowie säkularen Weltanschauungen ein. Er lässt sich von folgender Frage leiten: „Wie ist der Wahrheitsanspruch im Kontext der modernen Freiheitsrechte zu denken?“ (13) Schließlich sei es das Ziel des modernen Verfassungsstaates, ein friedliches Nebeneinander verschiedener Religionsgemeinschaften zu ermöglichen. Loretan kommt zu dem Ergebnis, dass die Ablehnung der Freiheitsrechte durch Religionsgemeinschaften und moderne Ideologien, die er mit dem Begriff des Fundamentalismus zusammenbringt, ein Problem der gesamten Welt darstellen.
In einem weiteren Kapitel fragt Loretan, wie Religionsgemeinschaften, die wesentliche, auf der Würde der Person basierende Freiheitsrechte ablehnen, die moralischen Grundlagen eines Staates begründen sollen.
Ausgangspunkt: katholische Kirche
Sein Ausgangspunkt ist der Blick auf die katholische Kirche: Auf Grundlage der Konzilserklärung „Dignitatis humanae“, die vom Staat keine Durchsetzung ihres eigenen Wahrheitsanspruches mehr einfordert und die Würde eines jeden Menschen bekräftigt, kann eine mit Papst Paul VI. begonnene Rechtsentwicklung fortgesetzt werden. Loretan beschreibt einen Paradigmenwechsel: Das mittelalterliche Konzept der Verankerung des Rechts in einer ewigen unveränderlichen göttlichen Weltordnung wird mit dem Zweiten Vaticanum durch die Verankerung des Rechts in der sittlichen Würde der menschlichen Person abgelöst.
Paradigmenwechsel: Zweites Vatikanisches Konzil
Freiheitsrechte finden sich sowohl im staatlichen Recht als auch im positiven Recht der katholischen Kirche, das Bestandteil der europäischen Rechtskultur ist. (70) Hierin gilt es, an die eigene naturrechtliche Tradition anzuknüpfen, die sich schon im Traktat des Bartolomé de Las Casas (1484–1566) findet. Für Loretan steht fest: „Der Beitrag des Kirchenrechtlers Las Casas für die rechtstheoretische Naturrechtsargumentation ist […] aufgezeigt. Die Klassiker des Naturrechts […] haben zum universalen Weltrechtskulturerbe (Grundlagen der Menschenrechtsargumentation) beigetragen.“ (93) Auch wenn diese grundlegende Menschenrechtsargumentation in die „Lex Ecclesiae Fundamentalis“ als Grundgesetz von 1965 von Paul VI. in Auftrag gegeben worden ist, scheiterte dessen Inkrafttreten an Johannes Paul II., der mit der Promulgation des Codex Iuris Canonici noch immer von einem schrankenlosen Vorbehalt zugunsten der kirchlichen Autorität ausgeht. Die Grundrechte der Kirche sind keine Grundrechte im strikten Sinne. (122)
Die Grundrechte der Kirche – keine Grundrechte im strikten Sinne?
Loretan zieht ein kritisches Resümee für sein erstes Kapitel: „Ein Rechtsstaat […] schützt die freiheitliche Selbstbestimmung des Individuums (Autonomie) im Grundrechtskatalog der Verfassung. (1) Die katholische Kirche ist beim ersten Versuch der schöpferischen Transformation der Freiheitsrechte in ihre Verfassung gescheitert. (2)“ (143) Eine Neubestimmung des Verhältnisses zum liberalen Staat, zu anderen Religionsgemeinschaften und zur zunehmend säkularen Gesellschaft wird ihre Herausforderung und die Herausforderung für alle Religionsgemeinschaften sein.
Herausforderung: Pluralismus
Im zweiten Kapitel des ersten Teils zeigt Loretan auf, dass der Pluralismus für die Religionsgemeinschaften nach innen und äußerlich für die staatlichen Verfassungen eine neue Herausforderung darstellt. In Anlehnung an John Rawls wird gefragt, „[w]ie kann eine stabile und gerechte Gesellschaft freier und gleicher Bürger, die durch vernünftige und gleichwohl einander ausschliessende religiöse, philosophische und moralische Lehren einschneidend voneinander getrennt sind, dauerhaft bestehen?“ (158) Die drei tendenziell unterschiedlichen Hermeneutiken – kommunitaristischer, feministischer und liberaler Ansatz – um die Frage nach der Toleranz innerhalb der Religionsgemeinschaften zu beantworten, entfaltet Loretan unter Rekurs auf Michael Walzer, Gertrud Heinzelmann und Will Kymlicka. Um Lösungsansätze aus den staatlichen Verfassungen zu ziehen, verweist er auf Gruppenrechte als derivates, d.h. abgeleitetes, Recht und auf das Verhältnis von Assimilation und Differenz.
Individuelle Religionsfreiheit als Voraussetzung für den gesellschaftlichen Frieden.
In einem weiteren Unterkapitel stellt Loretan die vordenkerische Leistung des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn dar. Mendelssohns Ansatz von individuellem Rechtsverhältnis von Religion und Recht sowie von individueller Religionsfreiheit dient dem Autor als Aufweis dafür, dass individuelle Religionsfreiheit als Voraussetzung für den gesellschaftlichen Frieden gelten muss. Ebenso ist individuelle Religionsfreiheit für alle bei gleichzeitiger Anerkennung als Staatsbürger*innen zu fordern. Wenn der Staat individuelle Religionsfreiheit garantiert, kann er sein eigenes Fortbestehen erhalten. (171) Loretan verweist unter Rekurs auf Mendelssohn darauf, dass dieser bereits 1783 den Gedanken der Vielfalt der Religionsgemeinschaften entfaltet hat, die er mit einer heute sehr aktuellen Frage schließt: „Wie kann der Religionsfriede in einer multireligiösen Gesellschaft staatsrechtlich gedacht werden?“ (184)
„Wie kann der Religionsfriede in einer multireligiösen Gesellschaft staatsrechtlich gedacht werden?“
Die Idee Mendelssohns ist die Voraussetzung für das Grundrecht der individuellen Religionsfreiheit in staatlichen Verfassungen und dafür, dass das religiöse und säkulare Gewissen einer jeden Person ins Zentrum allen Denkens über Religionsfreiheit gerückt ist. Loretan fasst zusammen: 1783 schlug die Geburtsstunde der individuellen Religionsfreiheit. (189)
Der zweite Teil der Monographie Loretans beschreibt eine Analyse der Folgen, die eintreten, sobald der liberale Rechtsstaat den Religionsgemeinschaften sein Recht zur Einübung der Freiheitsrechte zur Verfügung stellt. Der Autor liefert Argumente für eine öffentliche oder öffentlich-rechtliche Anerkennung des Islams in schweizerischen Kantonen aus dem Blickwinkel des schweizerischen Religionsverfassungsrechtes und staatliche Impulse für die Geschlechtergerechtigkeit in Religionsgemeinschaften.
Öffentlich-rechtliche Anerkennung des Islam in schweizerischen Kantonen? Geschlechtergerechtigkeit in Religionsgemeinschaften?
Loretan versteht die öffentlich-rechtliche Anerkennung einer Religionsgemeinschaft nicht als Verleihung eines privilegierten Status, der mit einer gesellschaftlichen Säkularisierung sowie mit der religiösen Pluralisierung zunehmend unter Druck gerät, sondern als Verpflichtung der Religionsgemeinschaft zu den Freiheitsrechten, als normative Verpflichtung auf die Verfassung. So kann der Dialog zwischen der Normativität des Rechtsstaates und den Normativitäten der Religionsgemeinschaften institutionalisiert werden. (193) Der Autor fügt hinzu, dass es ihm bei der Darlegung der Analyse nicht um das Verfolgen politischer Strategien gehe, sondern vielmehr um eine Information über die Rechte religiöser Menschen und die Rechte der Religionsgemeinschaften. Loretan spricht sich für eine öffentlich-rechtliche Anerkennung von Religionsgemeinschaften wie der islamischen in der Schweiz vor dem Hintergrund des Integrationsprozesses in die Gesellschaft und in ihre Rechtsstrukturen aus, damit derartige Gemeinschaften nicht in die Hinterhöfe verdrängt werden, wodurch Parallelgesellschaften gefördert würden, die wiederum moderne, pluralistische Gesellschaften und liberale Rechtsstaaten ablehnen. (200) Dennoch stellt er für den Islam fest: es handelt sich um „eine Religion mit einer geringen Organisationsdichte“, dem ein „System der Mitgliedschaft“ fehle.
Religionsfreiheit und Diskriminierungsverbot
Im letzten Kapitel des zweiten Teils stellt Loretan die These vor, „die Religionsfreiheit werde dem Diskriminierungsverbot vorgezogen und schränke damit andere Grundrechte sehr stark ein“ (223). Mittels dieser Aussage verweist er auf eine Diskussion aufgrund derer vielen Menschen zum Austritt aus einer Religionsgemeinschaft geraten wird. Doch grenze diese Diskussion, so Loretan, an „Zynismus, den Menschen nur den Austritt, das Exil, anzuraten, ohne zu prüfen, wie die Freiheitsrechte in den Religionsgemeinschaften von staatlicher Seite gestärkt werden könnten“. (224) Er zeigt jedoch keinen Lösungsweg auf, wie diese scheinbar unauflösbaren Konflikte zwischen kollektiver Religionsfreiheit und Geschlechtergleichstellung gelöst werden könnten. In einem juristischen Teil gibt er einen Einblick in einige Gleichstellungsnormen, auch wenn er sich auf nationale (schweizerische) Regelungen beschränkt. (234) In einem kanonistischen Teil übt der Autor Kritik an der katholischen Kirche, die das Gleichstellungsanliegen partiell mitgetragen als auch abgelehnt hat. Sein Verweis geht über die Enzyklika „Pacem in terris“, die Konstitution „Gaudium et spes“, das Apostolische Schreiben „Ordinatio sacerdotalis“, das Motu proprio „Ad tuendam fidem“ zum nachsynodalen Schreiben „Amoris laetitia“. Im interdisziplinären Teil des Kapitels befragt Loretan einerseits den Staat und andererseits die Kirche nach Konfliktfeldern, die sich aus der geschlechterbedingten Nichtzulassung zu den geweihten und damit höheren Ämtern ergeben können. Loretan schließt daraus, dass „im staatlichen Recht […] der Ausschluss der Frauen von vielen wichtigen Leitungsämtern der Kirche eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts [ist], die aber aufgrund der Güterabwägung mit der kollektiven Religionsfreiheit bisher geduldet wird“ (252).
zur aktuellen Lage der Religionsgemeinschaften und des Religionsverfassungsrechts
Zusammenfassend hält er fest, dass Grundrechte nicht nur zwischen Staat und Individuum zu gelten haben, sondern auch gegenüber Privaten (wie der Kirche), weshalb er eine Antwort auf seine eingangs gestellte Frage gibt, wie Wahrheitsansprüche im Kontext der modernen Freiheitsrechte zu denken seien.
Adrian Loretan behandelt viele religionsverfassungsrechtliche und kanonistische Themen, die aufgrund ihrer inhaltlichen Dichte nur skizziert werden können. Diese Tatsache führt dazu, dass er sowohl einen Einblick in die Freiheitsrechte gibt als auch ihre Umsetzungsmöglichkeiten aufzeigt. Hierbei weist er zudem auf Forschungsdesiderate hin, die heute mehr als aktuell sind. Insofern wendet sich diese Monographie nicht an kundige Kanonist*innen, sondern ebenso an Einsteiger*innen in die (Kirchen-)Rechtswissenschaften und an rechtlich sowie theologisch und philosophisch interessierte Menschen, die an der aktuellen Lage innerhalb der Religionsgemeinschaften und des Religionsverfassungsrechts interessiert sind. In jeden Fall ist es ein Buch, das mit seiner inhaltlichen Dichte sowie durch seine präzise und differenzierte Darstellung überzeugt.
Text: Dorothea Wojtczak, Mag. theol., ist Referentin für Wissenschaft & Glaube an der KSHG in Münster.
Bild: Theologischer Verlag Zürich
Buch: Loretan, Adrian: Wahrheitsansprüche im Kontext der Freiheitsrechte. Religionsrechtliche Studien 3, Zürich 2017. ISBN: 978-3-290-20159-3, 308 S., 50,00€