Zur Einstimmung auf die «Rilke-Jahre» 2025 und 2026 macht Tom Sojer auf Entwicklungen in dessen Denken und Schreiben aufmerksam. Mit der These «Rilke war ein Radikaler» ergänzt und präzisiert er zudem die verbreitete Vorstellung von Rilke als «Poeten der Innerlichkeit».
2025 wäre Rainer Maria Rilke 150 Jahre alt geworden, 2026 jährt sich sein Todestag zum 100. Mal. Dies doppelte Jubiläum fordert dazu auf, Rilke neu zu lesen. Oft wird er als zarter Sänger von Sehnsucht und Engeln verklärt, als Dichter der leisen Töne. Doch diese Lesart greift zu kurz. Rilke war ein Radikaler. Hinter der Schönheit seiner Worte lodert eine unerbittliche Intensität – die Suche nach der Wahrheit des Seins. Nichts zeigt das deutlicher als folgende Worte: „Ich lerne sehen.“ Der Satz aus den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) ist ein Abgrund. Er erschüttert das Fundament unserer Wahrnehmung, fordert uns heraus, die alltägliche Optik zu zerbrechen. Sehen wird hier zum Akt der Existenz, kein bloßes Wahrnehmen, sondern ein gefährliches Eindringen in die Tiefen der inneren Welt. Wer den Satz wirklich begreift, riskiert, die vertraute Wirklichkeit hinter sich zu lassen.
Zu den Dingen selbst – Lehrjahre bei Rodin
Bereits in den Neuen Gedichten (1907) sucht Rilke nach einer Poetik, die präzise Beobachtung und eine Sprache vereint, die Dinge in ihrem Innenleben sichtbar macht. Die Begegnung mit Auguste Rodin wird zum Wendepunkt: In Rodins Plastiken erkennt Rilke, wie eine Form nicht durch Verzierung, sondern durch das intensive Ringen mit dem Material zu ihrer Wahrheit findet. Diese Disziplin übersetzt er in seine Gedichte. „Der Panther“ ist mehr als eine Beschreibung; es ist eine Begegnung mit dem Wesen eines Raubtiers, mit seiner gebändigten Wildheit, die durch den Käfig „hindurchzuspüren“ ist – kraftvoll, unabwendbar. Rodins Schule des Sehens wendet Rilkes Blickrichtung. Er beginnt, die Dinge nicht nur zu betrachten, sondern sie so zu erfassen, dass sie in der Sprache eine eigene, innere Wirklichkeit finden. Der Apollonische Torso und eine Rosenschale werden in seiner Ding-Lyrik zu Trägern einer Präsenz, die über das Sichtbare hinausweist. Seine Worte verhüllen und enthüllen zugleich, lenken den Blick zum Ungesehenen. Doch Rodin zeigt ihm auch, dass ein klarer Blick keine Schonung kennt. Die Einsicht wird entscheidend, als Rilke in die Großstadt eintritt, in die Orte des Verfalls und der Härte, wo die Verwundbarkeit des Lebens offenliegt.
Malte Laurids Brigge: Die Wendung
Eine weitere Wende markiert Rilkes Roman Malte Laurids Brigge. Malte, ein junger Mann in den Straßen von Paris, schreibt: „Ich lerne sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt … es geht alles tiefer in mich ein.“ Der Satz ist ein Schlüssel. Rilke zeigt, dass Sehen nicht bloßes Erkennen ist. Die Welt dringt ins Innere, erschüttert es und hinterlässt Narben. Doch damit ist es nicht getan. Wer so sieht, wird verändert zurückgeworfen in die Wirklichkeit – gezwungen, neu zu sprechen, neu zu schreiben, neu zu leben. Die Welt in Malte Laurids Brigge ist bedrückend, atemlos: der Gestank des Elends, die Sinnlosigkeit des Sterbens. Das reine Hinschauen, wie es Rilke aus seiner Ding-Lyrik kannte, genügt hier nicht mehr. Er sieht nicht nur Dinge, sondern das „Zuviel“ einer entfremdeten, beschleunigten Welt. Dafür ringt er um eine Sprache, die das Unsägliche und Unerträgliche hinter den sichtbaren Oberflächen erfasst. Der Tod lauert an jeder Ecke. Rilke zeigt, dass Sehen immer auch bedeutet, die Dunkelheit zu begreifen – als Teil des Lichts, das sie erst hervorbringt.
Wahrnehmung als vielschichtiger Prozess
Zwischen 1908 und 1913 spürt Rilke auf Reisen, wie ihn die Eindrücke überwältigen. In Briefen klagt er, dass die äußeren Reize ihm wehtun, als könne er sie nicht verarbeiten. Doch statt sich abzuwenden, erkennt er: Wahrnehmen ist kein passives Sehen, sondern ein vielschichtiger, fordernder Prozess. Er will nicht nur schauen, sondern die Welt bis an die Ränder riechen, schmecken, abtasten. Das Licht der Landschaften blendet ihn, doch gerade das Übermaß eröffne eine neue Tiefe. Am Tag trennt das scharfe Licht die Dinge klar voneinander. In der Nacht jedoch verschwimmen die Konturen. Sehen wird zur Verbindung von Fühlen, Hören, Ahnen. Rilke entdeckt in der Dunkelheit die Möglichkeit, das Ungesehene zu berühren – jene Zwischenschichten, die uns im Hellen verborgen bleiben. Für Rilke liegt in der Gestaltlosigkeit eine besondere Kraft. Ohne feste Formen werden Perspektiven möglich, die sich nicht ans Sichtbare klammern. Sehen wird für ihn ein behutsames, langsames Vordringen in innere und äußere Tiefen – ein Weg, das Geheimnis im Alltäglichen zur Sprache zu bringen.
Der abschiedliche Blick und die Poetik des Loslassens
Rilke entwickelt aus der Einsicht den „abschiedlichen Blick“[1]. In den Duineser Elegien (1912–1922) schreibt er: „Uns, die Schwindendsten…“. Sehen bedeutet für ihn: loslassen. Nur im Schwinden wird das Gesehene wirklich erfasst. Ein Objekt wird nicht durch Besitz begriffen, sondern in der Erfahrung seines Entgleitens. Der Sternenfall zeigt diese Wahrheit mit Klarheit: Das Licht wird erst im Verlöschen sichtbar. Es berührt uns, weil es vergeht. Rilkes Blick verlangt, sich vom Festhalten zu lösen. Zu sehen heißt, das Vergehen zu akzeptieren – und im Moment das Leben selbst zu spüren. Mit seinem radikalen „Ich lerne sehen“ hat Rilke etwas freigelegt, das weit über das Optische hinausgeht. Seine Poetik des Loslassens und der Schwellenerkundung prägt sein Werk bis zu den Sonetten an Orpheus (1922). Orpheus, der mythologische Sänger, verkörpert bei Rilke ein Sehen, das die Grenzen von Innen und Außen auflöst. Er überschreitet die Wirklichkeit, indem er Äußeres und Inneres in einer einzigen Bewegung vereint – eine Dynamik, die die Welt verwandelt. Damit stellt Rilke eine grundlegende Frage: Genügt es, wenn Augenblicke die Grenze markieren, wo unsere Bedeutungen enden und etwas Neues beginnt? Die Öffnung führt uns hin zum innersten Kern der Dinge, hin zu uns selbst – und damit zugleich zum letzten Grund[2]. Oder ist es umgekehrt? Beginnt alles am Grund, wo das Verhältnis zwischen Innen und Außen sich auflöst und der „Weltinnenraum“ sichtbar wird? Der Grund ist weder rein innerlich noch rein äußerlich. Er ist beides – eine Durchlässigkeit, die das Sehen intensiviert und auf eine umfassendere Ebene hebt. Orpheus’ Blick wandelt im Zwischenreich, wo Diesseits und Jenseits ineinanderfließen. Rilkes Worte kreisen um diese Fragen, immer auf der Suche nach der Antwort, die jenseits der Sprache liegt.
Atmen und Sehen als Einheit
Rilkes Seh-Schule hat ein klares Ziel: In der Begegnung mit einem Du entfaltet sich die Gleichzeitigkeit von Innen und Außen in ihrer ganzen Vielschichtigkeit. Das Personalpronomen „Du“ hat in Rilkes Werk eine außergewöhnliche Bedeutung – es bleibt stets offen, lässt sich nie festlegen. Für Rilke ist jede Form des Habenwollens, jede Vereinnahmung des Anderen, ein Verrat an der Begegnung. Sprache verlangt Beziehung, doch die Beziehung muss freilassen, statt zu besitzen. Für Rilke liegt der Schlüssel zum Leben in der lebendigen, flüchtigen Begegnung mit einem Du. Wenn wir uns körperlich und seelisch einem Anderen – sei es Mensch oder Mehr-als-Mensch – zuwenden, berühren wir nicht nur das Äußere, sondern auch das Innere. Im „neuen Sehen“ der Begegnung treten verdrängte Erfahrungen an die Oberfläche. Im Teilen und Mit-Teilen werden sie zu etwas Gemeinsamen – zu einem geteilten Atemzug, der Innen und Außen verbindet. Alles, was wir so sehen, dringt in uns ein, verändert uns und strömt wieder hinaus – so unaufhaltsam wie unser Atmen: Innen und Außen, zwei Lungenflügel desselben Körpers, treiben den Kreislauf von Leben und Tod. Sehen ist keine unschuldige Beobachtung. Es ist ein Vorgang, der uns erschüttert, der uns aufbricht. Purität ist keine Option. Wer wirklich sieht, nimmt die Welt in sich auf und gibt sie zugleich frei. Es ist ein ungeschütztes, schmerzliches Hinsehen, das nicht abgrenzt, sondern verschmilzt[3]. Innen wird zum Außen, das Eigene wird fremd, und im Fremden erkennen wir uns selbst. Rilkes Sehen ist Hingabe: ein Kreislauf, der alles verbindet und zugleich verwandelt. Es ist Leben selbst, ein Atemzug, geteilt mit der Welt. In den Zeilen aus Überfließende Himmel verschwendeter Sterne (1923) findet sich der Gedanke verdichtet: „Atme. Atme das Dunkel der Erde und wieder / aufschau! Wieder.“ Rilke hinterlässt uns ein Vermächtnis: das „neue Sehen“, das keine Klarheit sucht, sondern die volle Wucht der Welt ein- und ausatmet – mit einem Blick, der lebt, der begegnet, der verändert.
[1]Siehe dazu Silke Pasewalck: Die fünffingrige Hand. Die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung beim späten Rilke, Walter de Gruyter, Berlin/New York 2002, S. 81–94.
[2]Siehe dazu Georg Steer: „Rainer Maria Rilke als Leser Meister Eckharts.“ In: ‚Gott‘ in der Dichtung Rainer Maria Rilkes, herausgegeben von Norbert Fischer, Meiner Verlag, Hamburg, 2005, S. 361–380.
[3]In Vues des Anges (1924/1925)entfaltet Rilke eine radikale Vision des Engelsblicks, der sich in den Wipfeln der Bäume (Außen) und ihren Wurzeln (Innen) zugleich begründet. Engelsaugen vollziehen kein passives Schauen, sondern einen aktiven, schöpferischen Akt, der Welt und Wahrnehmung miteinander verknüpft. Atmen und Sehen, Sprechakt und Sehakt verschmelzen zu einem transformativen Prozess, in dem der Blick nicht nur wahrnimmt, sondern wirkt. Dieser Blick initiiert eine Veränderung in der Welt, ähnlich der Perlokution: Ein Sehen, das nicht nur die Realität erkennt, sondern sie formt und neu ordnet. Rilkes Engelblick ist ein Sehen, das spricht und die Welt im gleichen Moment verändert.
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Thomas Sojer leitet die Bücherei in Hohenems, Vorarlberg. Zusammen mit Jörg Seiler betreibt er die Forschungsstelle Sprachkunst und Religion an der Universität Erfurt, die schwerpunktmäßig mit aktuell entstehender Lyrik im deutschsprachigen Raum arbeitet.
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