Gabriele Scherle ist Vorstandsvorsitzende der „Bildungsstätte Anne Frank“. Die evangelische Theologin war bis 2017 Pröpstin für das Rhein-Main-Gebiet. Neben vielen Aufgaben als Referentin und Autorin gehört sie der Vergabekommission des ökumenischen Becker-Staritz-Preises für sozialpastorale Projekte und Forschung an. Silke Zäh traf Gabriele Scherle für feinschwarz.net im Garten des Frankfurter Liebighauses zu einem intensiven Gespräch über Katharina Staritz, Frieden und Theologie.
S.Z.: Was bewegt Sie in ihrem Tun? Was sind Ihre Quellen, aus denen Sie schöpfen?
Gabriele Scherle: Ich habe erstmal unheimlich viel zurückzugeben. Ich bin auf einem kleinen Bauernhof aufgewachsen. Habe so viele Chancen im Leben bekommen, obwohl das gar nicht an meiner Wiege gesungen worden ist. Im zweiten Bildungsweg war ich Finanzbeamtin und habe Sozialarbeit studiert, daraufhin noch ein Theologie-Studium als Spätberuf. Dann wurde ich sogar Pröpstin. Als ein ganz großes Geschenk sehe ich auch meine Beziehung zu meinem Mann. Mit ihm teile ich den Glauben und das politische Verständnis. Wir blicken in die gleiche Richtung, dafür bin ich sehr dankbar und daraus schöpfe ich sehr viel.
S.Z.: Sie hatten in den letzten Monaten verstärkt mit zwei markanten Personen zu tun, nach denen ein neuer Preis benannt wurde. Es handelt sich um Bernhard Becker und Katharina Staritz. Der Becker-Staritz-Preis wurde von der action 365 vergeben und Sie gehörten zur Vergabekommission. Wie kam es dazu?
Gabriele Scherle: Ich kannte die action 365 schon aus den 70er Jahren. Damals habe ich Sozialpädagogik studiert mit ehemaligen Entwicklungshelfer:innen zusammen und die haben mir von der action 365 erzählt. Als ich angefragt wurde für die Vergabekommission des Becker-Staritz-Preises haben mich besonders die beiden Namensgebenden des Preises angesprochen, die aus der katholischen und evangelischen Kirche kommen. Das fand ich etwas Besonders, das nach zwei Menschen gesucht wurde, die den Einsatz als Christ:innen in einer sehr schlimmen Zeit gemeinsam haben.
Über die Geschichte der Frauenordination
in der evangelischen Kirche
S.Z.: Der Becker-Staritz-Preis verdankt zwei Menschen seinen Namen: Bernhard Becker und Katharina Staritz. Bernhard Becker, einen katholischen Leiter von Jugendgruppen, der wegen seines Einsatzes für kirchliche Jugendgruppen im Frankfurter Gestapogefängnis zu Tode kam. Katharina Staritz, die sich als Vikarin für jüdisch-christliche Familien im Nationalsozialismus einsetzte, wurde deshalb im KZ Ravensbrück inhaftiert. Sie setzte sich in ihrer Amtszeit in Breslau für die Integration jüdischstämmiger Christ:innen ein. Nach dem Krieg war sie Vikarin an der Frankfurter Alten Nicolaikirche. Welchen Bezug haben Sie zu den Namensgeber:innen und warum sind Sie Ihrer Einschätzung nach heute so inspirierend?
Gabriele Scherle: Von Bernhard Becker hatte ich vorher noch nie was gehört. Sein Engagement und sein Schicksal haben mich sehr bewegt, als ich mich über den Preis mit seiner Biografie beschäftigt habe. Während Katharina Staritz mir vorher schon ein Begriff war. Hierbei ist wichtig, dass das Versagen der „evangelischen Kirche und Nationalsozialismus“ in vielfacher Hinsicht so etwas wie ein Bezugspunkt meines theologischen und kirchlichen Denkens ist. Und da gehört dazu, dass die bekennende Kirche – ich war lang froh, dass es die bekennende Kirche als Widerstandsnest gegenüber dem Nationalsozialismus gab – dennoch nicht wirklich ein Hort des Widerstands, wie wir es lange glaubten, war. Deshalb bin ich dankbar, wenn wir auf Menschen stoßen wie Bernhard Becker und Katharina Staritz.
Den Stellenwert des Gedenkens an diese Märtyrer:innen in der Katholischen Kirche kann ich nicht beurteilen, weil ich Bernhard Becker vorher nicht kannte. In der Evangelischen Kirche stehen natürlich Persönlichkeiten wie: Dietrich Bonhoeffer, Martin Niemöller im Fokus, aber dass es auch eine Reihe von Frauen gab, die in ihrem Mut und ihrem Widerstand in nichts nachstanden, ist weniger bekannt. Dass Katharina Staritz nicht vergessen ist, ist einer Gruppe von Frauen zu verdanken, die über die Geschichte der Frauenordination in der evangelischen Kirche forschten. Sie stießen auf Katharina Staritz, die erste Pfarrerin der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, also auch der ersten Frankfurter Pfarrerin. Ihr dorniger Weg ins Pfarramt ist eng verbunden mit ihrem Kampf für Christ:innen jüdischer Herkunft, das war gar nicht bekannt. Sie wäre vergessen und könnte kein Vorbild für uns sein, wenn es diese Frauen nicht gegeben hätte.
Als damals der Arierparagraph in der evangelischen Kirche eingeführt wurde und vor allem als alle Jüdinnen und Juden einen Stern tragen mussten, sollten sie auch im Gottesdienst einen gelben Stern tragen. Das waren natürlich Jüdinnen und Juden nach Verständnis des Hitler Regime, denn es waren ebenso Christinnen und Christen. In Breslau verfasste daraufhin Katharina Staritz einen Rundbrief an alle Pfarrer. Dieser Brief beinhaltete, dass in der Kirche Jesu Christi diese Unterschiede nicht gelten und dass man sich besonders gut um sie kümmern sollte. In Breslau selbst haben die Kolleginnen und Kollegen sie unterstützt. Die Kirchenleitung jedoch hat ihr solch eine Gesinnung verboten und sie in den Ruhestand versetzt. Sie ist daraufhin nach Marburg gekommen und dort war deutlich, dass die SS sie im Fokus hatte dann wurde sie letztlich nach Ravensbrück gebracht. Schon nach einem Jahr entlassen, hatte sie stets einen harten Kampf in der evangelischen Kirche geführt, um als Pfarrerin letztlich anerkannt und ordiniert zu werden. Sie war gesundheitlich sehr angeschlagen und ist 1953 mit 49 Jahren gestorben. Im Stadtteil Bockenheim in Frankfurt am Main gibt es einen Gedenkstein für Katharina Staritz.
Diese ganz leichtfertige pazifistische Haltung
habe ich nicht mehr.
S.Z. Sie stehen als Frankfurter Pfarrerin ja ein wenig in der Nachfolge von Katharina Staritz. Welche Herzensprojekte verfolgen Sie heute? Gibt es Projekte, für die Sie sich stark machen?
Gabriele Scherle: Neben meinem Engagement in der Bildungsstätte Anne Frank, wo mir persönlich sehr stark der Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus am Herzen liegt, bin ich noch Mitglied im Vorstand der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste[1]. Das ist eigentlich meine geistliche Heimat. Da war ich schon als Studentin im Vorstand zur Zeit der Friedensbewegung. Deshalb ist mir die Friedensfrage weiterhin ein wichtiges Thema. Ich war mit Aktion Sühnezeichen über Ostern in Odessa, weil wir Freiwillige auch in Russland, Belarus und der Ukraine hatten. Dort waren wir, um die Projektpartner:innen zu treffen, und um ihnen zu signalisieren, dass wir bald wieder Freiwillige hinschicken können. Diese Erfahrung war für mich noch mal sehr maßgebend in meiner Positionierung; auch besonders in der Friedensfrage.
Mir ist deutlich geworden, wie sehr ich von meinem Bild über den sowjetischen Raum geprägt bin, das eher zur Zeit des kalten Krieges zu sehen war. Ich realisierte, dass die Ukraine eine eigene Geschichte hat. Auch Belarus und Russland sind mir mehr in den Fokus gelangt, weil wir Freiwillige bei Memorial hatten. Memorial ist eine Organisation in Russland, die heute verboten ist, den Menschen half, stalinistischen Terror aufzuarbeiten. Eine der Mitbegründer:innen ist Mitglied im Kuratorium der Aktion Sühnezeichen. Dass sich die Situation so verschärft, hatte sie nicht kommen sehen. Ursprünglich wollte sie in Russland bleiben, jetzt lebt sie in Berlin.
Diese ganz leichtfertige pazifistische Haltung habe ich nicht mehr. Daher bin ich in vielen Debatten engagiert. Mein Mann und ich haben zusammen Vorträge gehalten, Artikel verfasst zu diesem Thema, weil wir den Eindruck haben, dass es uns in Deutschland vor allem um uns geht, und auch ein bisschen um die Rettung unserer Geschichte. Bei dieser ersten großen Demonstration in Bonn in den 80er Jahren habe ich die Moderation zusammen mit jemandem von Aktion Sühnezeichen gehalten. Mit diesem Thema bin ich wirklich sehr verbunden. Ich habe lernen müssen, wie wichtig es ist, die Realität anzuerkennen und sich nicht die Realität schönzureden. Und da kommt für mich noch der theologische Aspekt in den näheren Blick. Was haben wir eigentlich für ein Verständnis des Menschen? Ich würde für mich sagen, ich habe mir den Menschen auch gut geredet. Die negativen Kräfte des Menschen müssen wir auch integrieren; mit ihnen rechnen, das ist mir heute ganz deutlich.
Wenn wir keine Hoffnung für die Opfer der Geschichte haben,
dann haben wir auch keine Hoffnung für die Welt.
S.Z.: Denn die Bibel allein ist ja voll von diesen Geschichten.
Gabriele Scherle: Genau! Es ist ein Ringen mit den destruktiven Kräften des Menschen.
S.Z.: Welche Aspekte von Kirche und Glauben sind Ihnen wichtig?
Gabriele Scherle: In dem Zusammenhang sehe ich den Artikel, den mein Mann und ich geschrieben haben. Der Artikel heißt „Gerechtigkeit für die Toten von Butscha“. Uns ist klar geworden, wenn wir keine Hoffnung für die Opfer der Geschichte haben, dann haben wir auch keine Hoffnung für die Welt, und hier ist das Thema „Gericht“ wegweisend. Und zwar nicht, weil wir jemanden abstrafen wollen, sondern es geht um die Gerechtigkeit für die Opfer, dass diese im Gericht recht bekommen.
Wer verantwortet eigentlicht die Täterseite?
S.Z.: Sie meinen nicht ein Gericht im Sinne einer verorteten Institution, oder?
Gabriele Scherle: Ich glaube an ein letztes Gericht, nicht als Zerstörung, sondern als Ferment des Neuen sozusagen, indem Opfer aufgerichtet werden, und die Täter*innen nicht zerstört werden, sondern in einen besseren Prozess kommen. Ich finde, dass wir uns diese Themen auch als „Kirche“ eintragen können. Ich frage mich manchmal wirklich, warum wir so oft schweigen über das alles.
Besonders diese ganze Ambivalenz meiner eigenen destruktiven Kräfte, die es gilt zu integrieren, und ihnen ganz kritisch gegenüberzustehen. Für mich ist auch ein ganz großes Problem, dass ich den Eindruck habe, viele wollen nur auf der Seite der Opfer stehen. Wer verantwortet eigentlich die Täter*innen-Seite? Das ist eine Sache, die ich bei Aktion Sühnezeichen sehr gut gelernt habe. Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen. Wir können nicht die Welt komplett ändern, aber kleine Zeichen für eine andere Welt können wir immer setzen.
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Gabriele Scherle studierte Sozialarbeit und Theologie. Sie ist Pfarrerin der EKHN, war Friedenspfarrerin der Landeskirche und 2006-2017 Pröpstin für Rhein-Main.
Silke Zäh, 1980 in Darmstadt geboren, studierte Vergleichende Sprachwissenschaft und Komparatistik in Mainz. Zwischendurch schreibt sie für verschiedene online- und print-Medien. Als Pressereferentin arbeitet sie seit 2019 für die action 365 in Frankfurt am Main.
[1] Im Gespräch fortlaufend abgekürzt mit: Aktion Sühnezeichen.
Titelfoto: Clay Banks / unsplash.com