Angesichts des kirchlichen Reformstaus tragen sich viele Katholik:innen mit dem Gedanken an einen Kirchenaustritt – manche erwägen auch einen Übertritt. Winfried Bader schildert seinen persönlichen Weg.
Römisch- oder christkatholisch? So lautet die Alternative für Katholik:innen in der Schweiz . Ich gehöre seit Januar 2024 nach knapp 65 Jahren Mitgliedschaft in der römisch-katholischen Kirche zur christkatholischen Kirche der Schweiz. Seit 1889 gibt es die Utrechter Union dieser Kirche, mit ihrem obersten Organ, der Internationalen Altkatholischen Bischofskonferenz. Aus den vielen Emotionen für und gegen die römische-katholische Kirche kristallisierten sich für mich fünf Gründe heraus, die zu diesem Entscheid führten. Doch zuvor:
Wie wurde ich römisch-katholisch?
1959 geboren in eine römisch-katholisch geprägte Familie hinein, wuchs ich im katholisch geprägten Schwäbisch Gmünd auf. Die sonntägliche Pflicht zum Kirchgang gehörte ebenso dazu wie die klare Wertvorstellung, dass alles, was irgendwie mit Sexualität zu tun hat, seinen einzigen Platz innerhalb einer gültig geschlossen römisch-katholischen Ehe habe. Als Chorknabe lernte ich durch die Kirchenmusik die römisch-katholische Liturgie intensiv kennen und schätzen.
Je mehr ich beruflich in die Kirche hineinwuchs, umso mehr begann ich, sie grundlegend zu hinterfragen
Der Wunsch, die eigene Glaubenstradition intellektuell zu durchleuchten, führte mich nach dem Abitur zum Theologiestudium, zunächst als Priesteramtskandidat, dann verheiratet mit zwei Kindern. Nach der Promotion im Fach Altes Testament arbeitete ich an der Universität und später im Verlagswesen. Mit dem Umzug in die Schweiz 2005 trat ich in den kirchlichen Dienst als Pfarreiseelsorger und arbeite jetzt als Leiter des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks. Je mehr ich beruflich in die Kirche hineinwuchs, umso mehr begann ich allerdings, sie grundlegend zu hinterfragen.
Wer hat das letzte Wort in Glaubensfragen?
Im Oktober 1979 begann ich in Tübingen mein Theologiestudium; im Dezember bekam der Tübinger Professor Hans Küng die Lehrerlaubnis entzogen. So lernte ich bereits im ersten Semester, was der römische Lehrprimat konkret bedeutet. Später als Bibliker bereits im kirchlichen Dienst, vertraute ich immer noch auf die Bibel als «norma normans non normata», wie ich es in der Fundamentaltheologie gelernt habe. Ein Gespräch mit Kurt Kardinal Koch, damals noch Bischof von Basel, lehrte mich ein anderes: Vorrangig sei das von der Dogmatik definierte «Christusgeheimnis»; erst in dessen Licht dürfe ich als Bibliker die Bibel auslegen. Es führte mich in eine Krise, so meiner bibeltheologischen Freiheit beraubt zu werden, und ich speicherte auf mein Mobiltelefon die Telefonnummer des Obersten der reformierten Landeskirche, um jederzeit schnell in die Freiheit fliehen zu können…
Warum muss auf der ganzen Welt alles gleich sein?
Die Märtyrerlegende meines Namenspatrons Winfried Bonifatius faszinierte mich seit meiner Kindheit: Schützend hielt er seine Bibel vor sich, als seine Feinde ihn angriffen. Im Studium musste ich lernen, dass er bereits im 8. Jahrhundert gewissermassen den Jurisdiktionsprimat Roms freiwillig nach Süddeutschland trug – seine durchaus sinnvollen Reformen wären für meinen Geschmack gut ohne Rom gegangen.
«Ils n’existent pas»
Wenn ich heute in die römisch-katholische Kirche der Deutschschweiz schaue, so begegnet mir zwar eine Struktur, die sogenannte Lai:innen verantwortlich miteinbezieht. Kirchenrechtlich gegenüber Rom bleibt aber der «leitende Priester» der offizielle Pfarrer, auch wenn er die Gemeinde kaum kennt. Die Homilie in der Eucharistiefeier durch Nicht-Geweihte ist der Normalfall. Kirchenrechtlich muss diese Praxis aber als Ausnahmefall zur Behebung eines seelsorgerlichen Notstandes deklariert werden. Beim Papstbesuch in Genf wurden Theolog:innen, die als Nicht-Geweihte in den Pfarreien treu grossartige Arbeit leisten, daran gehindert, ihren Platz beim Gottesdienst bei ihren geweihten Kollegen einzunehmen. Die französische Begründung war: «Ils n’existent pas». Die römisch-katholische Kirche schafft es nicht, Eigenarten einer regionalen Bischofskonferenz offen anzuerkennen. Sobald das offizielle Auge Roms in einen Gottesdienstraum blickt, verlieren Theolog:innen ihren in der lokalen Tradition angestammten Platz.
Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Glauben und Lebensform?
Als ich mich 2008 von meiner Ehefrau trennte, war der erste Vorschlag des Regens des Bistums Basel, die Ehe annullieren zu lassen. Ich lehnte dies im Blick auf meine zwei erwachsenen Kinder ab. Daraufhin bekam ich von ihm schriftlich attestiert, dass ich «die christliche Botschaft niemals glaubwürdig vorleben» könne.
Mutmassungen bezüglich meines «Schlafzimmers»
Die Bereitschaft zu Nachfolge, Armut, Barmherzigkeit und Nächstenliebe zählten nichts. Einziges Kriterium waren seine Mutmassungen bezüglich meines «Schlafzimmers».
Das war auch wichtigster Inhalt der begleitenden Ausbildung in meinen fünf Semestern als Priesteramtskandidat gewesen. Viel Zeit wurde in Spiritualstunden, Bibelgespräche, Kurswochenenden und Exerzitien investiert – eine riesige Chance, um neben dem wissenschaftlichen Studium christliche Spiritualität einzuüben und zu vertiefen. Alles lief jedoch auf das eine Thema hinaus: Zölibat. Noch Jahre später konnte ich manche Bibeltexte nicht mehr lesen, weil sie dort für die Begründung des Zölibats missbraucht worden waren.
Wie wichtig sind die Menschenrechte?
Ich entschied mich anders. Das Thema «Pflichtzölibat» ist seither für mich kein Thema mehr. Denn wie jeder andere Mann konnte ich mich zwischen Priester mit Pflichtzölibat oder Partnerschaft entscheiden. Der Hälfte der römisch-katholischen Menschheit ist diese Entscheidung allerdings verweigert. Zwar gehört es heute zur Arbeitsplatzbeschreibung eines Papsts, sich weltweit für Menschenrechte einzusetzen. Dass Artikel 1 und 2 der Menschenrechtsdeklaration von 1948 in der von ihm geleiteten Institution nicht gelten, stört ihn offensichtlich nicht.
Die typisch römisch-katholische Methode: «Zurück auf Null»
Als 1993 ein Themenheft der Tübinger Theologischen Quartalschrift zum Thema «Frauenordination» erschien, waren sich alle Autor:innen des Heftes einig: Es spricht theologisch nichts gegen eine Weihe von Frauen. Ich selbst war daraufhin der Hoffnung, dass es nur noch kurze Zeit brauche, bis das Ergebnis umgesetzt wird. Als Kurienkardinal Walter Kasper vor einigen Jahren um eine Stellungnahme zur Frauenordination gebeten wurde, meinte er: Eigentlich würde er das befürworten, aber zunächst müsse man diese Frage theologisch klären. Er hatte «vergessen», dass diese Frage 25 Jahre zuvor in seinem damaligem Bistum von den Kolleg:innen seiner theologischen Fakultät, der er selbst bis 1989 angehört hatte, geklärt wurde. Er wandte die typisch römisch-katholische Methode an: «Zurück auf Null» – und alle sind zufrieden und beginnen erneut zu hoffen, weil man ja an dem Thema dran ist.
Was ist Synodalität?
2021 startete die Vorbereitung zur Weltsynode in Rom in der Schweiz mit der Plakat- und Webseitenaktion «Wir sind Ohr». Sie zeigt den Bischof von Basel und den Papst aus Rom in gleicher Geste: Sie halten die Hand ans Ohr, um genau zu hören, was die Anliegen der römisch-katholischen Menschen seien. Ein Kollege, Ordensmann und Priester, reagierte auf dieses Plakat empört mit dem Hinweis auf die Synode 72. Alle wichtigen Anliegen seien dort arbeitsreich in vielen Dokumenten zusammengetragen. Ungelesen schlummerten sie. Statt zu hören, sollten Bischof und Papst ganz einfach lesen.
«Wer Ohren hat zum Hören, der höre!»
Ich reagierte in einer Pfarrblattkolumne auf diese Plakataktion und holte noch etwas weiter aus: «Wer Ohren hat zum Hören, der höre!» lesen wir aus dem Mund Jesu in Markus 4,9. Rom und der Basler Bischof schaffen es, diese Erkenntnis 1991 Jahre später als neu zu präsentieren: «Zurück auf Null»-Taktik – und alle sind zufrieden, weil sie ja gehört werden. So berichten auch Frauen ganz stolz, dass sie bei der ersten Runde der Weltsynode im Oktober 2023 mit Bischöfen und Kardinälen an einem Tisch sitzen durften und diese ihnen sogar zugehört hätten – und offenbar sind alle zufrieden.
Was hinderte mich so lange daran, den Schritt zu tun?
Mein Pastoralraumleiter konterte meine Pfarrblattkolumne «Wer Ohren hat …» kurz danach mit einer eigenen Kolumne an gleichem Ort. «Wir sind ganz Ohr» würde dieses Mal nun wirklich stimmen: Jetzt hörten sie zu! – ein sehr optimistisches Votum nach 50 Jahren ungelesener Synode 72 und 2000 Jahren verhallter jesuanischer Botschaft.
Es ist genau diese Hoffnung, dass es irgendwann doch noch besser wird, die mich 65 Jahre lang bei der römisch-katholischen Kirche hielt. Es ist diese Hoffnung, die mich für die römisch-katholische Kirche ein Berufsleben lang engagiert sein liess. Als Teenager von meinem Radballtrainer nach meinen Berufswunsch gefragt, antwortete ich: Sehr gerne Theologe, aber ich hätte zu viele Kritikpunkte an der Kirche. Darauf meinte dieser sehr säkular denkende Mann: «Aber ein junger Mensch muss doch die Kraft haben, im System etwas zu ändern.» Ich wurde Theologe und hoffte 45 Jahre lang, zu einer Änderung beizutragen. Diese Hoffnung aufzugeben und einen für mich anderen Weg zu gehen, war das Schwierigste.
Was heisst «christkatholisch»?
Als dritte Landeskirche gibt es in der Schweiz die christkatholische Kirche mit ca. 11’000 Mitgliedern. In Luzern habe ich das Glück, dass hier seit 1874 das erste eigens errichtete christkatholische Kirchengebäude steht, zu der bis heute eine aktive Pfarrei gehört. Persönliche Begegnungen brachten mich zu dieser Alternative. Als ich theologisch prüfte und historisch für mich forschte, was christkatholisch bedeutet, stiess ich darauf, dass hier meine fünf Kritikpunkte positiv erfüllt sind: Die christkatholische Kirche ist gleichzeitig episkopal und synodal. Der Bischof wird von der Nationalsynode gewählt und wichtige Entscheidungen fallen stets im Einvernehmen von Bischof und Nationalsynode, in der «Laien» stets die Mehrheit haben und die zugleich oberstes Organ in Glaubensfragen ist. Christkatholische Bischöfe arbeiten untereinander kollegial zusammen; jeder ist aber in seinem Bistum souverän. Für Lebensformen neben einer Hetero-Ehe gibt es nicht nur einen 10 Sekunden langen Segen, sondern Liebe kann in verschiedenen Konstellationen als Sakrament gefeiert werden. Eine lange Diskussion um das Frauenpriestertum wurde durch die Nationalsynode positiv entschieden.
Einer Kirche angehören, in der für alle die Menschenrechte uneingeschränkt gelten
So darf ich nun einer Kirche angehören, in der für alle die Menschenrechte uneingeschränkt gelten, in der ich meine Hoffnung nicht mehr auf die Verbesserung der kirchlichen Zustände richten muss, sondern mit anderen zusammen auf das von Jesus Christus versprochene Kommen des Reiches Gottes hoffen darf.
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Dr. Winfried Bader ist Theologe und promovierter Alttestamentler. Nach Berufsjahren als Verlagslektor arbeitete er 17 Jahre lang als Pfarreiseelsorger in verschiedenen Kirchgemeinden in der Schweiz. Zur Zeit ist er Leiter des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks. Er ist Vater von zwei Söhnen und Grossvater von zwei Grosskindern.