Der Pastoralraum Basel-Stadt nahm sich im September Zeit für einen Rückblick auf den Lockdown im Frühling 2020. MitarbeiterInnen aus Katechese, Pfarreien, Spezialseelsorge, Jugend- und Sozialarbeit erzählten über ihre Erfahrungen und teilten miteinander Inspirationen und Deutungsangebote, die sie durch die Zeit getragen hatten. Ein Beitrag von Kerstin Rödiger.
Die vielfältige Austauschrunde fasse ich unter drei Ungleichzeitigkeiten zusammen, weil den Erfahrungen eines gemeinsam ist: Sie sind so verschieden. Dem gegenüber steht der Druck gemeinsamer Lösungen und Entscheidungen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit konzentriere ich mich hier auf drei Bereiche: Natur, Kultur und Gerechtigkeit.
1. Natur: Das Aufatmen der Natur und die Rückkehr des Todes
«Es war eine Zeit, die zeigte, wie schön es wäre, wenn …» – es anders sein könnte als jetzt. So begann eine Katechetin ihr Votum. Wie schön wäre es, wenn wir mehr Zeit hätten, wenn wir mit der Natur im Einklang leben würden, wenn wir Nähe wieder unbedarft schätzen könnten. In dieser Corona-Zeit hielt das Leben die Luft an, konnte so aber auch wieder zu Atem kommen. Es war die Natur, die aufatmete – aber auch viele Menschen. Jemand sagte: «Für die Natur war diese Zeit wie Weihnachten und Ostern zusammen.» Im Nicken der Anwesenden spiegelte sich eine grosse Sehnsucht nach mehr Stille und Ruhe wieder. Diese war in der Corona-Zeit teilweise möglich bzw. einfach verordnet worden. Gerade die Natur war darin für viele eine Quelle des Trostes geworden: Die Vögel bauten munter ihre Nester weiter, die Bienen summten und der Himmel war frei und blau und einfach da.
«Für die Natur war diese Zeit wie Weihnachten und Ostern zusammen.»
Doch diese Atempause ist nur die halbe Wahrheit. Der Lockdown verursachte auch immensen Stress. Die Caritasstelle etwa musste ihr Angebot des günstigen Caritasmarktes in Nullkommanix völlig neu strukturieren. Ebenso musste die Gassenküche plötzlich in Kleinbasel aus ihren engen Räumen aus- und in den Saal der benachbarten Pfarrei einziehen.
Die Erkenntnis, dass das Leben, die Natur, angesichts der Bedrohung einfach weitermacht, barg einerseits Trost, andererseits ein Erschrecken. Angesichts der zwitschernden Vögel und des blauen Himmels erkenne ich, wie klein ich wirklich bin. «Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?» steht in Psalm 8. Dieser Satz dringt mit einer neuen Macht in unser Bewusstsein, weil ganz offensichtlich und in jeder Sekunde dieses neuen Alltags der Tod und das Sterben mit einer Wucht in Gesellschaften zurückkehrten, die diese Themen erfolgreich an den Rand gedrängt hatten.
Was ist der Mensch…
Doch auch die Nähe des Todes wurde unterschiedlich erlebt. Sie war bei denen dramatisch ernst, die mit gefährdeten Menschen zusammenlebten, etwa in der Jesuiten-Gemeinschaft mit einem 80-jährigen kranken Mitbruder und dem Wissen, dass jemand mit dem Virus am Tag vor dem Lockdown im Haus war. Oder wenn die Partnerin im Spital «abgegeben» werden musste, weil sie sterbenskrank war und eine Begleitung nicht zugelassen werden konnte. Auch die Missionen mit ihren Kontakten nach Spanien oder Italien sassen am Puls des Geschehens. Sie kannten Erstinfizierte in Italien und wussten von den Nöten der in der Schweiz lebenden Familien, die ihre Angehörigen in Spanien nicht sehen konnten.
Die Zahlen der Verstorbenen dominierten die Nachrichten und forderten unsere Reaktion etwa gegenüber den Kindern. Auf einmal wird die Frage laut, wie es denn mit unserer Kultur des Abschiednehmens steht?
2. Kultur: Alt und neu – am Beispiel Kirche
Vielleicht war es dieses Abschiednehmen, das dem Frühling ganz natürlich die Farbe der Fastenzeit anzog, indem er durch «eine grössere Tiefe einerseits, andererseits aber auch durch eine Beklemmung» gekennzeichnet war. Vielleicht, so gab eine Theologin zu bedenken, befand sich die Gesellschaft sogar in einem kollektiven Trauerprozess? Da war das Sterben von Menschen, aber auch der Abschied von Normalität und Sicherheit. Gemeinschaft und Nähe wurden gefährlich, Hochzeiten und Feiern mussten verschoben oder einfach ausgesetzt werden. Gerade das kulturelle Leben kam völlig unter die Räder. Bis jetzt. Das macht etwas mit unserer Gemeinschaft, unserer Kultur, uns Menschen, die von Begegnungen leben.
Im Moment steht das Ringen im Vordergrund, von was genau Abschied genommen werden muss und wer dies bestimmt. Von Umarmungen? Von Freundschaft? Vom wirtschaftlichen Wohlstand? Von Herbstmessen und Weihnachtsmärkten? Reisen zu der Familie und in die Welt?
Das Abschiednehmen zog dem Frühling die Farbe der Fastenzeit an.
Auch der Abschied von den vielen Menschen, die ganz konkret gestorben sind, ist vielleicht noch nicht vollendet. Es wurde gefragt, ob es nicht noch eine Trauerfeier für diese 54 verstorbenen Personen hier in Basel bräuchte. Sollte nicht gerade die Kirche Raum für eine neue Abschiedskultur eröffnen? Diese Themen fragen nach dem «Kitt», der Gemeinschaften und Gesellschaft zusammenhält.
Diesbezüglich befindet sich die schweizerische Gesellschaft in einem regen Wandel und mit ihr die Kirchen als Teil dieser Kultur von Gemeinschaft, gemeinsamen Ritualen und Werten. Wir kirchlichen Mitarbeitenden erlebten diese Zeit voller Ambivalenz. Einerseits erlaubte das Experimentieren mit digitalen Medien herauszufinden, dass Meditationen ebenso wie pastorale Begleitung durchaus online möglich sind. Das Telefon wurde als Medium wiederbelebt, weil viele Seelsorgende aus der Pfarrei stundenlang mit ihren Leuten telefonierten. Eine der Anwesenden formulierte ihre Erkenntnis, wie wichtig die Stimme ist, weil sie Gefühle und Empathie sichtbar macht.
eine Zeit voller Ambivalenz
Es wurden aber auch die Lücken benannt, die die katholische Kirche in digitaler Präsenz und Vernetzung hat. Ein Bereich, der Investitionen lohnt, denn für Jugendliche und jüngere Leute ist die digitale Welt etwas ganz Normales. Mit dieser Gruppe gelang ein beinahe reibungsloser Übergang – vielleicht gerade auch, weil eine letzte Versammlung und Abschied nehmen unter der Linde inmitten Basels möglich war. Für sie war die Zeit recht unaufgeregt. Was für eine Chance!
Dieser Lockdown puschte die Möglichkeiten, neue Formen von Nähe zu Menschen zu suchen. Aber es zeigte sich auch ein Reichtum, der in den alten christlichen Traditionen verborgen liegt. Ein Pfarrer wollte es ermöglichen, dass der Kirchenraum begehbar bleibt und übernahm so selbst den Dienst, morgens auf- und abends abzusperren. Oft warteten einige vor der Kirche bereits auf ihn und aus der allabendlichen Abschliessung entwickelte sich ein kleines Abendgebet mit der kontinuierlichen Lesung der Apostelgeschichte. Alte Rituale und alte Worte tragen, wenn sie den Menschen etwas bedeuten. Und wie selbstverständlich die Texte der Fastenzeit: Das Leiden und Suchen und Ringen um die Zukunft fügte sich in diese reale heutige Zeit ein, umhüllte die Menschen wie ein Schutzmantel. Auch um das Ritual der Anbetung vor der Monstranz scharten sich Menschen, die es schätzen, verlässlich immer zur gleichen Zeit das gleiche vorzufinden. Und gerade die Unmöglichkeit Ostern wie immer zu feiern, eröffnete neue Formen: zwar allein zu Hause zu feiern, aber über dieselben Texte mit der Gemeinschaft verbunden zu sein.
Alte Rituale und alte Worte tragen, wenn sie den Menschen etwas bedeuten.
Aber geht es mit dem neuen Wein in alte Schläuche? (Lukas 5,38) Es wurde auch die Erfahrung benannt, dass die Kirche enttäuschte. Wir als kirchliche Mitarbeitende waren doch auch überrumpelt und vielleicht überfordert. Hätten wir letztlich nicht mehr tun können? Auch die Kirche als Ganzes: Hätte es da nicht etwas gegeben, das wir der Gesellschaft, den Menschen noch mehr hätten bieten sollen, können, müssen?
Die Italienischen Missionsmitarbeitenden erzählten von einem Bild, das ganz Italien verband: Der Papst allein im Regen auf dem Petersplatz. Im Bild erschien immer wieder das Kreuz dort auf dem Platz, von dem die Wassertropfen wie Tränen herunterliefen. Gott weint mit uns. Das war die Botschaft dieses Bildes. Ein Bild des Trostes, weil es die Wirklichkeit und eine Wahrheit zeigte, die viele Menschen spürten und verband. Hätte es nicht mehr davon geben können?
Gott weint mit uns.
Aber es gibt so viele Grenzen. Menschen, die noch nie einer Anbetung beiwohnten, werden diese auch jetzt kaum als tröstlich empfinden. Gefängnisinsassen konnten ebenso wenig mit einer Telefonseelsorge getröstet werden, wie die Angehörigen der Corona-Patientinnen. Manche Seelsorge funktioniert nicht ohne Nähe. Und so beschäftigte auch die brennende Frage, ob die Menschen den Weg wieder zurück in die Kirchen finden, oder was diese Umdeutung von Nähe nun für die Kirchen als Gebäude und Gemeinschaft bedeutet.
3. Gerechtigkeit: im Kleinen und im Grossen
Der Lockdown und die Folgen stellen Ungleichzeitigkeiten jeglicher Art ganz neu ins Rampenlicht. Nun ist Ungleichzeitigkeit noch neutral, führt aber oft zur Frage nach Gerechtigkeit.
Da ist zum einen die Ungleichzeitigkeit von Alten und Jungen. Was ist wichtiger? Die Nähe oder der Schutz? Die Einwohnerin eines Altenheimes stellte dem Seelsorger die Frage: «Was habe ich falsch gemacht, dass ich hier eingesperrt bin?» Nichts, aber es geschieht zu ihrem Schutz. Dafür sollten Menschen über 65 zu Hause bleiben. Sie wurden wie stigmatisiert, aber nur damit sie in Sicherheit sind. Wer soll das verstehen? Doch jetzt funktioniert das Virus anders. Jetzt erkranken junge Menschen. Ich hörte in meinem Umfeld, wie jemand sagte: «Jetzt gibt es eine andere Definition der Risikogruppe – was soll denn das? Die wissen ja nicht, was sie tun.» Die Jungen müssen arbeiten, die Alten brauchen Schutz.
Was ist wichtiger? Die Nähe oder der Schutz?
Daneben sind Ungleichzeitigkeiten weltweit deutlich spürbar. Die bedrohlich reale Todesnähe in Spanien und Italien war hier in Basel nur etwa 3 Wochen spürbar. Jetzt kehrt man zu einer Normalität zurück, in der die grosse Not der jungen, arbeitenden Menschen wie die SchaustellerInnen der Herbstmesse andere Fragen stellt. In Paris durfte man für eine Stunde am Tag in naher Umgebung hinaus. Dagegen waren die Schweizer Wälder bevölkert wie nie.
In Brasilien versuchte der Präsident die Bedrohung des Virus zu ignorieren und überliess die Bevölkerung sich selbst. Unter diesen Umständen findet man praktischerweise viele Freiwillige für die Erprobung der Impfstoffe. Das alles sind nur Ausschnitte und stimmen einfach irgendwie nicht überein.
Es gibt zu viele mögliche Gleise und Weichen – wer soll da den Überblick behalten?
Die Gesellschaft besteht aus vielen Menschen, Schicksalen und Nöten. Corona fordert von uns EINE Antwort, die es so gar nicht gibt, aber faire Kompromisse auszuhandeln braucht den Dialog und Zeit. Haben wir auf weltweiter Ebene Strukturen, die solche Prozesse unterstützen können? Oder ist deshalb wieder alles in nationaler oder sogar kantonaler Hand, weil Kleinräumigkeit hier Flexibilität bietet, die ein Staat nicht hat? Kleinräumigkeit versus Einheitlichkeit, Überleben versus Sicherheit.
Was ist denn nun gerecht?
Corona fordert von uns EINE Antwort, die es so gar nicht gibt.
Die unterschiedlichen Antworten etwa im Umgang mit Schutzkonzepten wie der Maskenpflicht rufen bei den Menschen eine tiefe Verunsicherung hervor. Dagegen bringen einheitliche Lösungen angesichts unterschiedlicher Bedürfnisse viel Druck in die Gesellschaft.
So stellt sich die Frage, auf welchen Sicherheiten die Zukunft aufbauen darf. Oder vielmehr, welche Sicherheiten erst mal sicherheitshalber loszulassen sind.
Sicherheit war lange Zeit eine harte Währung unserer westlichen Gesellschaften, erfolgreich verteidigt über alle Finanz- und Bankenkrisen hinweg. Nun gehen wir mit der Klimakatastrophe und dieser Ansteckungsgefahr in eine neue Runde. Unser Menschsein, unser Platz auf dieser Erde und unser Verhalten, stehen auf dem Prüfstand.
Mir scheint, nichts bleibt so wie es war.
Die Ruah beginnt neu zu atmen.
Mein Wegweiser ist darin der Anfang der Tora: Der Geist Gottes bewegte sich über den Wassern, über dem Chaos und dem Durcheinander. Seine, oder eigentlich ihre Spur, die der Ruah, der Geistkraft Gottes, scheint mir eine Dimension unseres Glaubens, die neu zu atmen beginnt.
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Text und Bild:
Dr. Kerstin Rödiger ist seit 2016 in der Römisch-Katholischen Kirche Basel als Spitalseelsorgerin und seit 2018 im Fachbereich Spiritualität und Bildung angestellt. 2018 wurden die Pfarreien darin zu einem Pastoralraum Basel-Stadt verbunden.
Das Bild entstand 2013 als Gemeinschaftswerk des damaligen Pfarreiteams, anlässlich der Verabschiedung des langjährigen Pfarrers, der eine künstlerische Ader hat.
Zum Weiterlesen von Kerstin Rödiger:
Einfach mal was anfangen: Erfahrungen mit einem pastoralen Start-up in Basel