Die Beobachtung einer „Reformation 2.0“, die Arnd Bünker auf feinschwarz.net erläuterte, führt Daniel Kosch zu Rückfragen und weiteren Unterscheidungen. Welche Reformation(en) brauchen wir heute und welche Ökumene wird dabei den Kirchen abgefordert?
Der Beitrag von Arnd Bünker über das Wachstum neuer Kirchen evangelikaler, pfingstlicher, charismatischer und neopentekostaler Art lenkt den Blick auf ein auch für die «alten Kirchen» in Europa und die hiesige Religionslandschaft zunehmend wichtiges Phänomen. An seinem Zugang überzeugt mich, dass er diese Entwicklung als Reaktion auf die heutige Zeit würdigt, nämlich als eine «Reformation», die heute so notwendig ist, wie zu Calvins Zeiten vor 500 Jahren eine Reformation notwendig war. Um zu beurteilen, ob die «heutigen Kirchenprobleme» dem «Kollaps des spätmittelalterlichen katholischen Christentums vor 500 Jahren» tatsächlich «ähneln», kenne ich mich zu wenig aus.
Reformation als notwendige Reaktion auf Fragen der Zeit
Was mich nach der Lektüre des Beitrags von Arnd Bünker und im Zusammenhang mit dem Begriff «Reformation 2.0» aber mehr beschäftigt, sind zwei andere Fragen.
Welche Zählung verdienen die Reformationen seit der Reformation?
Die erste betrifft die Begrifflichkeit «Reformation 2.0». Sie spielt auf die in unserer Computerwelt übliche Nummerierung neuer Software-Versionen an. Sprünge um einen Zehntelpunkt (z.B. von 3.1 zu 3.2) stehen für ein kleineres «update», Sprünge um ganze Zahlen signalisieren eine grundlegende Überarbeitung und Erneuerung des Programms. Soll man vor diesem Hintergrund tatsächlich von den genannten Neuaufbrüchen als «Reformation 2.0» sprechen? Gab es zwischenzeitlich keine grösseren «Updates» oder «neue Programmversionen»? Immerhin musste das Christentum sich z.B. mit der Aufklärung auseinandersetzen, dann mit Demokratie und Menschenrechten, mit Religionskritik, mit Auschwitz, mit dem Ende des Kolonialismus, mit der Emanzipation der Frauen …?
Verdienten nicht schon die liberale Theologie, die dialektische Theologie, die Versuche einer Theologie nach dem Tod (des theistischen) Gottes, die anthropologische Wende (v.a. in der katholischen Theologie), die politische Theologie, die Befreiungstheologien, die feministischen Theologien die Würdigung als tiefgreifende Neuaufbrüche, die übrigens auch die Kirchengestalt und das Amtsverständnis transformiert haben? Ist es vermessen, als Katholik z.B. auch das Konzil von Trient und seine Folgen oder das Vatikanum II und die Folgen als «Reformationen x.0» zu lesen? Stünden wir dann heute nicht mindestens bei einer «Reformation 5.0» oder «Reformation 6.0»? Oder handelt es sich tatsächlich um die erste wirklich fundamentale Transformation seit der Reformation?
Welches „update“ müsste eine Reformation heute bringen?
Die zweite Frage betrifft die These, die Reformation 2.0 biete «passende Antworten auf die Fragen der Zeit». Ich stelle nicht in Frage, dass die von Arnd Bünker thematisierten Neuaufbrüche für jene, die sich davon in Bann ziehen lassen, existenziell passende Antworten auf ihre Realität geben, ihnen helfen, ihr Leben zu bewältigen, zu deuten und zu feiern. Gleichzeitig habe ich (als typischer «intellektuell gebildeter weisser Mann») den Eindruck, dass diese Art von Antwort nur für Menschen passend ist, deren Weltbild offen ist für Aussenbezüge, in denen sich numinose, als «göttlich» oder «jenseitig» interpretierte Wirklichkeiten vermitteln.
Für viele Menschen in unserer westlichen Kultur aber ist genau das ein zentrales Problem für ein religiöses Leben und auch für den Glauben an Gott: dass sich das Verständnis von Transzendenz radikalisiert hat. Sie erfahren ihr Selbst und die Welt als getrennt von einer jenseitigen Wirklichkeit. Charles Taylor[1] nennt das die «Ersetzung des porösen Selbst durch das abgepufferte Selbst». Für Menschen mit einem solchen Weltbild und dem daraus resultierenden Religionsverständnis ist das, was Arnd Bünker «Reformation 2.0» nennt, keine passende Antwort auf die Fragen der Zeit. Die Reformation 2.0 ist für sie kein Weg, den sie intellektuell redlich mitgehen können. Sie brauchen oder bräuchten ein anderes «Update».
Viele Reformationen fordern die Ökumene heraus.
Es ist mir klar, dass all das Arnd Bünker auch klar ist. Dennoch scheint es mir wichtig, es zu formulieren, nicht zuletzt im Hinblick auf die am Ende des Beitrags geforderte Neujustierung der Ökumene und der Bewegung, die in die Kirchen kommen soll. Sie müssen das, was Arnd Bünker «Reformation 2.0» nennt, gewiss ernst nehmen. Aber sie müssen sich gleichzeitig bewusst sein, dass es daneben auch ganz andere, «Reformations-Updates» zu berücksichtigen und umzusetzen gilt. Diese anderen Transformationsprozesse von Glaube, Theologie und Kirche werden von jenen, die darauf hoffen, dass die «Reformation 2.0» auch die alten Kirchen erfasst, kaum als Erneuerung des Glaubens, sondern eher als fragwürdige Preisgabe von dessen Grundlage und Wahrheitsanspruch verdächtigt.
Pastoral klug und intellektuell redlich mit diesem Spannungsverhältnis umzugehen, ist eine der grossen Herausforderungen für die Kirchen – und zweifellos mit ein Grund für die Schwierigkeiten im Miteinander von Gemeinden und Gemeinschaften unterschiedlicher Herkunft, das gerade die katholische Kirche in der Schweiz stark beschäftigt.[2] Es fordert nicht nur interkulturelle Kompetenz, sondern auch einen wahrhaftigen Umgang mit tiefgreifenden Unterschieden hinsichtlich der Vorstellung dessen, wie Gott, Welt und Mensch sich zueinander verhalten. Die im eigentlichen Sinn theologische und nicht primär pastoralsoziologische, kirchenorganisatorische oder kirchenpolitische Diskussion dieser Frage hat m.E. noch nicht wirklich begonnen – scheint mir aber dringend, nicht zuletzt deshalb, weil die «Reformation 2.0» genannte Entwicklung keine Antwort auf die sich beschleunigende Entkonfessionalisierung und wachsende Kirchendistanzierung ist[3].
—
Daniel Kosch, Dr. theol., ist Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz.
Bild: Aaron Burden, unsplash.com
[1] Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt 2009, 899.
[2] Vgl. Judith Albisser/ Arnd Bünker (Hg.), Kirchen in Bewegung. Christliche Migrationsgemeinden in der Schweiz, St. Gallen 2016.
[3] Vgl. dazu die jüngsten Fact sheets des SPI St. Gallen zur Kirchenstatistik, zugänglich unter: https://spi-sg.ch/.