Berg, Wüste, Großmut: Stephan Winter stöbert in der Liturgiegeschichte und entdeckt spannende Potentiale der österlichen Bußzeit.
„Das Fasten vor Ostern wird bei verschiedenen Leuten in unterschiedlichen Weisen praktiziert. In Rom fastet man in drei aufeinanderfolgenden Wochen vor Ostern, außer an den Samstagen und Sonntagen. In Illyrien und überall in Griechenland und Alexandria wird das Fasten sechs Wochen lang gehalten, wobei dafür der Ausdruck ‚das Vierzig Tage‘-Fasten‘ verwendet wird. Wieder Andere beginnen ihr Fasten von der siebten Woche vor Ostern an, und sie fasten nur 35 Tage, noch dazu in Intervallen, aber auch sie nennen diese Zeit ‚das Vierzig Tage‘-Fasten‘. Es ist tatsächlich überraschend für mich, dass man, trotz der Abweichungen in der Anzahl der Tage, in beiden Fällen dieselbe Benennung vornimmt; aber dafür geben die einen diese Begründung an, andere davon abweichende Begründungen, je nach ihren jeweiligen Phantasien.“
So beschreibt der Byzantinische Historiker Socrates im 5. Jh. seine Beobachtungen bzgl. der verschiedenen Formen vorösterlichen Fastens in kirchlichen Traditionen seiner Zeit. In der aktuellen liturgiegeschichtlichen Forschung sind solche Stellen Anstoß, überkommene Deutungsmuster zur Entstehung der österlichen Bußzeit zu dekonstruieren. Harald Buchinger spricht von vier der Sache nach differierenden Perioden, die auch in ihrer Entstehung getrennt zu betrachten seien: das zwei bis dreitägige, später bis zu einer Woche dauernde Fasten vor dem Paschafest im ältesten Kern der Osterfeier; die Ausbildung einer Hohen Woche, in der gottesdienstlich Stationen des Leidensweges nachgeahmt wurden, als Innovation des späteren 4. Jh.s; ca. ab 325 eine sechs Wochen dauernde symbolische 40-Tage-Zeit, mit der man sich asketisch auf das Fest vorbereitet hat; und schließlich innerhalb dieser Quadragesima oder unabhängig davon kürzere, mitunter auch dreiwöchige Phasen der unmittelbaren Taufvorbereitung bzw. der Intensivzeit kanonischer Buße (vgl. Buchinger 2018, bes. 173).
„Das Fasten vor Ostern wird bei verschiedenen Leuten in unterschiedlichen Weisen praktiziert.“ Socrates 5.Jh.
Der Aschermittwoch (lateinisch „Feria quarta/Dies cinerum – (vierter) Tag der Asche“, auch Asche(r)tag) ist übrigens ein späteres Produkt gallischer Praxis: Zu Beginn der Fastenzeit hatte man (ursprünglich am Montag der ersten Fastenwoche) öffentliche Büßer – analog zum Umgang Gottes mit Adam und Eva (vgl. Gen 3,23f) – des Kirchenraums verwiesen. Sie wurden dabei mit Asche bestreut und hatten bis zum Gründonnerstag, an dem sie wieder zur Kommunion zugelassen wurden, ein Bußgewand anzulegen. Verbunden mit dem mittlerweile als erstem Tag der Quadragesima gesetzten Mittwoch wurde dies für die ganze Westkirche unter Gregor dem Großen im 6. Jh. übliche Praxis, wobei letztlich ab Ende des 10. Jh.s v. a. die Aschenbestreuung aller Gläubigen übrigblieb (vgl. als biblische Bezugsstellen u. a. Jona 3,6; Dan 9,3).
Es braucht Form, aber Form gab’s und gibt’s nur im Plural
An dieser geschichtlichen Entwicklung scheint hie und da eine Grundhaltung auf, die sich vielleicht so umschreiben lässt: Buße und Umkehr brauchen auch eine rituell-gottesdienstliche Form ihrer Realisierung; aber diese Form gab’s und gibt’s nur in einem Plural von Gestaltungen bzw. Deutungen. Was das Ganze (idealiter) zusammenhält, ist die immer wieder neue und unabschließbare Bezugnahme auf das gesamtbiblische Zeugnis. Am Beispiel, das Socrates aufruft: Mag ein Fasten numerisch genau vierzig Tage oder auch ein paar mehr oder weniger umfassen – es handelt sich um „das Vierzig Tage-Fasten“! Und es braucht eben Phantasie, um das jeweils richtig zu verstehen. In diesem konkreten Fall wird für die Begründung der vierzigtägigen Dauer des Fastens in den Quellen v.a. auf das Vorbild Jesu zurückgegriffen (vgl. Mt 4,2 par.), besonders aber (z. B. bei Eusebios von Caesarea, „Über das Paschafest“, 4 – PG 24, 697 C) auch auf das Beispiel des Moses, der vierzig Tage und vierzig Nächte auf dem Berg bei Gott verbrachte: „Er aß kein Brot und trank kein Wasser. Er schrieb auf die Tafeln die Worte des Bundes, die zehn Worte“ (Ex 34,28; vgl. u.a. Dtn 9,9.11.18.25; 10,10). Ebenso wird auf Elija angespielt, der – von Gottes Engel gespeist – „vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Gottesberg Horeb“ wanderte (1 Kön 19,8). Mit diesen drei paradigmatischen Erzählungen ist eine Spur dahin gelegt, worum es bei diesem speziellen Fasten geht: um die radikale Erneuerung der Gottes-, Menschen- und Schöpfungsbeziehungen.
Radikale Erneuerung der Gottes-, Menschen- und Schöpfungsbeziehungen
Was Mose, Elija und Jesus auf nochmals je eigene Weise lernen, ist, dass von Gott und genauso wenig von Menschen und Mitgeschöpfen zu klein bzw. nur in den so begrenzten eigenen Perspektiven gedacht werden darf. Mose muss in die Wolke hineingehen (vgl. Ex 24,18), sich auf den geheimnisvoll da seienden wie entzogenen Gott einlassen, und genau daraus schickt sich ihm die neue Lebensordnung für das Volk Israel zu; Elija begegnet Gott nicht im Sturm, nicht im Erdbeben und nicht im Feuer, sondern überraschend im „verschwebenden Schweigen“ (1 Kön 19,12; Ü Buber/Rosenzweig), und genau daraus kann er in die – außen wie innen- bzw. religionspolitisch – komplizierten Verhältnisse zurückkehren, in denen sich das Volk Israel befindet, um mutig Gottes Weisung hineinzurufen; Jesus wird nach den drei synoptischen Evangelien am Anfang der Berichte über die Verkündigung des Gottesreiches in die Wüste „geworfen“ (Mk 1,12) und dort mit einem anderen Geist als dem konfrontiert, mit dem er in der Taufe am Jordan getränkt worden ist. Dieser zweite Geist stellt ihn auf die Probe (vgl. Mt 4,1b).
Klaus Mertes hält in seiner Auslegung fest, dass Jesus damit in die „Messiasposition“ gestellt und „Repräsentant Israels“ wird, der dessen Erfahrungen während der vierzig Jahre Wüstenwanderung zwischen Ägypten und dem Einzug in Kanaan (vgl. u.a. Ex 16,35; Num 14,33f; Dtn 2,7; Jos 5,6; Apg 7,36.42; 13,18) „am eigenen Leib erlebt und in ihnen ‚gerecht‘ bleibt. Das Leben Jesu wird also das Leben eines Repräsentanten Israels sein, der – wie einst sein Volk – durch die diversen Proben seines Verhältnisses zu Gott geschickt wird. Das Bestehen der Versuchungen wird ihn immer mehr kosten: seine Breitenwirkung beim Volk, das Verständnis und die Begeisterung bei den Jüngern, das Leben.“ (Mertes 1989, 115)
Die Phantasie darf aktiviert werden!
Individual- wie gruppenbiographisch sind die Anlässe, sich (auch) liturgisch auf den Berg bzw. die Wüste einzulassen, vielfältig und letztlich unvergleichbar. Die Phantasie darf aktiviert werden, um dabei jeweils neu danach zu suchen, wie sich Gottes-, Menschen- und Schöpfungsbeziehungen lebensförderlich erneuern lassen. Die entsprechende Grundhaltung drückt sehr schön die neue Übersetzung eines Verses aus, der sich im Antwortpsalm findet, wie er für die Eucharistiefeier am Aschermittwoch vorgesehen ist: „Gib mir wieder die Freude deines Heils, rüste mich aus mit dem Geist der Großmut!“ (Ps 51 (50),14)
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Text: Stephan Winter ist Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-theologischen Fakultät Tübingen.
Bild: klimkin auf Pixabay
Literatur:
Buchinger, Harald, Liturgiegeschichte im Umbruch – Fallbeispiele aus der Alten Kirche, in: Gerhards, Albert/Kranemann, Benedikt (Hg.), Dynamik und Diversität des Gottesdienstes. Liturgiegeschichte in neuem Licht (QD 289), Freiburg – Basel – Wien 2018, 152-184.
Mertes, Klaus, Jüngerprofile: Die Gefährten Jesu und ihr Weg zum Glauben, Frankfurt a. M. 1989.