Der spirituellen Herausforderung des Alterns geht Peter Abel mit einem Rückgriff auf benediktinische Traditionen nach. Er stellt sich dabei der eigenen Suche, wie Altern überzeugend gelingen könnte.
Ich bin Babyboomer. Zu den Lebensthemen meiner Generation gehört, dass wir an der Schwelle des Alters stehen: nach einem oft erkämpften Aufstieg und friedvollen Schaffensplateau sind wir im offenen Übergang. Unterm Strich hatten es die meisten von uns gut: Wirtschaftswunder, Wachstum und Bildung für alle ermöglichten uns ein gesichertes Leben. Wir konnten Kinder der Zuversicht sein. In der Rush-Hour des Lebens fanden wir uns oft als Leistungsträger*innen wieder. Die Rente steht nun an. Wir könnten jetzt unsere Weinkeller leer trinken, noch ein paar Fernreisen tätigen und es dabei bewenden lassen. Doch so einfach sind die Umstände nicht. Die Sorglosigkeit ist vorbei, zu viele Krisen prägen die letzten Jahre. Lang erlebte Sicherheit zerbröselt in Ungewissheit, ja Angst. Zeitenwende und persönliche Wendezeit greifen tief in den Alltag ein. Es geht mir wie vielen Frauen und Männern meines Alters: Sorgen treiben mich um. Werden meine Kinder und Enkel noch eine gute Zukunft erleben? Wie kann ich mit ihnen zusammen Verantwortung für diese Zukunft übernehmen?
Open Mind – sinnerfüllt ins Alter gehen
Es ist Zeit zur Inventur, bevor es an die letzte große Etappe geht. Denn während wir uns noch voll im Saft fühlen, warten die Aufgaben des Alterns auf uns. Zu einem sinnerfüllten Alter gehört es, dass wir uns ansprechen lassen durch den gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontext und im Widerhall in diesen Lebensbereichen handeln. Gelingende Bewältigung gelingt nur – so der Alternsforscher Andreas Kruse[i] – in einer Haltung des offenen Bewusstseins. Ich sehe Maria, die Projektmanagerin war und nun eine Suppenküche organisiert. Johannes spricht als Spätaussiedler Russisch und dolmetscht bei Behördengängen. Alma ist begeisterte Leseoma in der Kindertagesstätte. Rainer setzt sich im Klimaschutz ein und macht dabei völlig neue Erfahrungen. Alle diese Menschen sind über sechzig Jahre und machen mir Mut, dass ich meinen Blick weite. Was werde ich in Zukunft tun, das über mich hinausweist?
Wo ich versagt habe,
kann ich es nicht mehr korrigieren.
Hinzu gesellt sich die zweite Auseinandersetzung, die mit meiner eigenen Biografie: der Horizont meiner Endlichkeit stellt sich immer deutlicher ein. Die Lebenszeit ist begrenzt. Wir sprechen über chronische Erkrankungen. Der Eintritt in die Rente wird als ein Verlust von Ansehen, Privilegien und Erfolgen erlebt. Was kann ich lassen?
Um mit meinen eigenen geistigen und seelischen Quellen in Verbindung zu bleiben, gehört beides dazu: dass ich in der Annahme der Realität mein Leben gestalte und in die innere Auseinandersetzung mit meinem Leben gehe, mit meinen Erlebnissen und Erfahrungen. Entscheidungen kann ich nicht mehr rückgängig machen. Wo ich versagt habe, kann ich dies nicht mehr korrigieren. Mir kommen Beziehungen in den Sinn, die ich gewonnen, und andere, die ich verloren habe.
Einsetzen – für das Miteinander der Generationen
Ich spüre meinen Hoffnungen und Schicksalsschlägen nach, dem Gelingen und der Schuld und erlebe mich als alternder Mensch, der getragen und verletzlich zugleich ist. Kann ich mich wirklich so anschauen, wie ich geworden bin? Dann werden Lebensfreude, Sinn und Glück zu Tage treten können, oft abseits ausgetretener Pfade überkommener Weltsicht. Wo bin ich in meinem Inneren zu Hause?
„Alte sollten Entdecker sein“, sagt der Dichter Thomas Stearns Eliot, Menschen, die ihr Leben von innen heraus bejahen, Neues wagen und sich zur Mitverantwortung entscheiden. Was trägt mich? Wo setze ich mich für eine bessere Zukunft ein – für die Rechte Nichtprivilegierter, für Nachhaltigkeit und Frieden, für das Miteinander der Generationen, spirituell gegründet und engagiert in meiner Lebenswelt?
Auf der Suche nach einem guten Altern
Er war fünfzig und mit seiner Erfahrung und Menschenkenntnis konnte man zu seiner Zeit als Senior, als vertrauensvoller Begleiter und Respektsperson gelten: Benedikt von Nursia. Man nannte ihn einen ´Hüter der heiligen Gefäße´ und die heiligen Gefäße, das waren die Menschen, für die er Verantwortung auf sich genommen hatte. Er liebte das Leben als Tor zu Gott. „Wer ist der Mensch, der das Leben liebt und gute Tage zu sehen wünscht? Wenn Du das hörst und antwortest: ´Ich´, dann spricht Gott zu Dir.“[ii], schreibt er in seiner Regel.
Sein Leben war reich. Als junger Mann war er ausgezogen und hatte sich von alten Traditionen verabschiedet. Er suchte den Weg zu sich selbst und fand sich in der Sehnsucht nach Gott. Er wich der Konfrontation nicht aus – sich selbst und den Umständen gegenüber bewährte er sich. Er sollte Gründer einer Gemeinschaft werden – doch die Atmosphäre war vergiftet. Er zog sich zurück: „Vergiss nicht, bei Dir zu wohnen.“ Das war ihm Richtschnur.
Er startete sein Projekt – eine Regel und eine Gemeinschaft unter dem Evangelium sollten es sein. „Einander“ war sein Schlüsselwort. Es gelang. Das weckte Neid. Wiederum gönnten ihm die Frommen nicht den Erfolg. Er entschied sich nochmals für seinen Weg. Schauen wir, was Gregor der Große in seiner spirituellen Lebensbeschreibung über ihn, der an der Schwelle des Alters steht, sagt:
Der Mann Gottes Benedikt besaß den Geist des Einen, den Geist dessen,
der die Gnade der Erlösung schenkt und die Herzen aller Berufenen erfüllt…
Der heilige Mann zog fort. Der Ort änderte sich, nicht aber der Feind.
Denn von jetzt an hatte er umso härtere Kämpfe zu bestehen. …
Ein befestigter Ort mit Namen Casinum liegt am Abhang eines hohen Berges. …
Mit seinem Gipfel ragt er gleichsam in den Himmel.
An diesen Ort kam nun der Mann Gottes.“[iii]
Dort wohnte er zurückgezogen, dort rang er mit sich. Dort baute er mit seinen Brüdern ein Kloster. Er gründete seinen Orden, eines der erfolgreichsten Projekte der Kirchengeschichte.
Kontemplation und Transition in Solidarität
Ich finde hier Wegerfahrungen ins dritte Alter, auch für heute. Benedikt geht auf den Berg, den Ort der Gottesbegegnung. Dort hat er seinen Schutzraum. Er wendet den Blick nach innen. Er weiß um seine Fehler und kämpft gegen die innere Stimme, die ihn als ´Maledictus´, als Versager lächerlich macht. Seine Erfahrung hilft ihm, in den Widerstand gegen den Lebenszweifel zu gehen. Das Alter führt ihn in eine kontemplative Lebensweise und zu gelassenem Tun.
In dieser Haltung macht er sich an sein letztes Lebensprojekt, die Klostergründung auf dem Berg. Er beseitigt innere und äußere Nöte: Aufruhr, falsche Begehrlichkeit und Neid. Wo Not – zum Beispiel Hunger – ist, wird er solidarisch mit den Anderen und schafft Abhilfe. Unerwartete Ressourcen tun sich auf. Er ist der lebenserfahrene Begleiter seiner Gemeinschaft. Er baut seine Klostergemeinschaft auf und nimmt gleichzeitig deren Hilfe an – im Sterben stützen ihn zwei Brüder.
Solidarisches Projekt –
eine Inspiration für die dritte Lebensphase.
Carmen Tatschmurat, ehemalige Leiterin der benediktinischen Gemeinschaft Venio in München, hat sich diese Haltung zu eigen gemacht. Sie zieht sich zurück und schreibt ein Jahr später eine kleine Ermutigung:
„Ich bin in den vergangenen Monaten keine ganz andere Person geworden. Noch immer kämpfe ich mit den alten Mustern. Dennoch hat sich vieles getan. Freundschaften haben sich neu gefestigt. Vermeintlich Wichtiges ist in die zweite Reihe gerückt oder ist ganz hinter dem Horizont verschwunden. In der Wohnung, die mir im vergangenen Jahr so lieb geworden war, leben derzeit drei Kinder mit ihrer Mutter und Großmutter aus der Ukraine. Ein neues Kapitel wird aufgeschlagen, für sie wie für uns. (…) Ich werde mit Freude und Heiterkeit im Herzen weitergehen – auf den stillen Wegen in der Natur und den lauten Straßen der Stadt.“[iv]
Kontemplation und Transition ins solidarische Projekt: Ist das nicht eine Inspiration für den Übergang in die dritte Lebensphase?
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Peter Abel, Dr. theol., ist Seelsorger und Diakon, Kursleiter in der Abtei Münsterschwarzach.
Letzte Buchveröffentlichung: Zuflucht und Stärke. Mit der Bibel neue Kraftquellen entdecken, Stuttgart 2019.
Foto: Wolfgang Beck
[i] Andreas Kruse: Leben in wachsenden Ringen. Sinnerfülltes Alter, Stuttgart 2023.
[ii] Die Benediktsregel, Beuron 1992, Prolog 15.16.
[iii] Gregor der Große. Der hl. Benedikt. Buch II der Dialoge lateinisch/deutsch, St. Ottilien 1995, Kap. 8.
[iv] Tatschmurat, Carmen: Mein Leben neu ordnen. Benediktinische Impulse für Zeiten des Umbruchs, Münsterschwarzach 2022.